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Jo
D er Sturm wütet. London hat aufgegeben. Dieser Winter hat die Leute oft in die Häuser getrieben, aber so verlassen wie jetzt habe ich die Straßen hier, Parkway, Albert Road, Gloucester Gate, noch nie gesehen.
Ich bin der einzige Mensch weit und breit. Lautlos fegt mir der horizontal dahintreibende Schnee entgegen, wie Nadelstiche ins Gesicht, während ich mich gegen den Wind vorwärtskämpfe bis in den Park. Zwischen den weißen Wirbeln sehen die Bäume aus wie knotige Lampenständer und die viktorianischen Straßenlaternen wie erfrorene Tiere, denen Kälte und Wind die Gliedmaßen gekappt haben.
Wenn sie überhaupt zu erkennen sind.
Ich kann keine fünf Meter weit sehen, kaum drei, also suche ich mir den Weg nach Gefühl. Aber bei alldem ist mir nicht kalt, vielmehr spüre ich tief im Inneren Wärme. Erlösung. Bestätigung. Simon glaubt mir, Simon weiß, was mir widerfährt. Ich weiß es schon lange, aber nun weiß es auch die Welt: Ich bin nicht verrückt . Ich habe weder meine Karriere zunichtegemacht noch meine Freundschaften ruiniert oder jemanden in meiner Familie umgebracht. Ich habe meine Mutter nicht umgebracht. Das war ich nicht, und nun kommt die Wahrheit endlich heraus. Aber was geistert noch draußen herum; wer schleicht sich an, um mich zu töten?
Immer wieder schaue ich mich um, doch das Schneetreiben verwischt alles. Muss ich da lang? Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Hilflos rufe ich ins Nichts.
»Simon?« Und noch einmal: »Simon, bist du da?«
Aussichtslos. Meine Stimme geht im Tosen unter, und ich bin noch nicht mal in der Nähe des Inner Circle, des Parks im Park. Mit dem wütenden Schnee kriecht die Dunkelheit in die Stadt. Dunkel und weiß, dunkel und dunkler, das spärliche kalte Licht schwindet zusehends. Irgendwann werden sie die Tore zum Park abschließen, und die Zäune sind hoch; ich werde hier eingesperrt sein, über Nacht, aber das ist egal, ich muss Simon finden. Er wird wissen, was zu tun ist.
Plötzlich eine große glitzernde Fläche. Eis. Das gibt mir Orientierung. Ich bin beim Ententeich, eben ist er aus dem Schneetreiben aufgetaucht. Also bin ich komplett falsch gegangen, bin einfach dem langen äußeren Rundweg gefolgt, aber wenigstens weiß ich jetzt, wo ich bin, und kann den Inner Circle ansteuern. Wind und Schnee sind von solcher Wucht, dass ich, um vorwärtszukommen, praktisch krabbeln muss wie ein Baby. Meine Augen tränen, das ganze Gesicht schmerzt, und ich spüre, dass meine Körpertemperatur trotz der mehreren Lagen Kleidung nun doch sinkt. Schnell sinkt.
Ist das gefährlich?
Egal. Nicht egal. Ich muss Simon finden. Aber jetzt bin ich im Inner Circle, und hier ist keine Spur von ihm oder sonst irgendwem. Ein weiterer heftiger Windstoß mit Schneeflocken so scharf wie Hagelkörner wirft mich fast um. Von den Bäumen klingt unter ihrer Last aus Schnee hysterisches Knarren durch den Sturm. Knicken sie um? Der Wind hat solche Kraft, der viele Schnee ist so schwer, ich könnte leicht von einem umstürzenden Baum erschlagen werden. Aber sie – oder es oder er oder sie – wollen mich ja sowieso umbringen, was spielt das also für eine Rolle? Mein Gefühl sagt mir, dass dies meine letzte Chance ist.
»Simon!«, schreie ich. Der Wind reißt es mir von den Lippen, sofort habe ich den Mund voller Schnee. »Simon, Hilfe! Wo bist du? Simon?«
Aus meiner Tasche kommt ein Klingeln. Das Handy? Ich suche mir einen halbwegs windgeschützten Platz, krümme mich in eine Rosenhecke, spüre Dornen am Hals. Hole das Handy hervor. Wieder mein Nachbar, Tom, der Banker.
»Hallo, Jo? Wo bist du?«
Ich kann es ihm nicht sagen. Nicht an diesem Telefon. Die Assistants haben es gehackt; sie würden mich finden.
»Tom.«
»Was? Mein Gott, Jo, ist alles in Ordnung?«
In dem Sturm höre ich mich kaum. Ich krümme die Hand um das Handy.
