Samstag:

Im Polizeipräsidium

»Ich wollte nur mal sagen, dass ich es un-mög-lich finde, dass ich hier wie eine Verdächtige behandelt werde«, keift Angelique, und Henner korrigiert sie ruhig: »Potentiell.«

»Was?« Die junge Frau ist für einen Moment aus dem Konzept gebracht, und er erklärt nüchtern: »Potentiell verdächtig. Aber das bist nicht nur du. Das sind wir alle.«

»Egal ob potentiell oder nicht, ich finde das un-mög-lich! Und ich wollte auch noch mal sagen, das war gar nicht so einfach, für meine Kleinen so schnell eine Unterbringungsmöglichkeit zu finden. Ich finde, auf meine Situation als Mutter könnte man ja auch mal Rücksicht nehmen. Und im Übrigen«, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, haut sie energisch mit der Hand auf den Tisch, »werde ich gleich meinen Mann anrufen, damit der unseren Anwalt hierher bemüht. Das muss ich mir ja wohl wirklich nicht gefallen lassen!«

»Meine Güte, Angelique«, diesmal hat auch Ruth ihre obligatorische Ruhe verloren, »Henner hat recht, wir sitzen alle im selben Boot. Oder glaubst du, für mich war das angenehm, als die Polizei plötzlich vor meiner Tür stand und meine Wohnung durchsucht hat, als würden die bei mir irgendwo Arsen oder so was vermuten?«

Die vier verbleibenden Dinnergäste sind nacheinander von der Polizei konsultiert und ins Präsidium zitiert worden. Hier sitzen sie nun einigermaßen fassungslos, zusammen mit Kommissar Friedhelm Bolle und Kommissaranwärter Max Thomas, und können noch immer nicht glauben, dass einer von ihnen nicht mehr am Leben ist.

Am heftigsten hat Sven-René reagiert. »Jockel?« Ungläubig hat er wiederholt nachgefragt: »Jockel??« Dann hat er angefangen zu weinen wie ein kleines Kind. Auch jetzt sitzt er wie betäubt in seinen Stuhl gepresst und schluckt trocken. »Jockel war ein solcher Kotzkübel, sicher, aber …«

»Wir mochten ihn, glaube ich, alle nicht besonders, aber deswegen bringt ihn doch keiner von uns um.« Henner macht von allen den gefasstesten Eindruck und gießt erst mal Öl auf die seelischen Wogen.

Friedhelm eröffnet mit gewohnter Bedächtigkeit die Vernehmung: »Aber irgend-jemand hat ihn zweifellos ermordet. Und zwar mit Taxin; das ist ein Gift aus Eibennadeln. Eiben wachsen hier im Stadtpark, das ist also nicht unwahrscheinlich zu beschaffen.«

»Aber kann er sich nicht danach noch mit jemand anders getroffen haben, und der hat ihm das Zeug verabreicht?«, schlägt Angelique vor, und Sven-René pflichtet ihr bei: »Das halte ich auch für wahrscheinlicher. Von uns hatte doch keiner einen Grund, ihm etwas anzutun. Das ist unmöglich!«

Friedhelm schüttelt den Kopf: »Das Zeitfenster ergibt, dass ihm dieses Gift gestern Abend beim Dinner verabreicht worden sein muss und wenige Stunden später tödlich gewirkt hat. Darum müssen wir den gestrigen Abend sorgfältig rekonstruieren. Und wir müssen auch beleuchten, was an den anderen Dinnerabenden vorgefallen ist. Sie sagen alle, Sie mochten den Toten nicht besonders?«

Ruths Antwort kommt zögernd, als wolle sie sich an die unausgesprochene Regel halten, dass man Toten nichts Böses nachsagt: »Er hielt sich für den Größten, aber er kriegte nichts auf die Reihe, auch sein Dinner nicht. Er hat immer gejammert und gestöhnt. Und er hat Angelique so dermaßen angebaggert, dass es für uns alle unangenehm war.«

