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Jo
T otenstille trifft einen unvorbereitet. Sie ist umfassender als die normale Stille nach dem Verklingen einer Stimme oder dem Schließen einer Tür, nach einem Song, einem Lachen, einer Party, einem Abendessen. Ich erinnere mich genau an die beängstigende Stille, die nach Daddys Tod in diesem Haus, dem Haus meiner Mutter in Thornton Heath, geherrscht hat. Auch an die Stille während der ersten Fireworks Night ohne ihn. Wir waren immer beim Feuerwerk gewesen, mein Vater und ich, er war mit mir in den nächstgelegenen Park gegangen und hatte mich auf seine Schultern gehoben, und ich hatte vor Begeisterung gejubelt und gejuchzt und in die Hände geklatscht … und dann, eines Tages, kam die erste Fireworks Night, in der Daddy nicht mehr da war. Also habe ich mich aufs Sofa gesetzt und mir die stillen, fernen, wunderschönen Explosionen violett und rot und türkis-rosa funkelnder Sterne, die den Himmel über Südlondon erhellten, durchs Fenster angesehen. Am Ende konnte ich den Anblick des tonlosen Funkenregens nicht mehr ertragen. Ich habe die Vorhänge zugezogen und der Stille gelauscht.
Besondere Stille. Die Stille, bevor meine Mutter »dein Vater« herausbrachte; die stillen Tränen meines Bruders, dem es peinlich war, als ich in die Küche kam und ihn, einen Heranwachsenden, weinen sah. Die Stille, wenn man den Vorhang zurückzog und auf den leeren Flecken blickte, wo er früher immer geparkt und sich am Ende ins Auto gesetzt und die Abgase eingeatmet hatte.
Die Stille trifft einen besonders, weil man weiß, dass sie nicht vergehen wird, nicht ausgefüllt, nicht vergessen werden kann. Kein Laut kann sie beenden.
Es ist so verdammt still im lavendelbedufteten Haus meiner Mutter. Ziellos, sinnlos, völlig leer im Kopf, wandere ich von Raum zu Raum. Und trotz der Stille, trotz aller inneren Qual, drehe ich mich immer wieder nervös um. Ich habe nicht vergessen, was Electra gesagt hat: Wenn du dich nicht umbringst, schicke ich jemanden, der es tut.
Ich habe sämtliche Türen zum Haus abgeschlossen, von innen. Für alle Fälle. Und jetzt – jetzt, da ich hier bin, weiß ich nicht, was ich tun soll. Was tut man, nachdem auch der zweite Elternteil gestorben ist?
Die Beerdigung arrangieren, nehme ich an. Mit berufsmäßig traurigen Leuten über Einäscherung reden. Urkunden beschaffen? Mein Bruder hat angerufen und gesagt, dass er kommt. Es war ein unfassbar steifes Telefonat; offensichtlich misstraut er mir nach wie vor, weil ich das getan habe – oder, eher, weil jemand anders es in meinem Namen getan hat. Jemand, der mich tot sehen möchte.
Aber mein Trotz wächst. Ich werde mich rächen. An ihm, an ihr oder ihnen. Irgendwie. Bald. Nur muss ich mich erst mal der schrecklichen Tatsache stellen, dass meine Mutter nicht mehr da ist.
Ein paar Nachbarn sind vorbeigekommen. Haben ihr Beileid bekundet, mir verlegen Blumen in die Hand gedrückt und sind wieder gegangen.
Jetzt bin ich allein mit der Stille und den Möbeln und Kleidern und Besitztümern meiner Mutter – und dem Home-Assistant auf dem Regal. Dieses Ding hat gehört, wie meine Mutter nach mir rief, und diesen Ruf an mich weitergeschickt. Es ist das Gerät, das Simon ihr geschenkt hat.
Unter allen, von denen ich eine Beileidsbekundung erwarten würde, wäre Simon der Erste gewesen. Ich weiß, Polly hasst mich, ich weiß, er darf nicht versuchen, mit mir in Kontakt zu treten, aber ich kann mir nicht helfen: Er kennt meine Mum, seine Leute wohnen hier um die Ecke, er kennt unsere Familie seit Jahrzehnten, er müsste doch wenigstens eine SMS schicken! Seine Eltern waren da und haben sich angeboten, den Hund zu nehmen, bis wir entschieden haben, was mit ihm geschehen soll.
Aber Simon?
Nichts. Vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen. Ich weiß nicht, warum.
