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Jo
D urch vollkommene Stille – der endlose Schnee dämpft alles – wandere ich zum Bahnhof von Thornton Heath, vorbei an Reihenhäusern mit zugezogenen Gardinen und vereisten kleinen Vorgärten, vorbei an einem Eckladen, der trotz der frühen Stunde gerade zumacht, vorbei an verwaisten Spielplätzen, auf denen die bobonfarbenen Holzkaninchen, -schafe und -hühner reglos auf ihren Sprungfedern thronen, alle mit dem gleichen Irokesen aus festgefrorenem Schnee.
Ich weiß noch, wie ich hier gespielt habe, auf genau diesem Platz. Alle Straßen hier, für jeden anderen langweilig und anonym, habe ich genau in Erinnerung. Meine Grundschule war um die Ecke. Ich sehe es noch vor mir, es war Sommer, es war warm, Daddy war früher von der Arbeit gekommen und wartete auf dem kleinen Schulhof. Das waren gute Tage, denn wenn er dort stand, hieß das, dass er nicht zum Arzt musste oder komisch war. Dann beugte die Lehrerin sich an der Schultür zu mir herunter und sagte: Siehst du? Dein Papa ist da. Ab mit dir.
Und ich lief lachend in seine Arme. Er war groß. Er hob mich auf seine Schultern. Das tat er oft, mich hochheben – um mich zum Lachen zu bringen, oder wenn wir auf einem überfüllten Weihnachtsmarkt waren.
Beim ersten Weihnachtsfest ohne ihn habe ich mich fast den ganzen Tag in meinem Zimmer versteckt. Habe mir Fotos aus den Sommerferien angesehen, ihn ins Leben zurückgewünscht, mich Tagträumen hingegeben, in denen er vorkam, ihn gemalt, um ihn wenigstens einen Tag, eine Stunde lang real sein zu lassen, und irgendwann habe ich aufgegeben und geschrieben: Papa, du fehlst mir. Ich schreibe dir eine Karte, falls du doch zurückkommst … , und dann klopfte meine Mutter leise an die Tür und kam rein, sah, dass ich meinem toten Vater eine Karte schrieb, schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab, denn in ihren Augen standen Tränen.
Ich atme tief, lasse die kalte Luft durch meine Kehle strömen, um mich zu beruhigen. Wer macht Schlimmeres durch: ein elfjähriges Kind, das seinen Vater an den Suizid verliert, oder ein Vater, der seinen zwanzigjährigen Sohn an Drogen verliert?
Noch einmal biege ich ab, dann kommt der Bahnhof in Sicht und mit ihm eine kleine Ansammlung schäbiger Geschäfte und schmuddeliger Imbissbuden, die geöffnet haben, obwohl die Straßen wie ausgestorben sind: unwirkliche Zufluchtsorte, hell erleuchtet und warm, umgeben von eisiger Kälte. Als ich in meiner Tasche nach Münzen für das Bahnticket taste, fallen mir die Scheine in der anderen Tasche ein. Meine liebe Mutter. Fünfhundert Pfund, das kann sie sich vermutlich gar nicht leisten. Ich werde ihr das Geld so schnell wie möglich zurückgeben, am besten gleich morgen. Um das zu können, brauche ich Arbeit. Viel Arbeit.
Ich fische mein geheimes Handy aus der Hosentasche. Es ist später Nachmittag, eine gute Zeit, um meine Redakteurin anzurufen. Ich stelle mich im Eingangsbereich des Bahnhofs unter, spähe hinaus in die frostige Dunkelheit und tippe die Nummer ein.
»Sarah Thwaites.«
»Hallo, Sarah, ich bin’s, Jo.«
Langes, langes Schweigen. So lange, dass weitere fünf Millimeter Schnee aufs Dach des schwarzen Taxis fallen können, das vor dem Bahnhof bereitsteht. Der Fahrer hat den Kopf ans überfrorene Fenster gelehnt und döst vor sich hin.
»Sarah? Hallo? Hier ist Jo, Jo Ferguson. Äh, ist alles in Ordnung?«
»Jo …«
Sie klingt zurückhaltend. Angespannt. Aber vielleicht ist einfach zu viel los im Büro; wenn sie Stress hat und sich gehetzt fühlt, kann Sarah sehr abweisend sein. Diese Redakteure haben alle zu viel Arbeit auf dem Tisch; sie müssen täglich Hunderte Mails beantworten, und die Deadlines zischen vorbei wie Hochgeschwindigkeitszüge.
»Ich wollte ein paar Themen vorschlagen, wenn das möglich ist, es geht ganz schnell.«
»Stopp, Jo.«
Das kommt so abrupt, so knapp, dass es mich verstummen lässt. Sie klingt wütend. Irgendwie seltsam.
»Was ist los, Sarah?«
Wieder Schweigen. Kurz diesmal.
»Weißt du das wirklich nicht?«
»Was denn?«
Irgendwas kommt jetzt, ich spüre es. Die Dunkelheit rückt mir auf den Pelz, sie ist überall.
»Hast du einen Twitter-Account, Jo?«
»Äh … nein«, nuschele ich. »Ich meine, ja, ich bin auf Twitter, aber ich nutze es nicht, ich mache da nie etwas. Ich nutze Social Media so gut wie gar nicht; du bist diejenige, die mich immer drängt, mehr zu machen. Auf Instagram poste ich hin und wieder was, auf Facebook schaue ich nur alle paar Wochen mal, und das war’s. Warum?«
Ein kurzer Seufzer.
»Ich glaube dir ja, Jo, ich glaube dir, aber …«
»Aber was?«
Ich starre auf den Taxifahrer. Er ist tatsächlich eingeschlafen. Sein Geschäft ist von Uber übernommen worden.
»Hör zu, Jo, seit ein paar Stunden twittert jemand, der sich als du ausgibt, jede Menge Zeug.«
»Was? Was für Zeug?«
Sarah senkt die Stimme, als wollte sie vermeiden, dass jemand mitbekommt, dass sie mit Jo Ferguson spricht. Mit mir.
»Es ist ein neuer Account, er heißt @JotheJournalist. Da sagst du ausdrücklich, dass du für uns arbeitest. Und es gibt ein aktuelles Foto, das sehr nach dir aussieht. Nein, es sieht nicht nach dir aus, du bist es.«
»Nein, das bin ich nicht! Ich habe den ganzen Nachmittag bei meiner Mutter gesessen. Ich nutze Twitter nicht! Nie!«
Sarah atmet geräuschvoll aus.
»Sieh’s dir einfach an, Jo, check diesen Twitter-Account. Dann weißt du, wovon ich rede. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ob du das nun bist oder nicht – es ist zu spät. Für diese Zeitung wirst du nicht mehr arbeiten. Die Chefredaktion hat uns alle schon per Mail instruiert. Genau genommen glaube ich, dass du überhaupt nie wieder als Journalistin arbeiten wirst. Jedenfalls in den nächsten Jahren nicht. Es tut mir leid.« Sie verstummt; vielleicht schaut sie sich um; sicher soll niemand mitbekommen, wie sie mit dem Feind spricht. »Ehrlich, Jo, es tut mir wirklich leid, ich glaube dir, aber du bist gehackt worden, und zwar höchst raffiniert. So sieht es aus. Ich muss Schluss machen. Es tut mir leid, aber … bitte ruf nicht noch mal an. Ich kann nichts für dich tun. Entschuldige.«