»Er war irgendwie gierig. Er hat immer gefressen wie ein Hungertoter und danach gemeckert, dass es ihm nicht geschmeckt habe«, führt auch Sven-René aus, und Henner fügt hinzu: »Der Typ war ein solcher Loser, aber er gab aller Welt die Schuld daran, dass es im angeblich so schlecht ging.«

»Er war eine Ätztype. Ein fürchterlicher Angeber. Und obwohl er wusste, dass ich verheiratet bin und zwei Kinder habe und dass ich überhaupt nicht auf ihn stand, hat er dauernd an mir rumgegrabbelt und mich angemacht, das war schon richtig ekelhaft. Den hätte ich am liebsten erwürgt.« Erschrocken über diesen heftigen Ausbruch schlägt sich Angelique die Hand vor den Mund, und Henner sieht sie mit unergründlichem Blick an. »Wenn ich es überhaupt jemandem von uns zutrauen würde, dann dir, Angelique. Dir ist er ja richtig aufs Gerät gegangen.«

»Henner, bist du nicht ganz dicht? Das ist doch nicht dein Ernst!«, zetert sie, und Ruth, in einem ungeschickten Versuch zu vermitteln, macht alles noch schlimmer: »Vielleicht in Notwehr? Oder versehentlich? Ich hätte sogar Verständnis für dich, so wie der sich bei dir angebiedert hat … Du hast mir manchmal richtig leidgetan.«

»Hallo, was wird ’n das jetzt hier? Glaubst du vielleicht, ich habe ständig eine Giftspritze in meiner Handtasche?« Angelique geht Ruth fast an die Gurgel, und Sven-René fabuliert achselzuckend weiter: »Wieso in der Handtasche? Er könnte dir nach Hause gefolgt sein, du konntest ihn nicht abwimmeln und hast ihn reingebeten … Also verstehen würde ich das, der hat dich ja richtig tyrannisiert.«

»Das ist jetzt nicht wahr, oder? Glaubst du ernsthaft, ich würde mir an so einem Würstchen die Finger dreckig machen? Ich habe schließlich zwei Töchter, an die ich denken muss«, bemüht Angelique mal wieder ihr Lieblingsthema.

Max versucht die erhitzten Gemüter zu beruhigen: »So kommen wir nicht weiter. Dies war keineswegs ein Versehen, das war ein vorsätzlicher, geplanter Mord. War von Ihnen jemand gestern Abend mal mit Herrn Mickelsen allein?«

»Ich«, antwortet Sven-René leise, »zwischen der Vorspeise und dem Hauptgericht war ich mit Jockel im Schlafzimmer. Da hatten wir aber nichts zu essen oder zu trinken dabei. Und intravenös ist ihm das Zeug ja wohl nicht verabreicht worden, oder?«

»Und allein im Esszimmer?«

»Ich natürlich«, erklärt Ruth, »als ich das Geschirr von der Vorspeise abgeräumt habe. Meine Gäste haben sich derweil in der Wohnung umgesehen. Und ja, bevor Sie fragen, es ist richtig, dass ich für Jockel das Dessert etwas anders zubereitet habe. Er vertrug angeblich kein rohes Obst, also habe ich für ihn nur Lidschis und Mango aus der Dose genommen. Das war den Gästen bekannt, darüber hatten wir beim Essen gesprochen.«

»War von Ihnen mal jemand allein in der Küche?«, fährt Max die Befragung fort, und wieder antwortet der junge Student: »Nee, außer Ruth natürlich. Ich war mal allein im Badezimmer, weil ich mir Wasser über die Hose gekippt hatte und das trocken wischen wollte. Das war aber ziemlich zum Schluss, da hatten wir das Dessert schon verputzt, und danach hat auch niemand mehr was aus der Küche geholt, soweit ich weiß.«