»Mir geht’s gut Tom, ich bin einkaufen.«
»Ich wollte dir nur sagen – hier war so ein komischer Typ, sah irgendwie bedrohlich aus. Er hat dich gesucht. Er meinte, er hätte dich in den Park gehen sehen, und wollte wissen, ob du wieder da bist, ob du oben bist, und …«
»Was?«
»Er sah gefährlich aus, Jo, wie ein … ich weiß nicht, irgendwie bedrohlich. Ich glaub, ich ruf die Polizei, meinst du nicht? Der Kerl ist hinter dir her. Er sah seltsam aus. Irgendwie manisch.«
»Nein!«, schreie ich. Die Assistants hören das alles mit. Sie würden ihre Rache kriegen, bevor Simon mich retten kann. »Nicht die Polizei, Tom!«, schreie ich ins Telefon. »Lass es, ruf nicht die Polizei, auf keinen Fall. Das ist nur Simon, mein Ex …«
Die Verbindung ist tot. Das ganze Handy ist tot. Meine Hände, eiskalt, zittern wie wahnsinnig, aber trotz des wirbelnden Schnees sehe ich, dass das Display schwarz ist.
Ich muss Simon finden. Ich weiß, dass er hier ist. Irgendwo. Dass er mir helfen, mich retten, alles erklären will. Irgendwo in diesem heulenden, tödlichen, endlosen Weiß. Dieser verschwommenen Welt aus schwarzem Himmel und weißem Schnee und stummen, kreischenden Schatten – schmiedeeisernen Laternen, die aussehen wie tote Affen, starr und kalt und grotesk deformiert.
Ich stehe in der Mitte des Inner Circle. Gerade eben erkenne ich den Springbrunnen, an dem Simon und ich uns, als wir jung und verliebt waren, öfter getroffen haben. Die Wassersäulen bilden grau-kristallene Bogen, transparente Schwerter, die von toten Steindelfinen herabhängen.
Als ich mich umdrehe, sehe ich bis hinüber zum gegenüberliegenden Tor nichts als wirbelnden Schnee.
Simon ist nicht da. Er ist nicht gekommen.
Simon hat gelogen. Warum?
»Simon!«, rufe ich hoffnungslos in den Sturm. »Simon!«
Er ist nicht da.
»Simon? Bitte! Simon!«
Am liebsten würde ich auf die Knie fallen. Vor Enttäuschung.
Und dann sehe ich ihn. Nicht Simon. Jemand anderen. Den Mann, der mich fertigmachen soll.
Eine große, bedrohliche Gestalt, das Gesicht verhüllt, einen Schal umgeschlungen. Er kommt durch das südliche Tor. Eher eine Silhouette, aber eine riesige. Er ist doppelt so groß wie Simon. Er ist hinter mir her, er wird mich auslöschen, und in der Dunkelheit und bei dem Wetter kann er das, ohne dass irgendjemand etwas mitbekommt. Zum Beispiel kann er mich in den überfrorenen See stoßen. Oh, sie muss sich verlaufen haben und hineingefallen sein. Das Eis ist wohl gebrochen. Sie ist ertrunken. Es wäre so einfach bei dem Sturm. Dieser Mann ist geschickt worden, meine Qualen zu beenden.
Durch den heulenden Wind dringt ein Schrei an mein Ohr. Und dann kommt die dunkle Gestalt geradewegs auf mich zu, fängt an zu laufen. Eine reflexhafte, abgrundtiefe Angst nimmt mir die Luft, füllt meine Seele vollständig aus. Wenn du dich nicht umbringst, schicke ich jemanden, der es tut. Ich fahre herum, hierhin, dahin, in dem Versuch, den besten Fluchtweg auszumachen, und die ganze Zeit kommt dieser große Mann auf mich zugelaufen. Böse. Entschlossen, unaufhaltsam. Ein Killer. Ein Profi.
Und ich habe jedes Gefühl für Raum und Zeit, für alles, verloren. Vor lauter Horrorvisionen kann ich nicht denken, und der Schneesturm löscht alles aus, um mich herum ist nichts als Weiß. Verzweifelt, am ganzen Leib zitternd, renne ich los, nach rechts, die Tore schließen automatisch, ich laufe hindurch, ich bin auf der Straße, die durch den Park führt, doch der Mann ist hinter mir, er folgt mir immer noch, will mich töten, weiß, dass er mir den Weg abschneiden kann und mich kriegen wird. Mich unter das Eis stoßen kann. Mich umbringen. Ich sprinte nach links, rutsche auf Eis und Schnee aus, sehe nichts mehr hinter mir, aber das liegt daran, dass ohnehin nichts zu sehen ist, nichts als eine Wand aus Schnee und Wind und Dunkelheit. Ich komme erneut ins Rutschen, taumele, falle, drehe mich auf spiegelglattem Eis mehrmals um mich selbst. Eine Ballerina, die den sterbenden Schwan gibt.
Ist der Mann nahe? Vielleicht keine fünf Meter weit, auf dem Sprung, mich zu töten.
In der Hoffnung, dass irgendwer kommen möge, schreie ich. Laut. Es ist hoffnungslos. Hier ist im Umkreis von einem Kilometer niemand. Außer mir – und ihm. Aber irgendwo in mir gibt es noch einen Funken Energie, einen Rest Widerstandsgeist, und so rappele ich mich auf und schlittere über die Straße zum Fußweg. Gelange an ein Tor. Keine Ahnung, wohin es führt, der Weg windet sich leicht abschüssig zu einem kleinen Areal mit Eis und Bäumen und Efeu, einem weiteren Teil des Parks, einer Art Irrgarten. Hier war ich noch nie, der Regent’s Park ist so wahnsinnig groß. Riesige Hecken, komplett von Schnee überzogen. Alles ist unter Schnee begraben. Ich laufe durch den Irrgarten und höre den Mann näher kommen, er atmet schwer, er wird mich töten.
