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Jo
T abitha? Ruft mich an? Ich zögere, das Gespräch anzunehmen, denn ich habe Angst und bin gleichzeitig wütend. Die Wut gewinnt.
»Hallo, Tabs.« Ich hoffe, mein Ton ist so kalt, wie mein Herz sich anfühlt.
»Hallo, Jo.« Sie klingt nervös. Sehr untypisch. »Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut. Oh, Gott, deine arme Mutter, es tut mir so leid. Es ist so furchtbar.«
Das Beileid möchte ich annehmen, sie ist, oder war, meine beste Freundin, aber dennoch kann ich die Lüge nicht vergessen.
»Danke, Tabitha.«
»Ist so weit alles in Ordnung, Süße? Brauchst du Hilfe? Sag einfach Bescheid.«
Das geht zu weit. Süße? Die Wut in mir kocht hoch. Und über.
»Was ich gern hätte, Tabitha, wäre, dass du, verdammt noch mal, die Wahrheit sagst. Hast du den Namen Xander Scudamore schon mal gehört? Ich nämlich ja.«
Sie schweigt. Ich nicht.
»Er war Purple Man, stimmt’s? Er hat uns Pillen gegeben, und wir haben sie an Jamie Trewin weitergegeben, und was du mir neulich in der Delancey erzählt hast, war Bullshit. Du hast gelogen. Du hast mir einen vom Pferd erzählt. In einer Situation, in der ich extrem labil war. Deshalb frage ich mich allmählich, ob ihr vielleicht diejenigen seid, Arlo und du, ob ihr es seid, die diesen Twitter-Account eingerichtet haben, um mich fertigzumachen.«
Wieder herrscht langes, quälendes Schweigen. Die sonst so selbstbewusste Tabitha ist ungewohnt stumm. Schließlich flüstert sie: »Oh, Gott, es tut mir so leid. Was soll ich sagen? Ja, ich habe gelogen. Ich hatte Angst, Jo, ich war dumm und ängstlich. Wenn jetzt die Wahrheit rauskäme – es wäre ein so unglücklicher Zeitpunkt für Arlo und das Baby und mich, und … und … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt keine Entschuldigung. Aber ehrlich, alles andere, alles, was sonst passiert, die Sache mit Twitter und so weiter, mit alldem haben Arlo und ich nichts zu tun. Glaub mir, bitte! Ich flehe dich an. Ich will dir helfen …«
»Okay. Du kannst mir helfen, indem du mich in Ruhe lässt, weißt du das? Lass mich in Ruhe! Bis auf Weiteres.«
»Warte …«
»Nein. Es reicht, Schluss jetzt.«
Ich lege auf. Es ist wie einen Stab brechen. Und zugleich hallt in mir nach, was sie gesagt hat. Sie hat sich trotz allem glaubhaft angehört; es war ihr ernst. Vielleicht ist ihr gar nichts vorzuwerfen. Vielleicht steckt Arlo allein hinter allem. Vielleicht ist sogar er unschuldig, und es ist noch jemand ganz anderes. Oder war das womöglich auch wieder gelogen?
Schnee fällt auf Schnee. Bald werden wir alle darunter begraben sein. Zum Schweigen gebracht. Aber ich weigere mich, ich lasse mich nicht begraben, und ich lasse mich nicht unterkriegen. Meine Mutter ist tot. Ich muss mich zur Wehr setzen, um ihretwillen. Das hätte sie erwartet. Wie Daddy war sie immer stolz auf meine Unerschrockenheit, meinen Ehrgeiz, mein Selbstbewusstsein: Jo the Go. Nur bin ich auch Jo die Ängstliche. Die Sehr-Ängstliche.
Um runterzukommen, mich zu beruhigen, reiße ich ein Küchenfenster auf und atme die schneidend kalte, geruchlose Luft, atme ein und aus, ein und aus. Es wirkt. Als ich spüre, wie mein Herzschlag sich verlangsamt, mache ich das Fenster zu und verriegele es – ich muss jetzt alles verriegeln –, aber dabei streift mein Blick den kleinen Apfelbaum, und mir fällt ein, wie oft Mum und Daddy und Will und ich unter diesem Baum gesessen haben und wie oft sie das fotografiert hat.
Mum hat gern fotografiert.