»Gab es an dem Abend andere Vorkommnisse, die Ihnen ungewöhnlich erschienen?« Max zückt seine Kladde und seinen Füllfederhalter, und Henner erwidert trocken: »Irgendjemand hat letzte Nacht versucht, mich aus dem Bett zu klingeln.«

»Und was soll das mit Jockel zu tun haben?«, fragt Ruth irritiert. Alle sind irritiert, und Henner versetzt: »Ich habe nur dem Kommissar auf seine Frage geantwortet, ob es gestern weitere ungewöhnliche Vorkommnisse gab. Und das war ungewöhnlich. Es war bestimmt schon nachts um zwei oder so, und ich lag im Bett und bin davon aufgewacht, dass jemand an meiner Haustür Sturm geklingelt hat. Ich habe nicht reagiert und bin wieder eingeduselt. Wenig später klingelte es noch mal ziemlich hartnäckig, aber ich hatte keine Lust aufzustehen, ich war zu müde. Danach war Ruhe, und ich bin wieder eingeschlafen.«

»Das war der Dinnermörder, der rafft uns jetzt alle dahin.« Angelique kann nicht umhin, sich bei Henner einmal für seine ganzen Spitzen ihr gegenüber zu revanchieren. »Er holt uns einen nach dem anderen, erst Jockel, dann dich …«

»Angelique, du wirst geschmacklos!«, fährt Ruth ihr über den Schnabel, und Sven-René lenkt ein: »Das hatte bestimmt nichts mit dem Dinner zu tun. Das war irgendein Idiot. Henner wohnt nun mal in einer ziemlich feinen Gegend, und solche Idioten treiben sich entweder in ganz feinen oder völlig asozialen Gegenden herum. Kann Jockel das Gift nicht auch selbst genommen haben?«

»Möglich, aber eher unwahrscheinlich, es ist keine angenehme Todesart. Und warum hätte er sich ausgerechnet diesen Zeitpunkt für einen Selbstmord aussuchen sollen?«, meint Friedhelm zweifelnd, und Angelique versetzt boshaft: »So schön dramatisch … Hätte vielleicht zu ihm gepasst. Aber ich glaube es in Wirklichkeit auch nicht, dazu hätte er den Mut nicht gehabt.«

»Waren an dem Abend außer Ihnen noch weitere Personen anwesend?«, möchte Friedhelm wissen. Henner nickt. »Freunde von Ruth, eine serbische Familie, die eine sehr schöne musikalische Darbietung vorgetragen haben. Aber die werden Sie nicht ernsthaft verdächtigen. Die kannten Jockel doch gar nicht, die kannten keinen von uns.«

»Es soll da so eine Geschichte mit einem Autounfall gegeben haben …« Max schießt ins Blaue und macht eine Kunstpause. Ruth kramt in ihrem Gedächtnis: »Meinen Sie den Unfall, den Jockel vor zwanzig Jahren mal verursacht hat? Er sagte, er hätte danach eine Angstpsychose bekommen und seinen Führerschein abgegeben, er wollte danach nie wieder Auto fahren. Aber was soll das mit seinem Tod zu tun haben?«

»Er meinte, es hätte damals nur Blechschaden gegeben, aber er hat das dermaßen betont, dass ich ihm, ehrlich gesagt, nicht so ganz geglaubt habe«, erinnert auch Sven-René sich jetzt wieder. »Ich meine, warum sollte man eine Angstpsychose bekommen, wenn man nur ein Auto zu Schrott fährt?«

»Das kam mir auch etwas überzogen vor«, stimmt Angelique lebhaft zu. »Wenn er natürlich stattdessen zum Beispiel ein Kind überfahren hätte … Ich darf gar nicht daran denken, wie das wäre, wenn meinen Mäusen so was passieren würde. Ich glaube, ich würde derartig durchdrehen … Ich meine, es gibt doch nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren, oder?«

»Angelique, kannst du mal für einen Moment die Rolle der guten deutschen Mutter ablegen? Das gehört wirklich nicht hierher.« Nun ist auch Henner gereizt, wirkt aber plötzlich sehr nachdenklich: »Mein Gott … diese serbische Familie, die gestern Abend da war, die haben mal ein Kind verloren. Vor zwanzig Jahren. Bei einem Autounfall.«

