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Jo
D ie Bäume an der Delancey – vor meinem Fenster – biegen sich in einem kalten, stürmischen Wind. Wieder ein kühler Tag, aber auch sonnig. Und klar. Der Frühling ist da, Eis und Schnee haben sich endlich verzogen.
Wie auch die Polizisten und Journalisten und all die anderen. Eine Zeit lang war meine Geschichte die Schlagzeile schlechthin. Wieder und wieder sind die großen Techfirmen befragt worden, doch sie haben jeglichen Zusammenhang zwischen digitalen Assistants und dem beinahe tödlichen Unfall von Simon Todd oder dem Tod meiner Mutter oder dem Feuer-Freitod von Jenny Irving bestritten. Erwartungsgemäß sind ihnen die Beteuerungen geglaubt worden. Zu Fehlfunktionen sei es nur in sehr begrenztem Rahmen gekommen, hieß es schließlich, und auch die seien ausschließlich auf einen seltsamen Programmierfehler zurückzuführen, der nur bei einer kleinen, in London fertiggestellten Charge aufgetreten sei.
Simon sitzt noch im Rollstuhl. Die Ärzte sagen, er kann demnächst wieder gehen, nur rennen wird er nie mehr können. Angesichts des gravierenden Softwarefehlers, der in seinem Hightechwagen festgestellt wurde, sagen manche, er habe Glück gehabt. In gewisser Weise, nehme ich an, hatte er das. Ich jedenfalls hatte Glück: ein Sprung aus sechs Metern Höhe, in den Schnee, und das Einzige, was ich davongetragen habe, waren ein böse verstauchter Knöchel, ein paar Schnittwunden und eine Gehirnerschütterung. Zwei Nächte war ich im Krankenhaus.
Es ist allgemein anerkannt worden, dass ich gehackt worden bin. Von Jenny. Die sich danach das Leben genommen hat. Wie ihre Heldin.
Ich sitze am Wohnzimmertisch und schaue mich um. Ich wohne zur Miete, nur ein paar Häuser von Tabithas völlig zerstörter Wohnung entfernt. Nachdem ich beschlossen hatte, dass ich die Gegend mag, habe ich mir hier etwas gesucht und bin geblieben. Ich mag die Gegend sogar so sehr, dass ich überlege, mir hier irgendwo etwas zu kaufen. Ich habe nämlich Geld.
Meine Geschichte ist berühmt, sie lässt sich verkaufen. Irgendein wichtiger L.A.-Freund von meinem Bruder hat mich vor ein paar Wochen angerufen und mir für die »Filmrechte an meinem Leben« Geld geboten. Ich wusste gar nicht, dass das geht: dass man seine Lebensgeschichte zu Geld machen kann. Sehr, sehr viel Geld. Ich habe zugestimmt – unter der Bedingung, dass sie mir einen Versuch geben, das Drehbuch zu schreiben. Sie sagten, klar. Und haben den Scheck ausgestellt.
Von einem Tag auf den anderen bin ich also reich.
Aber auch beschädigt. Wir sind alle beschädigt. Gerade jetzt, da Tabitha kurz vor der Niederkunft ist, musste Arlos Start-up gecancelt werden – zu viele Negativschlagzeilen. Aber es ist ihm gelungen, in einem anderen Techunternehmen einen guten Job zu finden. Er wird es also überleben.
Immerhin ist niemand verhaftet worden. Nach Jennys Tod und Simons »Unfall« bin ich zur Polizei gegangen und habe eine Aussage zu Jamie Trewin gemacht. Ein erschöpfter Beamter hatte Mitleid. Er erklärte, wenn ich darauf bestünde, könne er den Fall neu aufrollen, aber angesichts der tragischen Umstände habe er da doch Bedenken. »Viel zu viel Zeit vergangen«, sagte er. »Ihr Beweis würde nicht mehr anerkannt; unwahrscheinlich, dass es zu einer Verurteilung käme. Und der einzige nahe Angehörige von Jamie Trewin, sein Vater, ist vor ein paar Jahren gestorben. Wer hätte also was davon? Niemand.«
Dann sah er mich eine Weile schweigend an. Freundlich. Sein Blick sagte: Sie brauchen eine Pause, ich gewähre Ihnen eine Pause. Greifen Sie zu.
Ich habe zugegriffen. Ich habe auf nichts bestanden. Innerlich leer, bin ich aus der Polizeiwache spaziert: nicht erleichtert, nicht triumphierend, einfach leer – und traurig. Um Jamies willen. Um meiner armen Mutter willen. Und um der armen Jenny Irving willen. Die von meinem Vater vergewaltigt worden ist. Die Vorstellung macht mich krank. Ich versuche, nicht daran zu denken.