Die Fotos, ja. Die muss ich mir ansehen. Mum hat ihre Kamera noch benutzt, als alle anderen längst mit dem Handy fotografiert haben. Und als sie gezwungenermaßen zur Digitalfotografie überging, hat sie ihre Lieblingsbilder immer noch ausdrucken lassen.
Die Fotos müssen wir aufheben. Ich gehe ins Esszimmer, an den Schrank, in dem sie ihre Alben stehen hat, ziehe das erste heraus und blättere es durch. Endlose Babybilder, Kinderwagenbilder, Wiegenbilder, Daddy mit Kleinkind Will auf dem Arm, mein erster Schultag, ein Kindergeburtstag (mein fünfter?), lachende Eltern, Dad hat den Arm um sie gelegt, noch gesund oder höchstens mit allerersten kleinen Anzeichen der Krankheit. Bei einem Foto aber halte ich inne, und die Angst ist wieder da. Ich starre auf Daddy mit mir auf dem Arm.
Es ist das Bild, das mir an dem Abend beim Camden Lock zusammen mit den anderen unheimlichen Nachrichten aufs Handy geschickt worden ist. Angeblich von Jamie Trewin.
Wer auch immer mich terrorisiert, er hat Zugang zu Mums Fotos und Filmen und allem?
Ich schüttele den Kopf: ungläubig, verwirrt, sauer darüber, dass jemand hier eingedrungen ist; erschrocken, weil es zeigt, über welche Macht mein Feind verfügt. Doch ich schiebe die Ängste beiseite und blättere weiter. Die Stimmung auf den Fotos verdüstert sich zusehends. Dad verschwindet. Mittelschulzeiten. Weniger Lächeln. Drei Leute am Strand oder um den Tisch, nicht vier. Will als Teenager mit grässlichem Haarschnitt und der ersten Andeutung eines Schnauzbarts. Ich als Teenager mit noch viel grässlicherer Frisur, aber entschlossenem, strahlendem Lächeln. Eine einzige Aufnahme von Will und mir gegen Ende der Teenagerzeit, vielleicht auch mit Anfang zwanzig, lässig und endlich – vielleicht – hübsch, bei der Hochzeit irgendeiner Cousine auf einer Treppe posierend.
Danach: nichts mehr. An diesem Punkt versiegt die Fotoflut praktisch. Als Will und ich aus ihrem Leben verschwanden, hat Mum das Interesse an Bildern verloren.
Nachdem ich das erste zurückgestellt habe, ziehe ich das letzte Album aus dem Schrank. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie es auf dem Schoß hatte und Bilder einklebte.
Im Schneidersitz hocke ich auf dem kalten Esszimmerboden, bin völlig versunken und lenke mich von Angst und Trauer ab. Offenbar hat sie meine sämtlichen Artikel aus der Zeitung ausgeschnitten und hier eingeklebt. Auch die Zeitungsmeldungen über Wills Arbeit sind alle da, wobei das nicht so viele sind.
Ach, Mama, du warst so stolz.
Ich schlucke die Tränen hinunter und blättere weiter. Etwa in der Mitte des Albums werden die Bilder wieder lebendiger: mit der Geburt von Caleb. Mum hat ihren ersten, ihren einzigen Enkel vergöttert; es gibt Babybilder, auf denen er breit grinst und seine ersten Zähnchen zeigt, und Bilder von ihm, wie er in der kalifornischen Sonne auf einem kleinen Roller steht. Auf der nächsten Seite komme ich wieder vor. Ein ganzseitiges Foto. Offenbar hat sie es extra in dieser Größe abziehen lassen, es hat ihr so gut gefallen.
Ihr Siebzigster, ein heißer Julitag, wir grillen unter dem Apfelbaum, und damit die Gesellschaft größer ist, habe ich ein paar von meinen interessanteren Freunden eingeladen: Fitz, Anna, Marlow, Gul, Andy, Jenny. Simon war natürlich auch da. Simons Eltern auch. Die Bridge-Partnerinnen von Mum. Nicht lange danach haben Simon und ich uns getrennt.
Irgendetwas an diesem unschuldigen Foto von einem Grillfest im Sonnenschein macht mich stutzig, ich weiß aber nicht, was.
