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Jo
I ch habe eine Nacht im Krankenhaus verbracht. Daran, wie ich hergekommen bin, habe ich keine Erinnerung. Wahrscheinlich hat Autos mich den ganzen Weg vom Regent’s Park bis zur Uniklinik getragen. Und ist danach sofort verschwunden.
Sie haben mich schnell stationär aufgenommen und in Silberdecken gewickelt; außerdem haben sich mich hektisch gegen drohende Unterkühlung, Erfrierungen und so weiter behandelt. Und mir ist nichts passiert. Heute Morgen hat der Arzt mir mit diversen Taschenlampen in die Augen geleuchtet und die Reflexe getestet, hat mir – ohne ersichtlichen Grund – Blut abgenommen und schließlich sehr freundlich und mitfühlend geseufzt, als nehme er an, dass es sich um einen Selbstmordversuch gehandelt hat.
»Es steht Ihnen frei zu gehen, Ms Ferguson«, sagte er. »Im Großen und Ganzen sind Sie wohlauf – freuen Sie sich, dass Sie so jung und stark sind, aber vielleicht verzichten Sie vorerst darauf, bei Schneesturm abends in einem eisigen Park herumzulaufen.«
Ich habe, immer noch etwas matt, zurückgelächelt. »Keine Sorge.«
Die Schwestern haben mir neue Unterwäsche gebracht – ich hatte erklärt, dass ich zu Hause niemanden habe, der mir helfen, der losgehen und mir etwas besorgen könnte. Da hatten sie Mitleid. Ich schlüpfe in die neue Wäsche, in meine getrockneten Jeans und Pullover und mache mich zum Gehen fertig, doch als ich die Station verlassen will, kommt eine besonders nette Schwester mit nordenglischem Akzent und dem breitesten Lächeln Londons mit einem Blumenstrauß an, der größer ist als sie selbst. Sie späht um die Rosen, Lilien und schicken Tropengewächse herum.
Der Strauß sieht teuer aus. Ich glaube, ich weiß, woher er stammt.
»Hallo, Jo, die sind für Sie!«
Ich werfe einen Blick auf die Karte, die in dem Strauß steckt.
Es steht genau das drauf, was ich geahnt habe: Bitte entschuldige. Es tut mir unendlich leid. Tabitha.
Nachdem ich die kleine Karte wieder in den Umschlag geschoben habe, sage ich: »Bringen Sie den Strauß auf die Kinderstation, Angie! Ich will ihn nicht.«
Sie lächelt unsicher, nickt aber, und ich gehe meiner Wege. Entschlossen. Dass ich dem Tod so nahe war, erfüllt mich irgendwie mit Energie, mit neuer Entschiedenheit, mit einem starken Lebenswillen, vielleicht sogar mit dem genauso starken Wunsch nach Rache. Der Schneesturm ist abgezogen und hat einen klaren Himmel hinterlassen, und genauso hat dieses Erlebnis meinen Kopf geklärt.
Winterlicher Sonnenschein fällt auf die Gower Street. Eiszapfen schmelzen, von den Dachrinnen tropft es kalt wie Zuckerwasser. Und vieles, was eben noch unter Schnee verborgen war, kommt wieder zum Vorschein. Eiszapfen und Island; Zucker und Sigur Rós.
Mein Blick streift ein Schild mit der Aufschrift Psychiatrische Akutstation , und ich bin mir sicher, dass ich da nicht landen werde. Ich will leben. Ehe sie mich da hineinstecken, werde ich kämpfen bis zum Letzten. Und sie werden mich nicht, praktisch tot, mit einem Krankenwagen hier abliefern, wie es Jamie Trewin ergangen ist. Nein. Nicht mit mir. Nicht, nachdem ich den gestrigen Abend überlebt habe.
Ich habe dieses Buch. Die Widmung passt nicht. Ich muss herausfinden, warum sie nicht passt, und zwar bevor Electra ihren letzten Zug macht.
Auf dem Weg zum U-Bahnhof Warren Street hole ich mein geheimes Telefon hervor – ich muss vorsichtig bleiben – und rufe Tabitha an. Ein kurzes Telefonat. Einmal muss ich sie kurz sprechen, um endlich Klarheit zu haben.
Sobald sie begreift, dass ich es bin, wird sie nervös.
