42
Jo
E
in Kreischen, von einem Tier, einem Menschen, einer Maschine, entsetzlich, dann HilfeHilfeHilfe, WarumJoWarum
, dann wieder Schreie, und ich sehe Jamie Trewin im Krankenhaus und das Weiße seiner Augen, seiner toten Augen, sein weinender Vater wird mein Daddy, wie er weinend im Auto sitzt und nach Luft schnappt.
U
nd dann wieder diese furchtbaren Laute, ich kenne sie, eine schreiende Frau, eindeutig eine Frau, die vor Schmerz jammert oder brüllt, aber es erinnert auch an das Wimmern eines Tieres vor der Schlachtbank. Schlachthausgebrüll, eine Kuh, die ahnt, was gleich mit ihr …
Und ich wache auf, und mein Herz klopft dermaßen, dass es wehtut. Als hätte ich etwas in mir, das da nicht sein soll, als hätte man mir etwas Böses in den Leib gepflanzt – und ins Herz. Schwanger mit Krebsgeschwüren. Krebsgeschwüren, die sich bewegen. Wie Tiere in meinem Innern.
Durch die Vorhänge dringt blasses Winterlicht herein. Mein Mund ist ausgetrocknet, die Lippen sind spröde und in den Mundwinkeln eingerissen. Der Traum war der letzte von vielen. Ich habe geträumt, dass ich aufgewacht bin und an ein Bett gefesselt war und träumte; ich habe geträumt, dass in einem grobkörnigen, rauschenden Schwarz-Weiß-Film Leute meinen Namen gesungen haben; ich habe geträumt,
dass drei Frauen, denen der Mund zugenäht war, um mein Bett standen und auf mich herunterblickten. Aber irgendwie hatten sie Köpfe ohne Augen, und ihre Münder waren sorgfältig vernäht. Wo das herkommt, weiß ich. Aus dem Plath-Gedicht. Die beunruhigenden Musen
. Über Mutter und Vater.
Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und angele mir die Wasserflasche für meinen pelzigen Mund, und dann rutsche ich zurück in die schreckliche Realität; es ist wie der Sturz von einem sinkenden Schiff in ein kaltes, beängstigend dunkles Meer.
O Gott. Twitter. Gestern Abend. Die Erinnerung flutet mich, schlägt über mir zusammen, lässt mich würgen. Das Ende meines Lebens, der Social-Media-Suizid. Meine Selbstopferung im Livestream. Ich bin nach Hause gerannt – buchstäblich gerannt, vom U-Bahnhof bis hierher, in der absurden Angst, dass irgendwer mich Nazi sehen und einen Ziegelstein nach mir werfen könnte. Und ich bin früh ins Bett gegangen, habe Schlaftabletten genommen und mich im schönen Gefängnis Schlaf versteckt.
Aber dann kamen die Träume, so viele schlechte Träume, Angstträume. Bis hin zu dem mit dem Kreischen, der schreienden Frau, dann HilfeHilfeHilfe, WarumJoWarum
, und das klang so real.
Absolut real.
Ich setze mich auf und schaue mich um. Graues Januarlicht fällt herein. Es enthüllt nichts Ungewöhnliches, keinen Ziegelstein, der zum Fenster hereingeflogen wäre, keine Glassplitter auf dem Boden. Vielleicht ist es zu früh, vielleicht sind die Antifaschisten noch nicht auf?
Mir wird klar, dass ich gar nicht weiß, wie spät es ist; der Wecker ist heruntergefallen, wahrscheinlich habe ich mich im Traum so wild im schweißfeuchten Bett herumgewälzt. Ich bücke mich danach, und bei der Gelegenheit merke ich, dass ich unbedingt duschen muss.
Elf Uhr?
Schlafen gegangen bin ich um zehn. Glaube ich. Nach einem Glas Wein und den Tabletten. Also habe ich dreizehn Stunden geschlafen. Und ich bin immer noch müde.
