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Jo
I ch mustere meinen Bruder. Sein sonnengebräuntes Gesicht. Die ersten feinen Linien darin. Spuren eines öden Fluges von L. A. hier herüber, wo unsere Mutter beerdigt werden muss. Warum ist er so wütend?
»Warum schreist du mich so an? Ich hatte mit Mums Tod nichts zu tun, ich war zu Hause!«
»Ach ja?«
»Ja! Hör zu, ich weiß, du bist sauer, weil du denkst, dass ich das war, diese Sache mit Caleb, aber ich war es nicht. Meine Computer sind gehackt worden. Alles ist gehackt worden – bitte, glaub mir!«
Er hat die Arme verschränkt, seine Miene ist verschlossen. Ich versuche es mit einem Friedensangebot.
»Du bist gerade erst angekommen, Will, du musst müde sein. Ich kann hier schon anfangen, und du schläfst erst mal, und reden können wir morgen …«
»Nein«, knurrt er. »Ich bin nicht gerade erst angekommen, sondern heute Morgen. Ich war schon mal hier, wir müssen einander verpasst haben. Meine Sachen habe ich bei einem Freund gelassen, und ich wohne auch bei einem Freund in Battersea.«
Er war schon mal hier? In Mums Haus? Was redet er da?
Er geht ins Esszimmer, ich folge ihm. Vor dem Regal, in dem Mum ihren Laptop hatte, bleibt er stehen. Sie hat den Rechner für ihre Fotos benutzt, um mit der Familie Kontakt zu halten, und für Facebook; sie hat Facebook viel intensiver genutzt als ich. Wie die meisten Eltern.
Wortlos klappt Will den Deckel des Rechners hoch, und sofort poppt Mums Facebook-Seite auf. Er klickt die Nachrichten an, und dann zeigt er auf einen Text.
»Ich nehme an«, sagt er unendlich kühl – mit einer Kälte, die nie vergehen wird –, »das hier leugnest du auch.«
Ich starre auf den Bildschirm.
Die letzte Nachricht ist eine von mir an Mum. Ich brauche nur die ersten ein, zwei Sätze zu lesen, und schon machen mir Tränen, wieder diese dummen Tränen, die Kehle eng:
Du warst eine miserable Mutter. Die schlechteste ever. So langweilig. So total und unfassbar langweilig. Immer und immer das gleiche Gelaber. Kein Wunder, dass Daddy sich umgebracht hat. Wir haben dich gehasst, Will und ich, und wir hassen dich noch. Deshalb kommen wir dich nie besuchen, deshalb rufen wir nie an. Hast du Daddy zu Tode gelangweilt? Ist er deswegen verrückt …
Es geht noch weiter. Mehrere scheußliche Absätze lang. Ich knalle den Laptopdeckel zu, doch es ist zu spät. Die Worte sind in meine nackte Haut gebrannt. Jeder kann sie sehen.
Will hat Mühe, seinen Zorn zu bändigen. »Halb neun gestern Abend hast du Mum diese Nachricht geschickt«, sagt er. »Ihrem Browserverlauf zufolge hat sie sie um neun gelesen. Keine Stunde später war sie tot.«
Angewidert starrt er mich an.
»Was bist du für ein Monster, Jo? Erst versuchst du, meine Familie zu zerstören, das Glück deines Bruders, deines Neffen. Und jetzt das. Du bringst deine eigene Mutter um?«
Ich laufe los. Ich renne. Renne weg vor dem, was er sagt, raus aus dem Zimmer, zur Tür hinaus. Ich war das nicht, ich habe das nicht geschrieben, aber nach allem, was passiert ist, wird mein Bruder mir nicht glauben. Und seine Wut, so gerechtfertigt sie auch scheinen mag, halte ich nicht aus.
»Ja, los!«, höre ich ihn noch rufen, als ich die Haustür aufreiße und in die eisige Vorstadtluft stürze. »Na los, lauf weg!«
Wenn ich das doch nur könnte.