46
Tabitha
W
ährend sich draußen die Winterdämmerung über den Garten senkte, saß Tabitha mit ihrem Miniglas Wein am Küchentresen und starrte auf die Uhr an Arlos Mikrowelle.
Sie ging mal wieder falsch. Diese Uhr ging ständig falsch. Das nervte sie; mindestens zweimal die Woche stellte sie das Ding. Das Komische war, dass Arlo – der anspruchsvolle, stets logische Arlo, der schon grollte, wenn seine wertvollen alten Manschettenknöpfe nicht der Größe nach geordnet dalagen – sich daran bei Weitem nicht so störte wie sie.
Wo war er überhaupt? Eigentlich hatte er längst da sein wollen. Sie überlegte, ob sie anfangen sollte zu kochen. Bestimmt war es noch zu früh. Aber es machte ihr Spaß: das Kochen. Sie verbrachte immer mehr Zeit in dieser Küche; bereitete Dinge zu, die sie gar nicht essen wollte.
Vielleicht war das reine Verdrängung. So brauchte sie nicht an Jo zu denken. Das Telefonat war so schmerzlich gewesen; es war ihr so schwergefallen, die Lüge zuzugeben. Und dann diese Anschuldigung gegen Arlo.
Ihr Telefon klingelte. Riss sie aus den düsteren Gedanken. Eine unbekannte Nummer.
»Hallo, wer ist da?«
»Simon. Simon Todd. Entschuldige, dass ich dich zu Hause belästige. Störe ich?«
Tabitha zögerte, runzelte verwirrt die Stirn.
»Nein, ist okay.«
»Und die Schwangerschaft? Ich hab gehört, du bist …?«
»Mir geht’s gut.« Tabitha starrte hinaus in den fast dunklen Garten, zu den kahlen, dornenbewehrten Rosensträuchern, den Flecken von braunem Gras, die nach der kurzen Tauwetterphase geblieben waren. Warum rief Simon Todd sie an? Er rief nie an, um zu plaudern. Es musste mit Jo zu tun haben.
»Was ist los, Simon? Es geht um Jo, oder?«
»Ja …« Er senkte die Stimme, als fürchte er, dass jemand mithören könnte. »Um wen sonst? Hast du das mit Janet gehört?«
»Natürlich. Es ist so schrecklich. Ich nehme an, ein gewisses Risiko bestand immer, seit sie den Schrittmacher hatte. Arme Jo.«
»Hast du mit ihr gesprochen? Mit Jo?«
Simon war kaum zu verstehen. Tabitha hatte furchtbare Schuldgefühle.
»Na ja, ich hab’s versucht, aber sie ist … sie ist sauer auf mich. Wir haben uns gestritten. Es ist schwierig. Aber ja … ich hab’s versucht.« An Arlo wollte sie lieber nicht denken. Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, was Jo über Xander wusste? »Aber was soll man unter diesen Umständen auch sagen? Was kann man tun? Es ist so traurig, und es kommt zu allem anderen noch hinzu, zu diesem Albtraum, der kein Ende zu nehmen scheint …«
Aufgeregt fiel Simon ihr ins Wort: »Du meinst den verrückten Scheiß, den sie von sich gibt? Diese Nachrichten?«
»Ja, diese E-Mails, diese Katastrophe auf Twitter. Das hat sie ins berufliche Aus katapultiert. Sie war die
Meldung, überregional! Neulich war ich drüben in der Delancey, und da stand es schon ziemlich schlimm um sie … Aber ja, was soll man machen, Simon? Sie wird wie ihr Vater. Sehr traurig. Und jetzt noch das mit ihrer Mutter.«
»Genau darum geht’s«, sagte Simon, nach wie vor in diesem angestrengten Murmelton. »Genau darum. Die Mails. Die WhatsApp-
Nachrichten. Diesen Müll auf Twitter. Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, und inzwischen glaube ich, dass sie das alles weder geschrieben noch gesendet oder getwittert hat. Sie lügt nicht. Sie ist gehackt worden.«
Tabitha fuhr zusammen. »Was? Aber wie, Simon? Warum?«
»Wie gesagt, sie ist gehackt worden.«
»Aber woher willst du das wissen?«
Er klang besorgt und trotzdem entschieden. »Sie kann
es nicht gewesen sein. Ich bin die Nachrichten vor Kurzem noch mal durchgegangen. Bei einer Mail, der an Fitz, hat das Timing eindeutig nicht gestimmt. Sie wurde abgesendet, während Jo mit mir beim Essen saß; ihr Telefon war stumm geschaltet, und sie hat es kein einziges Mal angefasst.«
Tabitha runzelte die Stirn.