Simon, Jenny, Fitz, Gul, Tabitha und ich stehen in einer Reihe im Garten und heben lachend unsere Cocktailgläser, wahrscheinlich prosten wir dem Fotografen zu. Sogar Arlo ist auf dem Bild zu sehen. Wie habe ich Arlo dazu gekriegt, mit nach Thornton Heath zu kommen? Das passt überhaupt nicht. Ist es das, was mich an dem Foto irritiert? Oder was sonst? Ich scanne die Gesichter, spüre die Spannungen, die es zwischen Simon und mir bereits gab, obwohl wir hier cocktailselig lächeln.
Zu der Zeit habe ich schon nach einem Weg raus aus einer eingeschlafenen Ehe gesucht und mit »Liam« Nachrichten getauscht.
Aber es muss noch etwas anderes sein.
Was?
Ich starre und starre, fahre mit dem Finger über das Bild, als stünde da etwas in Blindenschrift oder als könnte die Textur der schieren Oberfläche die Wahrheit preisgeben.
Und dann sehe ich es. Versteckt und doch mittendrin.
Mama.
Halb lächelt, halb blinzelt sie in die Kamera, wohl leicht benommen von der Sonne. Und sie hält ein Buch in der Hand. Den Umschlag kenne ich. Genau das Gleiche habe ich mir erst vor Kurzem heruntergeladen.
Sylvia Plath, Gedichte .
Die Stille dröhnt mir in den Ohren wie ein Signal. Warum hält Mama auf einem Bild, das an ihrem siebzigsten Geburtstag gemacht worden ist, im Garten, ein Buch in der Hand? Doch wohl nur, weil sie es an dem Tag geschenkt bekommen hat. Ich erinnere mich weder an das Überreichen dieses Geschenks noch an das Buch selbst. Sie war kein großer Fan von Lyrik, ebenso wenig, wie ich es bin, und trotzdem hat ihr offenbar jemand, der Plath mag, diesen Band geschenkt. Das heißt ja wohl, dass ich, wenn ich das Buch finde und feststellen kann, wer es geschenkt hat, weiß, wer es ist, meine Nemesis, mein Peiniger.
Wo hätte Mum so ein Buch hingestellt? Es war ein Geschenk, also hat sie es bestimmt nicht weggegeben, aber es ist auch nichts, was sie besonders gemocht haben wird.
Ihre Lieblingsbücher – Jane Austen, die Brontës, Thomas Hardy, die Klassiker, die sie wieder und wieder gelesen hat – stehen in ihrem Schlafzimmer, Kochbücher in der Küche. Weniger nützliche oder wichtige Bände hat sie immer hier gehabt, im Esszimmer. Auf der anderen Seite des Tisches.
Ich stehe auf und gehe hinüber zum Regal. Das müssen an die tausend Bücher sein. Mum hat sie gehortet, genau wie Dad. Und das Regal ist hoch.
Hastig überfliege ich die Titel auf den Buchrücken. Bücke mich und richte mich auf wie jemand, der seine Truppen inspiziert – nur dass ich nach dem Fußabdruck meines Feindes suche.
Pech. Hier steht keine Lyrik. Das wundert mich nicht. Trotzdem – alle Titel habe ich noch nicht durchgesehen. Eine Chance gibt es noch, ein Bord ganz oben, auf dem die am wenigsten gelesenen Exemplare stehen. Ich bin zu klein, ich muss mir einen der Stühle vom Esstisch heranziehen. Auf den steige ich, und dann lege ich den Kopf in den Nacken.
Studiere die letzten Buchrücken. Alte Science-Fiction. Alte Fachbücher. Ein Band über Vermeer. Sylvia Plath, Gedichte .
Zitternd vor Aufregung strecke ich die Hand danach aus. Das Geschenk steht ganz rechts in der Ecke und ist total eingestaubt.
Ich versuche, ruhig zu bleiben – vergebens. Hastig steige ich von dem Stuhl und nehme meinen Hauptgewinn in Augenschein. Das muss das fragliche Buch sein.
Ich schlage es auf und entdecke eine handschriftliche Widmung.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag
xxx
»Ich, die Rose, die du erringst«
Mir wird schlecht. Die Handschrift sagt alles. Dieses schwungvolle »g«, das mein Vater mir beigebracht hat.
Das habe ich geschrieben. Für Mama. Ich muss ihr das Buch geschenkt haben. Aber ich erinnere mich nicht daran – ich weiß nicht, warum und wie und wann, nichts weiß ich.
Und es sieht so aus, als hätte ich meine eigene Zukunft vorhergesagt. Ich wusste, was mir eines Tages widerfahren würde. Plath.