»Oh, Gott, dir geht’s gut, oh, mein Gott, Jo, ich … ich … Was soll ich sagen? Dass ich dich wegen Jamie angelogen habe – ich hab’s schon mal gesagt, es tut mir unendlich leid, ich fühl mich schrecklich deswegen. Und dann haben die Nachbarn angerufen und gesagt, dass du im Park bist! Gestern Abend. Oh, Gott, Süße, ich hatte solche Angst um dich, Simon hat mich angerufen, er sagt, dass die Home-Assistants wirklich spinnen, dass du wirklich gehackt worden bist. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht geglaubt habe …«
»Sei still, Tabitha.«
Sie hält den Mund.
»Beantworte mir einfach ein paar Fragen. Ehrlich.«
»Ja. Ja, natürlich.«
Das Sprechen fällt ihr schwer, so, als sei sie den Tränen nahe. Vielleicht knickt meine kluge, überlegene, witzige, vermeintlich beste Freundin jetzt ein. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das etwas ausmacht.
»Hast du jemals mit Arlo über Jamie Trewin gesprochen, Tabitha? Über Xander Scudamore wissen wir alle Bescheid, daher vermute ich, dass du es Arlo erzählt hast.«
Längeres Zögern, und dann sagt sie mit wackliger Stimme: »Ja, ja, habe ich.« Jetzt weint sie tatsächlich. »Es tut mir so leid …«
»Hör auf zu weinen und beantworte eine letzte Frage.«
»Welche?«
»Hast du Arlo gegenüber mal Hoppípolla erwähnt? Kennt er dieses Detail?«
»Hoppy…was?«
Ich wusste es.
»Das ist ein Song«, sage ich. »Von einer isländischen Band, Sigur Rós heißen die. Das lief damals in Glastonbury die ganze Zeit. In dem Jamie-Trewin-Jahr. Aber du erinnerst dich nicht daran, oder?«
Diesmal antwortet sie schnell. Und ehrlich.
»Keine Ahnung, ob ich das jemals gehört habe, und schon gar nicht erinnere ich mich aus Glastonbury daran … also nein. Nein«, sagt sie. »Das habe ich garantiert nie erwähnt, aber sag, was willst du machen, was hast du mit … Arlo und Xander und so weiter vor? Du könntest alles zunichtemachen – und ich könnte verstehen, warum, ich weiß ja selbst nicht mehr, wem ich noch trauen kann, selbst bei Arlo …«
Ich bin kurz davor, aufzulegen. Dann rufe ich mir in Erinnerung, dass sie meine beste Freundin ist, oder war, und dass sie schwanger ist. Irgendetwas in mir gibt nach.
»Ich weiß nicht, ob er darin verwickelt ist, Tabs. Er könnte es sein, möglicherweise arbeitet er auch mit jemandem zusammen. Wie auch immer, ich werde es herausfinden. Aber Folgendes kannst du ihm ausrichten: Ich habe heute Morgen im Krankenhaus alles aufgeschrieben und in einen E-Mail-Anhang gepackt. Die ganze Wahrheit, die ganze Geschichte; darin ist alles erklärt, was dich und mich und Xander und so weiter betrifft. Die Mail habe ich einer Ärztin geschickt, und ich habe ihr geschrieben, dass sie, wenn sie hört, dass mir etwas zugestoßen ist, den Anhang öffnen soll.« Tabitha ist still. Ich fahre fort: »Also sag Arlo, wenn er so irre reich bleiben will und nicht möchte, dass seine Frau wegen Totschlags vor Gericht landet, soll er mich in Frieden lassen. Okay? Und du, Tabs? Hast du das auch verstanden? Gut. Dann leb wohl.«
Mir wäre danach, das Telefon auf den Boden zu pfeffern, doch das kann ich nicht. Stattdessen gehe ich zu Fuß nach Hause. Scheiß auf den Winter. Er ist am Ende. Die Wahrheit ist zum Greifen nah. Ich habe es von Anfang an gewusst: Von Hoppípolla habe ich nur Simon erzählt, damals in North Finchley; zwei oder drei Jahre ist das jetzt her. Das bedeutet vor allem eines, etwas sehr Wichtiges: Das alles mit den Home-Assistants, dieser ganze Irrsinn, hat nicht in der Delancey angefangen, sondern schon Jahre davor. Daher der krisselige Film von Simon und mir, wie ich alles beichte. Wir sind schon damals beobachtet worden. Da liegt der Ursprung des Ganzen: in der Zeit, als Simon und ich noch zusammengelebt haben.