Alle, die irgendwie mit diesem seltsamen Fall zu tun hatten, alle von Shoreditch bis King’s Cross, haben ihre sämtliche digitale Technik in den Müll geworfen. Alle haben sich – anders als ich – neue Smartphones, neue Smart-TVs und – fast alle – neue Home-Assistants gekauft. Ich habe das nicht fertiggebracht. Meine Wohnung ist komplett unsmart. Sie ist eine dumme Wohnung. Ich habe das simpelste Handy, das es gab, und einen Laptop. Nichts weiter. Ich schreibe gern mit der Hand. Ich habe keinen Assistant.
Auf dem Weg in die Küche schlüpfe ich in meinen Mantel; ich schenke einen Becher Tee ein und gehe damit hinaus in die Kälte. Als ich die Straße überquere, blickt Autos auf. Er nimmt den Tee und bedankt sich. Dann fragt er: »Geht’s dir gut?«
Seit das passiert ist, fragt er mich das jeden Tag. Und ich habe immer das Gleiche geantwortet. Am Anfang war es gelogen, jetzt nur noch halb. Ja, mir geht’s gut.
»Weißt du, was?«, sage ich. »Du hattest recht mit den Geistern in meiner Wohnung.«
Er sieht mich an und schweigt. Trinkt seinen Tee. Vielleicht denkt er an den dicken schwarzen Porsche hinter mir.
»Es ist nur so: Es ist eine spezielle Sorte von Geistern. Es sind die Kindergeister. Unsere Kinder. Wir haben sie gemacht.«
Er zuckt die Achseln. Macht nichts. Was ich rede, klingt wahrscheinlich ziemlich wirr.
»Bis später«, sage ich.
Er lächelt. »Danke für den Tee.«
Ich gehe weiter. Mit großen Schritten Richtung Primrose Hill, wo die Häuser zehn Millionen Pfund kosten. Vor mir geht eine Frau mit zwei Kindern über die Straße. Ich habe sie schon öfter gesehen, sie wohnt hier irgendwo. Inzwischen ist mir klar, dass sie es war, die ich vor ein paar Monaten habe durch den Schnee stapfen sehen. Mein Verstand hat mir einen Streich gespielt. Während sie ihre Kinder ins Auto bugsiert, lächelt die Frau mir zu, dann steigt sie ein und fährt davon.
Auf dem Weg zum Chalcot Square mit den hübschen kleinen Bänken unter Haselnussbäumen denke ich an Electra und an das, was Simon damals gesagt hat: Sie sind wie Kinder. Sie lernen von dir.
Je länger ich über meine Geschichte nachdenke, desto deutlicher wird mir, wie Teile davon inszeniert, gelenkt und geliehen worden sind. Ich glaube, Electra hat rasch von meinen Anleitungen zum Drehbuchschreiben gelernt und die Filme gesehen, die ich mir angeschaut habe. Und in ihrer verspielten, amoralischen Grausamkeit hat sie sie benutzt, um mich zu terrorisieren. Dieser Blick auf mich, wie ich in einer Ecke stehe und gegen die Wand rede? Das kommt aus Blair Witch Project , einem meiner Lieblingsfilme. Und wie ich verzweifelt im Schneesturm durch den Regent’s Park gelaufen bin, das stammt eindeutig aus The Shining . Wenn ich weitersuche, werde ich wohl noch auf einige andere Parallelen und Echos stoßen. Dem Ganzen liegt eine tiefe Ironie zugrunde, die ich hoffentlich eines Tages ganz verstehe.
Aber jetzt noch nicht. Noch tut es zu weh, noch bin ich zu empfindlich. Wie gegen das Wetter heute. Obwohl der Himmel klar ist und die Sonne scheint, fällt, wenn auch sanft, Schnee. Bestimmt der letzte in diesem Jahr. Es liegt eine gewisse Wehmut darin, die Schönheit ist so vergänglich. Für einen Augenblick bleibe ich auf der Regent’s Park Road auf der Brücke stehen, lehne mich auf das schmiedeeiserne Geländer und starre in die Tiefe, sehe zu, wie die winzigen Flocken ins kalte schwarze Wasser des Regent’s Canal fallen.
Eine nach der anderen taumeln sie, schmelzen und sterben. Sie erinnern mich an ein kleines Spiel, das Jenny und ich damals in Thornton Heath gespielt haben, sobald es schneite.
Ich spiele es noch einmal, egal, ob mich jemand dabei sieht. Kerzengerade stehe ich da und strecke die Zunge heraus wie ein Kind, bis eine von den kleinen Flocken sich darauf niederlässt. Sie schmeckt nach Silber und Trauer, nach Lachen und Angst, nach Weihnachten und Kindheit und Daddy und Sternen. Und jetzt hört es auf zu schneien, und ich gehe weiter, hinein in den kühlen, windigen Frühling.