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Jo
D as ist der Beweis, den ich brauche, um mein Leben zu retten – und meine geistige Unversehrtheit. Von Jenny geht alles aus, und mehr noch, es ist, als sei ihre Persönlichkeit in die Assistants hineingekrochen.
Auch wenn ich das Spinnennetz jetzt entwirre, ich bin der Spinne noch gefährlich nahe. Meine Beute soll nicht entkommen, aber ich will ihr auch nicht zum Opfer fallen, sie soll mich nicht töten.
Es heißt nach wie vor wachsam sein.
Ich gehe ins kleine Bad, mein Priesterloch. Einen Anruf muss ich noch erledigen. Im Anschluss werde ich Jenny – irgendwie – dingfest machen und herausfinden, warum – warum das alles. Und dann werde ich sie schlagen.
Als Erstes öffne ich den Wasserhahn, damit niemand mithören kann, dann wähle ich Simons Nummer. Es ist Samstag, er wird zu Hause sein. Es ist mir egal, ob Polly drangeht.
Natürlich ist sie es, die sich meldet.
Ich sage: »Polly, hol Simon ans Telefon.«
»Nein, ich hab dir gesagt …«
»Hol ihn, Polly. Meine Mutter ist tot. Ich wäre gestern Abend um ein Haar gestorben. Hol ihn. Jetzt.«
Wer könnte dagegen etwas sagen?
Kurz darauf meldet sich Simon. Ich komme direkt auf den Punkt.
»Weißt du, dass du mich gestern Abend angerufen und gesagt hast, ich soll in den Regent’s Park kommen, damit wir uns treffen können? Kurz vor der Schließzeit und bei diesem krassen Schneesturm?«
Er schweigt verwirrt. Verständlicherweise.
»Warst du das, Simon, hast du mich angerufen?«
»Nein! Ganz sicher nicht. Mein Gott. Warum hätte ich das tun sollen?« Und bevor ich antworten kann, fährt er fort: »Gott, Jo, ich hab das mit deiner Mutter gehört, das tut mir sehr, sehr leid. Ich hab versucht, dir eine Mail zu schreiben, auch mit einer SMS hab ich’s probiert, aber ich vermute, deine Mails werden alle geblockt. Ich weiß, dass du gehackt worden bist. Eigentlich wollte ich heute vorbeikommen und nach dir sehen. Es erklären.«
»Wolltest du?«
»Ja! Weil ich weiß, was los ist. Ich weiß das mit den Home-Assistants. Und das mit Liam weiß ich auch. Er hat nie existiert! Also ist mir klar, dass es jemanden gibt, der das alles mit dir …«
Jetzt bin ich es, die ihn unterbricht.
»Danke. Tabitha hat es mir erzählt, aber trotzdem danke. Du hast recht, es gibt jemanden, der das alles mit mir macht. Und ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer das ist.«
Er keucht auf. »Wer?«
»Warte. Zuerst muss ich dich was fragen. Da imitiert, oder eher: klont, jemand Stimmen, meine, deine … Sag mir die Wahrheit, Simon: Die Technologie, an der du arbeitest, und die Technik in den Home-Assistants, diese Voice-Mimicry-Software –, könnte man damit ganze Gespräche herstellen, die Fake sind?«
Er zögert, seufzt, windet sich, als hätte ich ihn nach einem Staatsgeheimnis gefragt.
»Simon! Meine Mutter ist tot, weil jemand eine angebliche Nachricht von mir auf Facebook gepostet hat. Jemand hat deine Stimme benutzt, um mich in den Regent’s Park zu locken und damit praktisch in den Tod zu schicken!« Weitere Tiraden verkneife ich mir. »Sag’s mir einfach.«
Nach neuerlichem Zögern antwortet er schließlich. »Ja, das ist möglich. Ohne Weiteres machbar. Voice-Cloning. Daran haben wir ewig gearbeitet. Man speist die Stimme in einen Home-Assistant ein, und dann kann er Telefonate führen und so weiter, er kann an deiner Stelle bei dir im Büro anrufen, Restauranttische reservieren, ganze Gespräche führen. Die Technik dazu ist da.«
»Okay, gut. Dann weiß ich, glaube ich, wer es ist.«
»Wer?«
»Denk nach, Si. Arlo, Fitz und Tabitha haben nichts damit zu tun. Wer kommt noch infrage? Es ist keine Silicon-Valley-Verschwörung. Es geht zurück auf die Albträume, die ich eine Zeit lang hatte. Als wir das erste Mal solche Home-Assistants hatten; damals hast du auch meiner Mutter einen geschenkt, der übrig war. Außer den Geräten hat nie jemand gehört, wie ich dir den Grund meiner Albträume gebeichtet habe – wie ich dir von Jamie Trewin und Glastonbury erzählt habe, mit den ganzen Einzelheiten wie zum Beispiel Hoppípolla . Weißt du noch?«
»Ja.«
»Und dann noch Folgendes: Du weißt, dass du gesagt hast, die Geräte lernen von einem, sie übernehmen den eigenen Geschmack. Also meine sind besessen von Sylvia Plath, der Dichterin, daraus schließe ich, dass die Person, die für den ganzen Horror verantwortlich ist, genauso von Plath besessen ist. Und es hat sich herausgestellt, dass eine gemeinsame Freundin von uns meiner Mutter einen Band Plath-Gedichte geschenkt hat . Vor Jahren, damals, zu ihrem Siebzigsten. In dem Buch gibt es eine handschriftliche Widmung. Ich weiß, dass es die Schrift unserer Freundin ist, denn ich erkenne sie. Und ich habe diese Handschrift erst vor Kurzem gesehen.«
»Ihre Handschrift?«, stammelt er. »Oh, Gott, ihre
Ich lasse ihm nicht die Zeit, einen Namen auszusprechen.