»Und wenn sie eine spezielle Software benutzt hat? Man kann Mails doch zeitversetzt abschicken.«
»Nein, das habe ich gecheckt. Diese Programme kenne ich, Tabitha, ich arbeite in der IT
-Branche, das ist mein Job. Sie hat diese Nachrichten nicht verschickt. Deshalb glaube ich, dass sie die ganze Zeit recht hatte: Sie ist nicht paranoid. Sie ist nicht schizo wie ihr Vater. Es gibt
jemanden, der das mit ihr macht. Der sie terrorisiert. Diese Assistants zerstören ihr ganzes Leben.«
»Du meinst wirklich, die Dinger reden mit ihr?«
»Ja.«
»Und das Telefon und der Fernseher? Der Twitter-Account, dieses ganze gruselige Zeug – das ist alles Fake? Also ein Angriff auf sie?«
»Jep. Genau das. Ich bin mir ganz sicher, dass jemand, der eine enorme Wut auf sie hat, es darauf anlegt, sie fertigzumachen, sie so weit zu bringen, dass sie durchdreht oder sich umbringt. Nur: Wer hasst sie so sehr? Wer würde sie gern in der Klapse sehen? Oder unter einem Bus? Wer würde davon profitieren?«
Tabitha starrte auf ihr leeres Weinglas. Sie hätte gern ein zweites getrunken und wusste doch, dass das nicht ging.
»Du hast die Assistants doch installiert, Simon. Kannst du nicht einfach mal vorbeigehen und nachsehen? Sie ist deine Ex. Und sie hat ihre Mutter verloren.«
»Es ist so kompliziert. Polly macht mir die Hölle heiß. Ich weiß, das klingt verrückt, aber … so ist es nun mal. Wenn Polly dahinterkäme, dass ich in irgendeiner Form Kontakt mit Jo hätte, wäre meine Ehe am Ende. Ich ruf ja sogar dich jetzt vom Handy eines Kumpels an, damit sie es nicht mitkriegt.« Ein kurzes, angespanntes Schweigen trat ein. »Vor ein paar Wochen habe ich versucht, Jo ein paar SMS
zu schicken, und jetzt habe ich ihr eine Mail geschrieben, in der steht, wie leid mir das mit ihrer Mutter tut, aber ich nehme an, das ist alles geblockt worden. Genau genommen vermute ich, dass derjenige, der ihre Technik unter Kontrolle hat, mehr oder weniger alle Mails und Nachrichten an sie blockt. Und sie damit weiter isoliert. Wer es auch ist, er kontrolliert ihr Leben dermaßen! Alles, was sie tut. Es ist wirklich beängstigend. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie.« Und nach einer weiteren kurzen Pause fügte er hinzu: »Und tatsächlich habe ich jemanden im Verdacht. Mehr oder weniger.«
Tabitha hatte das Gefühl, dass etwas Dunkles auf sie zurollte. Er wollte doch jetzt nicht Arlo beschuldigen? Dabei verstand sie, wie er darauf kommen konnte. Es gab Momente, da hegte selbst sie Zweifel. Zunehmend.
»Wen?«
»Liam.«
»Wen?«
Simon wiederholte den Namen.
»Weißt du nicht mehr? Dieser Schauspieler, Liam. Mit dem sie die Sex-Nachrichten geschrieben hat. Damit hat sie unsere Ehe kaputt gemacht. Nach der Trennung habe ich ihn eine Zeit lang online
beobachtet. Er hatte eine Facebook-Seite, er war auf Instagram und hat ab und zu einen Tweet abgesetzt. Ich schätze, ich war eifersüchtig, also bin ich ihm eine Weile gefolgt. Armselig, aber wahr.«
Tabithas Gedanken rasten.
»Du meinst, der ist das? Weil er plötzlich eifersüchtig ist? Ja, das klingt irgendwie schlüssig. Sie hat ihn online abserviert, sie hat nie mit ihm geschlafen, und jetzt hat er es auf sie abgesehen. Er ist so ein Irrer, richtig? Ein Stalker. Oder?«
»Nope«, sagte Simon. »Das Gegenteil von einem Stalker. Ich habe ihn ewig beobachtet, verstehst du, und neulich, als ich mal wieder nachgesehen habe, war er komplett aus dem Netz verschwunden. Sämtliche Spuren von ihm, alle Bilder, jedwede Referenz, sein LinkedIn-Account – es ist, als hätte es ihn nie gegeben. Niemand hat je von ihm gehört. Oder ihn getroffen. Wie unheimlich ist das denn? Sie hat Sex-Nachrichten an einen Geist geschickt.«
Die Wahrheit schoss so heftig auf sie zu, dass Tabitha Mühe hatte, sie zu erfassen.