Wände aus Weiß. Darüber Dunkelheit. Hinter jeder Ecke lauert der Tod. Der große Mann, der einen am Ende findet, der Angreifer, der einen unweigerlich eines Tages erwischt, kurz bevor man seine Haustür erreicht. Jetzt bin ich dran. Es gibt keinen Ort mehr, an dem ich mich verstecken könnte.
Und ich versuche es trotzdem. Renne nach links und nach rechts, vorbei an Hecken, an Fontänen, die zu bläulichen Eisdolchen erstarrt sind, an grünen Lauben, die jetzt weiße Bogen sind, ganz aus Eis und Eiszapfen wie Fangzähne, ich kann nicht mehr rennen, immer noch sehe ich den Mann näher kommen, das Tuch vor seinem Gesicht, seine breiten Schultern, den dicken Mantel, er ist auf der anderen Seite des Irrgartens, und er sieht mich und weiß, dass ich ihn sehe. Ich ducke mich und laufe weiter, immer tiefer hinein in das Labyrinth.
Ich glaube, ich habe ihn verloren. Für den Moment. Aber mich selbst habe ich auch verloren. Ich bin der totalen Erschöpfung nahe, ich bin am Ende: Es ist einfach zu kalt, die Versuchung, aufzugeben, es anzunehmen, ist übermächtig. Es gibt keinen Ausweg. Ich kann nur hoffen, dass er, wenn er mich findet, schnell macht, mich schnell tötet. Die Tore sind jetzt alle verschlossen. Die Zäune sind zu hoch, als dass ich drüberklettern könnte. Ich passiere einen letzten schwarz vereisten, dornigen Rosenbogen, komme auf eine Rotunde aus Erdboden und Eis, auf der eine weitere Statue steht, ein graziles schmiedeeisernes Mädchen, bewehrt mit gläsernen Waffen. Dahinter entdecke ich eine hübsche kleine Holzbank. Da werde ich mich hinlegen.
Das war’s, es reicht. Genug. Ich werde nicht entkommen. Sie haben gewonnen. Entweder kriegt mich der Mann, oder die Kälte frisst mich, denn ich kann nicht mehr, ich bin so müde. Ich habe meine eigene Mutter umgebracht. Auch wenn ich es nicht war. Aber das war ihr letzter Gedanke: dass ihre eigene Tochter sie hasst.
Der Schneesturm kommt an sein Ende, und ich schließe mich an.
Langsam, vorsichtig lege ich mich auf die Bank. Mir ist so eiskalt, dass ich nicht einmal mehr zittere. So muss es sein, wenn man sich umbringt, wenn man endgültig akzeptiert, dass jetzt der Tod kommt. Wenn man das Glas Milch und den Teller mit Broten hinstellt. Wenn man die Türen mit Tesaband abklebt. Wenn man in die Küche geht und seinen Kopf auf ein Handtuch bettet. Es geschieht leise.
Ich bette meinen Kopf auf die Bank. Hier werde ich sterben. Selbst wenn der große, schwere Mann mich nicht findet und umbringt – ich komme aus dem Park nicht hinaus. Vielleicht werde ich nicht ertränkt oder erdrosselt, aber ich werde erfrieren. Und ich habe nichts dagegen. Warum sollte ich auch? So schlecht, so traurig ist der Tod gar nicht; nicht, wenn man ich ist.
Letzte Schauer laufen durch meinen Körper. Mein Herzschlag verlangsamt sich. Immer weiter. Der Tod ist nicht mehr fern. Ich denke an meinen Vater und den kleinen Apfelbaum. Oh, Daddy, oh, Daddy, jetzt hab ich genug.
»Hallo!«
Ich fahre hoch. Es war mein allerletzter Traum. Ein Traum von einem Apfelbaum, von Daddy, der mich auf den Arm nimmt und liebevoll lächelt. Mühsam öffne ich die zufrierenden Augen.
Die Stimme kenne ich.
Autos, es ist Autos. Er war der Mann, der mir gefolgt ist. Autos.
»Du.«
Ich schmecke Schnee. Pailletten aus Eis. Ich zittere, sprechen kann ich nicht.
Durch das Tuch vor seinem Gesicht sagt er: »Ich habe dich hier reingehen sehen. Hab gesehen, dass etwas nicht stimmt. Wollte helfen.«
Sprechen geht noch immer nicht.
Er hebt mich hoch, als wöge ich nichts, denn ich bin tot, und Seelen haben kein Gewicht. Ich spüre noch, wie er mich hinausträgt aus Heckengewirr und Gartenanlagen, und dann sinke ich in tiefe, traumdurchwobene, unbekannte Bewusstlosigkeit.