Wie auch immer, ich muss anfangen, Sachen einzupacken. Ich nehme an, das macht man so, wenn jemand gestorben ist. Man verstaut Sachen in Kisten. Sachen, die man behalten will, Sachen, die man spenden wird, Sachen, die man – vermutlich – verkaufen kann oder erben oder was weiß ich. Das Geld spielt keine große Rolle, auch wenn ich pleite bin. Die Ersparnisse meiner Mutter belaufen sich gerade mal auf ein paar Tausend Pfund. In dem Haus hat sie zur Miete gewohnt; es muss leer geräumt werden. Meine Mutter ist tot. Es regiert die Stille. Zu hören ist nur das leise Rascheln von Wolle, Nylon und Baumwolle, während ich Mums Kleider und Wäsche aus den Schränken hole. Ich verteile sie auf Kartons, die ich mit Klebeband verschließe und mit Aufschriften wie TAFEL ?, BEHALTEN ? oder ??? versehe. Da ich, natürlich, erst mit Will sprechen muss, kann ich alles nur mit Fragezeichen hinschreiben. Er wird bald kommen. Mag sein, dass er sauer ist oder mir misstraut, aber unsere Mutter ist nicht mehr da, und er und ich sind noch da, es gibt nur noch uns beide und den kleinen Caleb.
Noch mehr Kartons, noch mehr Klebeband. Noch mehr großformatige Filzstiftmarkierungen. Kartons voller Bücher und Zeitschriften, Kartons voller billiger Souvenirs aus Urlauben irgendwo am Mittelmeer, Kartons mit Uhren, Kartons mit Kartons voller Sachen aus meiner Schulzeit, meiner Kindheit, Wills Schulzeit. Stapelweise selbst aufgenommene Filme. Die Hälfte von diesem alten Zeug ist für mich völlig neu. Ich hatte keine Ahnung, dass Mum so viele Memorabilien aufbewahrt hat. Und es ist kaum etwas dabei, das mit ihr zu tun hätte, mit Janet Ferguson, es sind alles Sachen von oder über uns, ihre Kinder. Alle ihre Schätze, die Sachen, die sie ganz nahe bei sich hatte, unter ihrem Bett, in den schönsten Schachteln, sagen das eine: Ich war Mutter.
Das war ihr Selbstbild, das war es, was für sie im Leben gezählt hat, worauf sie stolz war. Mutter zu sein.
Es ist alles vor mir ausgebreitet. Wir waren ihr Leben. Ihr Lebenszweck: Will und ich. Wir haben ihrem Leben Sinn verliehen. Und am glücklichsten war sie, das hat sie mir kurz vor Simons und meiner Heirat geschrieben, wenn sie sorglos mit ihrem kleinen Sohn und ihrer Tochter zusammen sein und lachen konnte. Tatsächlich erinnere ich mich an den Wortlaut jenes Briefes, der genau am Tag unserer Hochzeit ankam: »Ich hoffe, du erlebst wie ich das Glück, Mutter zu sein.«
Tut mir leid, Mum, tut mir leid. Es ist zu spät, aber ach, ich sage es einfach: Tut mir leid. Ich hätte öfter anrufen, mehr mit dir reden, dich öfter in den Arm nehmen, dankbarer sein sollen. Vielleicht hätte ich dir Enkel schenken sollen.
Aber nun ist sie nicht mehr da, und ich war im Krankenhaus und habe ihren Leichnam gesehen, und es hat nicht geholfen. Ich bin, ich war, ich werde in jeder Hinsicht zu spät dran sein. Und das Schlimmste ist, sie ist in dem Gefühl gestorben, dass ich schuld bin. Warum, Jo, warum?
Es ist ein quälender Gedanke: Ich habe im Halbschlaf gelegen und meine Mutter sterben hören.
Die Schufterei hat nicht geholfen. Sie hat keine therapeutische Wirkung. Selbst Mums Kleider machen mich traurig. Jedes weckt eine eigene Erinnerung – die Sommerkleider aus der Zeit, als sie noch jünger war, die längeren, eher etwas biederen aus den späteren Jahren. Die Strickjacken mit den Lederknöpfen, die sie sich alle selbst gemacht hat. Es reicht erst mal mit den Kartons. Will und ich müssen reden.
Ich stehe in der Stille und lasse mich von ihr einhüllen. Auch in der Küche ist es vollkommen still. Bis mein Handy klingelt.
Tabitha.