»Henner, weißt du eigentlich, was du da redest?« Ruth ist völlig fassungslos. »Du verdächtigst nicht ernsthaft Mladan und Vedrana Dimic, jemanden ermordet zu haben, den sie nur einmal flüchtig gesehen haben?«

»Flüchtig stimmt nicht, sie waren die ganze Zeit mit uns im Wohnzimmer, während sie musiziert haben«, widerspricht Henner, und Sven-René fügt hinzu: »Sie kamen während des Hauptgerichts und guckten kurz in die Essecke, um Guten Abend zu sagen. Dann hat Ruth sie ins Wohnzimmer geführt, und als wir mit dem Essen fertig waren, sind wir dazugekommen. Sie können theoretisch zwischendurch auch mal in die Küche gegangen sein. Also, wenn jemand eine Gelegenheit hatte, dann sie.«

»Sie glauben also, Herr Mickelsen hätte vor zwanzig Jahren einen Autounfall verursacht, bei dem ein Kind der Familie Dimic ums Leben kam, und jetzt haben sie ihn wiedererkannt?« Max klappt aufgeregt sein schwarzes Buch auf; es ist eine abenteuerliche Theorie … aber immerhin eine Theorie.

Angelique erklärt leidenschaftlich: »Anders kann es nicht gewesen sein. Von uns hatte doch niemand einen Grund, Jockel etwas anzutun, und auch keine Möglichkeit. Und natürlich würden deine Freunde mildernde Umstände bekommen, Ruth, es ist schließlich eine absolute Tragödie, sein Kind auf so tragische Weise zu verlieren …«

»Ja, und für den Fall, dass sie irgendwann den Mörder ihres Kindes wiedersehen, haben sie ständig Eibengift dabei. Sagt mal, seid ihr alle komplett verrückt geworden?!« Diesmal wird auch Ruth laut. »Erst wird in meiner Wohnung geschnüffelt wie in einer Opiumhöhle, dann werde ich verdächtigt, nur weil ich am ehesten die Gelegenheit hatte, und jetzt meine besten Freunde wegen einer so absurden Theorie … Also ich finde das ungeheuerlich!«

Friedhelm legt begütigend seine Hand auf ihre: »Frau Vidakovic, ein Mord ist immer ungeheuerlich, aber Sie verstehen, dass wir auch diesem Hinweis nachgehen müssen. Wir möchten Sie bitten, uns die Anschrift Ihrer Bekannten zu geben, damit wir gegebenenfalls auch mit diesen sprechen können. Aber Sie oder Ihre Bekannten sind nicht verdächtiger als alle an den Dinnerabenden Anwesenden.«

»Wir werden natürlich auch die jeweils anderen Anwesenden befragen, ob ihnen etwas aufgefallen ist«, versucht auch Max die Frau zu trösten, die wie das personifizierte Häufchen Unglück zwischen ihnen sitzt. »Aber Tatsache ist nun mal, dass Herr Mickelsen gestern Abend ums Leben kam, und darum werden wir uns hauptsächlich auf das gestrige Dinner konzentrieren.«

»Wir haben auch schon mit einem Arbeitskollegen von Herrn Mickelsen gesprochen, einem Griechen namens Kafidakis Panagiotis, den Sie wohl auch kennengelernt haben«, fährt Friedhelm fort, »und wir werden uns selbstverständlich auch im Umfeld des Toten umhören und seine Mutter befragen, sobald die wieder vernehmungsfähig ist. Aber wir versuchen auch, etwas über diesen Autounfall herauszubekommen, und wenn sich herausstellen sollte, dass der nichts mit Familie Dimic zu tun hatte, Frau Vidakovic, dann ist eine Befragung bei Ihren Bekannten vielleicht gar nicht mehr notwendig.«