Mit Mühe raffe ich mich auf, dusche endlos, zwinge mich schließlich, das Wasser abzudrehen, und schlüpfe in den nächstbesten Wollpulli und Jeans – ich werde heute nicht vor die Tür gehen. Ich werde nie wieder rausgehen können; Kinder werden mich anstarren und mit dem Finger auf mich zeigen; alte Freunde werden wegschauen, sobald sie mich sehen, ich bin eine Unperson. Ich habe mich selbst unmöglich gemacht. Besser gesagt, ich bin unmöglich gemacht worden, online getötet. Ich bin The Walking Dead
.
Pflichtschuldig trinke ich einen Kaffee, esse einen Toast und gehe ins Wohnzimmer. Es sieht alles so nett aus, so unschuldig. Das Mailänder Designersofa weiß nicht, was ich auf Twitter geschrieben habe, die Tom-Dixon-Lampe ahnt nichts von meinen scheinheiligen Tiraden. Auf dem Tisch wartet, zugeklappt, mein Laptop, daneben liegt mein Telefon, das ausgeschaltet ist. Ich bringe es nicht über mich, auch nur eines von beiden einzuschalten. Die schlimmen Mails, die Entrüstung auf Facebook, die Online-Leitartikel, die mich auf Lebenszeit verdammen – sie werden alle aufpoppen. Das kann ich nicht. Heute nicht. Heute sitze ich einfach da, als wäre ich eine von den augenlosen Frauen mit zugenähtem Mund.
»Wenn du dich nicht umbringst, schicke ich jemanden, der es tut.«
Ich drehe mich um und starre Electra an. Ihr blaues Licht kreiselt und erlischt.
»Electra, was hast du gesagt?«
»Wenn du dich nicht umbringst, schicke ich jemanden, der es tut.«
Mir fällt keine Erwiderung ein. Ich bin zu müde, um überhaupt etwas zu sagen. Zu müde, um herauszufinden, ob ich vielleicht noch träume.
Es klingelt.
Ich träume nicht. Das war die Türklingel.
Wer ist da? Wer steht vor meiner Tür? Jemand, der die durchgeknallte Rassistin zusammenschlagen will. Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Lynchmob. Oder einfach der Durchschnittsbürger in gerechtem Zorn. Und was ist mit meiner Mutter? Was wird sie denken? Ich mag es mir überhaupt nicht vorstellen. Alles wird mit einem Riesenkrach zu Ende gehen. Bald.
Es klingelt erneut.
Wer es auch ist, da an der Tür, er gibt nicht auf. Ich schaue zur Assistentin hinüber. Heute wirkt sie nicht so selbstgefällig. Eher reglos, traurig, einfach schwarz. Müde beinahe. Sie hat nichts mehr zu tun. Ihre Arbeit ist erledigt, die letzte Drohung ausgesprochen. Ihre Aufgabe ist so gut wie erfüllt. Meine nicht. Irgendwo in mir existiert noch ein Fünkchen Widerstand. Der Wille, zu überleben, befeuert von Wut. Ich werde kämpfend untergehen.
»Electra, erwarten wir heute eine Lieferung?«
»Für heute ist keine Lieferung angekündigt. Morgen kommen über Amazon Prime zwölf Flaschen Highland-Spring-Mineralwasser.«
Wieder klingelt es, lange diesmal.
Ein durchdringender Ton. Nervös gehe ich zum Fenster und schaue hinunter.
Vor dem Haus steht ein Polizeiauto. Und vor der Klingel drängen sich drei Uniformierte, zwei Frauen, ein Mann. Was ist passiert? Und sofort weiß ich, was passiert ist. Hassverbrechen. Twitter-Tiraden. Sie sind gekommen, um mich zu verhaften.
Ich nehme meinen letzten Mut zusammen, gehe zur Gegensprechanlage und komme ihnen zuvor, indem ich sage: »Warten Sie, ich bin gleich unten.«
Ein wenig fühle ich mich wie eine verurteilte royale Braut, die vom Tower hinabsteigt zu ihrer Richtstätte auf dem winterlichen Rasen, wo im kalten grauen Licht die Raben krächzen.