Nun muss ich nur noch herausfinden, wer es war. Und mein Gefühl sagt mir, dass, sobald der Schnee schmilzt, ein neuer Name auftauchen wird. Wie einer von diesen sibirischen Gulag-Leichnamen, die die Erde im Zuge von Klimawandel und tauendem Permafrost preisgibt. Grinsende gelbe Zähne, die Klamotten konserviert. Deshalb ist der Leichnam leicht zu identifizieren.
Als ich, vom Parkway kommend, um die letzte Ecke biege, sehe ich gerade noch Handwerker aus dem Haus treten. Wieder mal eine von Fitz’ endlosen Renovierungsmaßnahmen? Einer der Männer starrt mich freundlich, aber auch anzüglich an.
Es fehlt nicht viel, und ich fauche: Hau bloß ab!
In der Wohnung angelangt, mache ich mir den stärksten Kaffee des Jahrhunderts und gehe ins Wohnzimmer. Ich spüre, dass Electra mich ansieht.
»Hallo, Electra«, sage ich. »Fick dich.«
Sie antwortet nicht.
Ich zucke die Achseln. Grimmig, entschlossen. An dem Klischee ist was dran: Ich habe alles verloren, also bin ich frei. Ich habe nichts zu verlieren. Es ist mir egal, was Electra sieht.
Also gehe ich hinüber zum Regal und ziehe das unscheinbare und doch so entscheidende Buch heraus. Sylvia Plath, Gedichte, ein Geschenk für Mum zum siebzigsten Geburtstag. Es sieht so aus, als hätte sie es von ihrer hellsichtigen Tochter bekommen, nur glaube ich nicht, dass ich hellsichtig bin. Ich glaube nicht, dass ich in die Zukunft schauen kann – oder konnte. Es muss eine andere Erklärung geben.
Noch einmal lese ich die Widmung:
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag
xxx
»Ich, die Rose, die du erringst«
Ich lese sie wieder und wieder, fahre mit dem Finger darüber, grübele. Irgendetwas verbirgt sich darin. Wo kommt die Zeile in Anführungszeichen her? Bestimmt aus einem der Gedichte. Ich angele mir mein Handy und suche die Zeile in der Version, die ich heruntergeladen habe.
Es dauert keine Sekunde. Die Zeile stammt aus Childless Woman .
Was wieder zu mir führt. Ich habe die Widmung geschrieben. Um meiner Mutter etwas über mich mitzuteilen? Über meine Kinderlosigkeit? Es ergibt keinen Sinn. Wie hätte ich das vergessen können? So lange ist die Geburtstagsfeier nicht her, nur ein paar Jahre.
Es ist zum Verzweifeln. Ich weiß, irgendwo in diesem Buch steckt die Antwort, nur finde ich sie nicht. Als sei es eine versiegelte Schachtel, in der eine ganz besondere Kostbarkeit liegt. Ich kann die Schachtel schütteln und höre es klappern, aber ich kriege sie nicht auf.
So konzentriere ich mich wieder auf das gedruckte Buch, studiere die Handschrift, versuche zu erspüren, was ich beim Schreiben der Widmung empfunden habe, betrachte die charakteristische schwungvolle Unterlänge beim »g«, die verrät, dass ich das geschrieben habe. Wie ich g laube.
G laube.
Mein Blut rast wie Quecksilber. Möglich, dass eine andere Lösung aufscheint.
Ich stürze in mein Zimmer und zerre die Schublade unten im Nachttisch auf. Dort landet alles, von dem ich sonst nicht weiß, wohin damit: Karten, Notizhefte, Ersatzschlüssel, Münzen in anderen Währungen, lauter belangloses Zeug, das man irgendwo bekommt und nicht wegwirft – nur für den Fall. Da, da ist er, zusammengefaltet.
Der Zettel, der mir in der »Vinoteca« zugesteckt worden ist. Auf dem etwas von Hand Geschriebenes steht, obwohl heutzutage niemand mehr mit der Hand schreibt. Der Zettel mit der Nummer. Und darunter einem Namen. Mit einem »g« am Ende.
Lange starre ich auf das »g«. Es ist auffällig, mit schwungvoller Unterlänge wie meines. Und das kommt daher, dass wir beide die Schönschrift – die wir später vergaßen – vom selben Mann gelernt haben. Meinem Vater.
Jenny Irving .
Das »g« stimmt hundertprozentig mit dem in der Widmung überein.
Die Schachtel hat sich geöffnet. Wie durch ein Wunder.
Jenny. Jenny Irving. Sie hat das geschrieben. Sie hat Mama das Buch geschenkt. Sie ist meine Peinigerin.
Jenny Irving, auch eine kinderlose Frau.