»Und was ist mit den Assistants, Si? Warum hatten wir so viele solche Dinger? Wir waren pleite, ich hab kaum was verdient, dein Gehalt war lächerlich – wieso konnten wir uns plötzlich dieses Hightechzeug leisten?« Er schweigt, und ich fahre schnell fort. »Ich hab nie danach gefragt. Schön dumm. Ich wusste nicht, dass die Dinger die Wurzel von allem sind. Die Quelle. Aber jetzt will ich es wissen. Woher hatten wir sie?«
»Ich hab sie geschenkt gekriegt. Es hieß, es gäbe Unmengen davon, und wenn ich wollte, könnte ich sie ausprobieren.«
Genau.
Es ist ein kleiner Triumph, die Frage zu stellen, auf die es kaum noch einer Antwort bedarf.
»Wer hat sie dir geschenkt?«
»Gul …« Er atmet schwer. »Aber ich glaube, er hat gesagt … ja. Ich weiß genau, dass er gesagt hat, dass er sie von jemand anderem hat.«
»Jenny Irving.«
Leise erwidert er: »Ja. Kann sein. Sie weiß so viel. Und sie kennt sich aus, sie kann das alles. Also könnte es ohne Weiteres sie sein.« Er stockt, scheint unsicher. »Aber ich verstehe noch nicht … Was hat es mit der Mail auf sich, die an Jenny gegangen ist? In der von Missbrauch die Rede war?«
»Genau das ist es ja. Warum sie das gemacht hat? Um ihre Spur zu verwischen!« Ich hole tief Luft und verkünde das Offensichtliche: »Außer Jenny selbst weiß doch niemand etwas von diesem Geheimnis aus ihrer Kindheit!«
Er seufzt, und es klingt wütend.
»Also ist sie es. Was für ein Miststück, was für eine Hexe. Sie hat die Assistants so programmiert, dass sie dich beobachten, dich überwachen; so hat sie Informationen über uns gesammelt, um dich erpressen … und vernichten zu können.« Und nach kurzem Schweigen fügt er hinzu: »Und vermutlich kontrolliert sie sie immer noch.«
»Ja.«
Ich sehe ihn vor mir in seinem Hochhaus in Shoreditch, wie er angestrengt überlegt.
»Ich stelle sie zur Rede«, sagt er schließlich. »Ich verabrede mich mit ihr. Zur Polizei können wir, schätze ich, noch nicht gehen. Es ist zu riskant, deinetwegen, wegen der Jamie-Trewin-Sache. Also müssen wir es selbst klären. Heute Nachmittag muss ich zu so einem blöden Meeting nach King’s Cross, aber danach gehe ich zu ihr. Und dann rufe ich dich an.«
»Nein.« Ich werde wütend. »Nein, Simon, kommt nicht infrage. Das ist eine Sache zwischen ihr und mir. Es ist mein Problem.«
Er protestiert, aber ich lasse ihn nicht ausreden.
»Es ist mein Problem! Ich begreife nicht, warum Jenny Irving mich dermaßen hasst; ich weiß nicht, warum sie es so weit getrieben hat – aber Tatsache ist: Sie hat es getan. Sie ist verrückt. Ein Psycho. Das heißt, ich bin in Gefahr. Und du, wenn du dich einmischst, genauso. Du hast ein Kind – ich nicht. Also lass es.«
»Was hast du vor?«
»Weiß nicht. Aber mir fällt etwas ein. Ein paar Ideen habe ich.«
Simon gibt nach. »Also gut, okay. Es gefällt mir zwar überhaupt nicht, aber … halt mich dem Laufenden, schreib mir. Minütlich. Mein Gott, Jo, ich kann’s immer noch nicht glauben. Jenny Irving?«
»Jenny Irving.«
Wir legen auf. Ich trete aus dem Gästebad und bleibe einen Augenblick lang in den rechteckigen Sonnenflecken im Flur stehen. Mein Blick geht zu Electra. In der Wohnung herrscht dröhnende Stille. Und dann erwacht Electra mit einem Gong zum Leben. Ihr Diadem leuchtet auf, und sie sagt:
Asche, Asche –
Sie schüren und stochern.
Nichts da, weder Fleisch noch Knochen –
Schweigen. Ich neige den Kopf, aber ich ducke mich nicht. Die Angst ist weg. Beinahe.
»Electra«, sage ich. »Rate, wer zu Besuch kommt. Wer dich sehen will?«
Ein silbriges Glühen, eine gestelzte Antwort.
»Das weiß ich leider nicht.«
»Mama«, antworte ich, jubelnd und drohend zugleich; sie soll ruhig hören, dass ich Rache will. »Mama kommt dich besuchen, Electra. Mama, die dich gemacht hat, Electra; Mama, die dich so gemacht hat, wie du bist. Sie wird dich abschaffen. Das wird schön, oder?«
Electra verstummt. Ihr Licht erlischt. Schwarz.