Ich öffne die Tür. Die Polizisten starren mich an. Zwei Frauen, ein Mann.
Die Blondeste und Jüngste, nicht älter als Anfang zwanzig, fragt leise: »Ms Jo Ferguson?«
»Ja, das bin ich, und ja, ich war es. Auf Twitter. Ich war es und auch wieder nicht; ich bin gehackt worden.«
»Warten Sie …«
»Ich bin gehackt worden, das können Sie mir glauben oder nicht. Mir ist klar, dass es aussieht, als käme es von mir, wenn Sie mich also mitnehmen und anklagen wollen, alles untersuchen – nur zu.«
Die junge Blonde schüttelt den Kopf und schaut irritiert zu ihren Kollegen. Der Mann zuckt die Achseln. Sein Funkgerät zischelt, und er geht ein paar Schritte beiseite. Die junge Polizistin kommt näher und lächelt mich traurig an.
»Ich weiß nicht, was Sie glauben, was passiert ist, Ms Ferguson, aber es hat nichts mit Twitter oder Ähnlichem zu tun …«
Jetzt verstehe ich. Trewin. Jamie Trewin
. Endlich haben sie es herausgefunden. Das, was ich tatsächlich getan habe. Am Ende kriegen sie Tabitha und mich doch, sie haben die Wahrheit aufgedeckt, über Tabs und Xander Scudamore und mich vor fünfzehn Jahren: Endlich kommt es heraus. Ich empfinde schnell eine gewisse Erleichterung.
»Okay, Sie meinen Glastonbury«, sage ich und versuche, mir die Panik nicht anmerken zu lassen. »Okay, okay, alles klar, ja …«
Die Polizistin legt mir die Hand auf die Schulter, um mich zu beruhigen. Dann sagt sie, sehr langsam: »Ms Ferguson, ich weiß nicht, was Sie da reden wegen Twitter und Glastonbury und so weiter. Ich fürchte, wir sind aus einem ganz anderen und sehr bedauerlichen Grund hier.«
Schweigen. Mehr als Schweigen. Es ist, als seien die letzten älteren Leute, die noch im Regent’s Park unterwegs waren, erfroren und mitten in der Bewegung erstarrt. Irgendetwas Schreckliches ist
passiert.
»Ms Ferguson«, sagt die Frau, »es geht um Ihre Mutter. Janet Ferguson.«
»Meine Mutter? Was ist mit meiner Mutter?«
Wieder wechseln die drei Blicke, und dann nickt der männliche Beamte kurz, als wolle er sagen: Ja, mach weiter.
»Ihre Mutter«, sagt die Blonde, »ist heute Morgen einem Herzinfarkt erlegen. Man hat versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Telefon war aus.« Ihr trauriges Lächeln wirkt echt. »Es tut mir sehr, sehr leid.«
Die Welt um mich herum verschwimmt zu einem einzigen Schrecken. Mechanisch bringe ich hervor: »Wer hat sie gefunden, was ist passiert?«
Die junge Polizistin wirkt betreten. »Anscheinend eine Nachbarin.«
»Aber wie?« Mein Herz klopft wild vor Verzweiflung. »Wie? Wer? Wie haben Sie sie gefunden? Sagen Sie’s mir!«
Sie senkt den Blick, ihre Kollegen schauen weg, als müssten sie den Verkehr im Auge behalten. Ich hake nach, genau genommen schreie ich.
»Sagen Sie’s mir! Bitte! Ich muss es wissen. Wie? Warum? Wann? Bitte!«
Schließlich hebt die junge Frau den Kopf und sieht mich an.
»Nun, offenbar hat Ihre Mutter um Hilfe gerufen. Sie hat Ihren Namen gerufen. Irgendwie … aber …«
»PC
Duffield!«
Das war der Mann. Sie hat eindeutig gegen irgendeine Regel verstoßen. Jetzt wendet sie sich ab und murmelt eine Entschuldigung.