»Also, es hat ihn nie gegeben?«
»Na ja, in gewisser Weise schon. Ich habe ein Gesichtserkennungsprogramm benutzt. Die Fotos von ihm waren alle von der Facebook-Seite eines anderen Typen geklaut, irgendeinem Banker, der in den USA
lebt und nie in Großbritannien gewesen ist. Ich hab das noch und noch gecheckt. Jemand hat diese Fotos genommen und eine Hintergrundstory erfunden und damit diese Figur erschaffen, diesen Liam Goodchild. Und dann hat ihn derjenige, der ihn damals erschaffen hat, aus dem Netz verschwinden lassen. Vollständig.« Simon zögerte kurz, dann fuhr er fort. »Und das ist, wie jeder in der Techbranche weiß, extrem schwer. Das kann nur jemand gewesen sein, der in einem Techunternehmen sehr weit oben ist, oder ein echter Experte, der über Top-Level-Wissen verfügt. KI
. Absolute Spitzentechnologie.«
Tabitha fehlten die Worte. Sie ließ Simon reden. Schnell und scharf.
»Egal, das kann warten. Jetzt zählt nur eines: Wir müssen Jo retten. Kannst du nicht rübergehen und sie besuchen, Tabitha? Nach ihr sehen und bei ihr bleiben? Sie ist deine Freundin, es ist deine Wohnung. Und es muss schnell gehen. Sie ist schwer selbstmordgefährdet.«
Wieder fuhr Tabitha zusammen. Und ich habe es noch schlimmer gemacht.
Es lag ihr schwer auf der Seele. Sie suchte nach den passenden Worten. »Okay, gut. Ich versuch’s Simon, ich meine, ich könnte es versuchen … Das Problem ist, wie gesagt, dass wir uns gestritten haben. Sie wird nicht auf mich hören. Es ist kompliziert mit uns beiden, und … und … auch Arlo kann ziemlich schwierig sein.«
Mit jedem weiteren Wort fühlte sie sich elender. Es war so offensichtlich, dass sie log. Sie hatte keine Ahnung, was sie machen sollte. Und diese Hilflosigkeit hatte mit Arlo nichts zu tun. Sie
hatte mit ihrer schrecklichen Lüge wegen Jamie Trewin die Brücke zu Jo eingerissen. Diese Lüge konnte sie nicht zurücknehmen. Ihre Freundschaft war wohl am Ende.
Simon seufzte kurz, wütend beinahe. Als habe er die Enttäuschung kommen sehen. Und dann sagte er: »Wahrscheinlich könnte ich ihr einen verdammten Brief schreiben, du weißt schon, einen richtigen altmodischen Brief. Aber würde sie den überhaupt aufmachen? Nein. Ich glaube …« Er senkte die Stimme noch weiter. »Ich glaube, es muss jemand hingehen und nach ihr sehen, Tabitha. Und … ja, vielleicht ist das meine Aufgabe. Ich war ihr Ehemann, mein Gott. Vielleicht muss ich hingehen, vielleicht muss ich das Risiko auf mich nehmen und hoffen, dass Polly nichts mitbekommt. Denn irgendwer muss ihr helfen! Sie wird angegriffen, und niemand steht ihr bei.«
»Gut«, sagte Tabitha, und das schlechte Gewissen war wie ein Stachel. Sie verabscheute sich selbst. »Wenn du hingehst – toll. Bitte
grüß sie ganz herzlich, sag ihr, dass ich sie lieb habe, richte ihr mein Beileid aus. Und erzähl mir, wie es gelaufen ist. So bald wie möglich.«
»Ja«, sagte Simon knapp, und dann legte er auf.
Keine Frage, es ärgerte ihn, dass sie so schwach war. So feige. Und das war nur verständlich. Aber er machte sich auch ernsthaft Sorgen. Irgendwer versuchte, Jo Ferguson zu vernichten.
Wer? Wie Simon gesagt hatte: Wer profitierte davon? Von ihrer totalen Vernichtung?
Sie dachte an das, was Arlo über Simon gesagt hatte. Dass er sich auf sehr hohem Niveau mit Voice-Mimicry beschäftigte. Für einen Moment kam ihr in den Sinn, dass sie womöglich während dieses ganzen Telefonats gar nicht mit Simon gesprochen hatte. Vielleicht imitierte jemand seine eigene Stimme? Zog sie noch ein Stück weiter in dieses bizarre und gefährliche Spiel hinein.
Aber warum sollte er?
Von allen Seiten zogen Schatten herauf. Beim Gedanken an geklonte Stimmen wurde ihr übel, wenn auch nicht so übel wie bei dem Gespräch eben. Liam, der Schauspieler, war so etwas wie ein Geist. Allmählich wurde es zu viel, es ging einfach zu weit, war zu verrückt, zu beängstigend. Plötzlich hatte Tabitha Ashbury das unheimliche Gefühl, nicht mehr zu sein als eine Figur in einem Stück, das sie nicht verstand und das von jemand anderem geschrieben wurde; jemandem, der viel schlauer war. Ein Stück, bei dem sie noch nicht einmal die Sprache verstand. Vielleicht war sie auch Teil einer Pokerrunde, in der alle blufften.
Sie starrte hinaus in den alten, von einer Mauer umgebenen Garten. Es schneite schon wieder. Schnell kamen die Flocken herunter und überzogen zum x-ten Mal alles mit Weiß, löschten alles aus, transformierten die Welt.