»Es tut mir sehr leid, Ms Ferguson. Wenn Sie genauere Informationen wünschen, bekommen Sie sie. Offiziell. Hier, diese Nummer können Sie anrufen.«
Er drückt mir eine Karte in die Hand. Ich zittere am ganzen Leib.
Der Wind, der die Delancey herauffegt, ist eisig. Schließlich danke ich den Polizisten, und sie lächeln höflich und bekunden noch einmal ihr Beileid, und dann steigen sie in ihr Auto und fahren davon, verschwinden im Winterdunst. Einen Augenblick schaue ich ihnen noch hinterher, dann wende ich mich ab und schleppe mich die Treppe hoch und in die Wohnung.
So ist nun meine ständige Angst – wer wird kommen und mir was antun? – durch eine abgrundtiefe Traurigkeit verwischt, ja für den Moment sogar ausradiert. Kaum zu überhaupt etwas imstande, gehe ich in die Küche und mache mir einen Becher Tee. Denke an meine Mutter, wie sie während meiner Kindheit war. Wie sie die Kirschtomaten in zwei Hälften schnitt, bevor sie sie mir gab, damit ich mich nicht verschlucke. Wie sie mir das Radfahren beibrachte und wie wir zusammen gelacht haben, als ich dabei in ihre Arme kippte. Sommertage, bevor alles düster wurde, Tage, an denen wir alle zusammen Tennis gespielt haben, Daddy und Will und Mummy und ich. Sie hatte selbst gemachte Chicken-Sandwiches mit und eine Thermosflasche mit kaltem Orangensaft, ich weiß noch genau, wie süß er war und wie die Sonne mir auf den Hals brannte, als ich gierig davon trank. Es war der Geschmack der Liebe. So hat die Liebe meiner Mutter geschmeckt. Süß und sonnenwarm.
Musik ertönt. Mozart. Die 40. Sinfonie. Electra spielt sie ab. Woher weiß Electra, dass das das Lieblingsstück meiner Mutter war? Der berühmte Anfang, die nervösen und zugleich wundervollen Streicher. Sie hat sie gern beim Bügeln gehört, und das Wohnzimmer war erfüllt vom Duft frischer Wäsche und Sprühstärke.
Ach, Mama.
Als ich ins Wohnzimmer gehe, kann ich die Tränen noch zurückhalten. Ich sage Electra nicht, dass sie aufhören soll. Stattdessen stehe ich, die Augen halb geschlossen, im blassen Wintersonnenlicht und lausche der süß dahinfließenden Musik. Bis sie
abbricht.
Jetzt kreischt Electra los, und dann wird aus dem Kreischen deutlicher eine Stimme erkennbar: die einer alten Frau, die in wilder Panik schreit. HilfeHilfeHilfe! Warum, Jo, warum?
Es sind der Hilferuf und das Schreien im Todeskampf, von denen ich vorhin dachte, ich hätte sie im Traum gehört. Und jetzt, da ich genau hinhöre, begreife ich mit Entsetzen, dass das kein Traum war. Ich habe mir das nicht eingebildet! Es war und ist echt! Das ist ohne Frage eine Aufnahme von meiner Mutter, ich erkenne die Stimme. Es ist der letzte Schrei, den sie vor ihrem Tod ausgestoßen hat.
Der Home-Assistant in ihrer Küche muss ihn mitgeschnitten und in meine Wohnung übertragen haben, sodass ich ihn gehört habe, während ich aus dem Schlaf aufgetaucht bin.
Meine Mutter hat nach mir gerufen. Mir die Verantwortung gegeben. Und ich habe nichts unternommen. Ich habe im Bett gelegen.
Und jetzt spielt Electra mir die Stimme noch einmal vor, lauter jetzt: Hilfe, Hilfe, Hilfe! Warum, Jo, warum?
Und ich kann nicht mehr tun als dastehen und meiner eigenen Mutter beim Sterben zuhören.