Samstag:

Im Polizeipräsidium

»Es war ein achtjähriger Junge«, erklärt Mutti. Die Beruhigungsspritze im Krankenhaus hat gewirkt, und Elgard Mickelsen hat bei der Polizei angerufen und gefragt, ob sie ihren Sohn noch einmal sehen kann. Dies wurde ihr gestattet, und sie ist mit einem Taxi ins gerichtsmedizinische Institut gefahren, um sich von Jockel zu verabschieden. Ypsilon hat den Leichnam indes wieder einigermaßen menschlich hergerichtet und das Laken nur vom Kopf heruntergezogen, aber trotzdem bricht Elgard Mickelsen gleich wieder in Tränen aus.

Inzwischen hat sie sich aber wieder gefasst. Sie hat zu viel mitgemacht, als dass sie sich vom Leben so einfach unterkriegen ließe. Jetzt sitzt sie mit Kommissar Friedhelm Bolle und Kommissaranwärter Max Thomas im Polizeipräsidium und ist imstande, deren Fragen zu beantworten. Diese sind zunächst allgemeiner Natur und beziehen sich auf den Toten selbst.

»Jochen hat es nicht leicht gehabt«, sagt sie leise. »Er war sechzehn, als mein Mann starb, und es war natürlich hart für ihn, so früh den Vater zu verlieren. Aber er war so ein guter Junge. Ach, meine Herren, Sie müssen diesen Verrückten finden, der das getan hat!«

»So schmerzlich das für Sie sein muss, Frau Mickelsen«, erklärt Friedhelm vorsichtig, »aber wir glauben nicht, dass es ein Verrückter war. Dazu war es zu gut vorbereitet: Jemand hat sich das Taxin vorsätzlich beschafft, denn dass jemand Eibengift zufällig mit sich herumträgt, ist sehr unwahrscheinlich. Hatte Ihr Sohn Feinde?«

»Feinde?« Elgard Mickelsen reagiert so aufgelöst wie jeder andere Zeuge, dem diese Frage gestellt wird. »Ich sagte doch, mein Junge war ein wunderbarer Mensch. Er hatte viele Freunde. Er war beliebt bei seinen Mitarbeitern und Kollegen. Er war immer für mich da. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, wer das getan haben soll.«

»Kann er es selbst getan haben?« Die Frage ist heraus, bevor Max darüber nachdenkt, ob er sie stellen soll, aber Elgard Mickelsen schüttelt nur energisch den Kopf: »Niemals! So was hätte er seiner Mutter niemals angetan!« Hält Max eigentlich auch für unwahrscheinlich.

»Hatte er gestern Abend später noch eine andere Verabredung?«, hakt er weiter nach, aber sie zuckt die Achseln. »Weiß ich nicht. Er erzählt mir das nicht immer. Muss er auch nicht, er ist alt genug und kann machen, was er will.«

»Hat er irgendwas über die Dinnerabende erzählt?«, fährt Max fort, und sie antwortet mit kleinem traurigen Lächeln: »Dass es ihm nicht geschmeckt hat. Dabei war er eigentlich ein guter Esser und nicht sehr wählerisch. Aber in dieser Hinsicht habe ich ihn vielleicht ein bisschen zu sehr verwöhnt.«

»Über die Leute, die er dort getroffen hat? Denken Sie genau nach«, bittet Friedhelm, der sich eher weniger für das Essen interessiert. Das tut sie, mit angestrengt gerunzelter Stirn. »Nicht viel … über eine junge Frau, die ein wenig in ihn verliebt gewesen sein soll. Dabei ist sie verheiratet und hat zwei Kinder. Das ist doch ziemlich schamlos, oder?« (Das ist höchstens ein weiterer Beweis dafür, dass Jockel es mit der Wahrheit manchmal nicht so genau genommen hat, denken beide Polizisten gleichzeitig, denn von dieser Geschichte haben sie eine andere Version gehört, die ihnen von vier Personen recht einstimmig erzählt worden ist.) »Jockel hatte aber kein Interesse an ihr. Wenn er eine Frau hätte kennenlernen wollen, dann hätte er dazu genügend Gelegenheit gehabt. Aber er hat einfach nicht die Richtige gefunden. Er war in dieser Hinsicht auch recht anspruchsvoll.«

Friedhelm und Max halten es eher für möglich, dass vor Muttis Augen so schnell keine Frau Gnade gefunden hätte, aber das sagen sie natürlich nicht laut. Max fragt stattdessen: »Hat er erzählt, ob er mal Streit mit dieser Frau hatte?«

»Sie meinen, dass sie gekränkt war, weil er sie hat abblitzen lassen, und dass sie ihn deswegen … Erzählt hat er das zwar nicht, aber Sie haben recht, das wäre eine Möglichkeit. Sie müssen diese Person überprüfen!«, ereifert sich Elgard Mickelsen.

Niemand klärt Mutti darüber auf, dass es in Wirklichkeit umgekehrt gewesen ist. Friedhelm sagt nur knapp: »Das tun wir bereits; wir überprüfen alle Dinnergäste. Frau Mickelsen, eine andere Frage: War Ihr Sohn mal in einen Autounfall verwickelt, als er noch einen Führerschein hatte?«

Elgard sieht ihn verwirrt an: »Mein Junge hatte nie einen Führerschein. Er hat zweimal probiert, ihn zu machen – ihm ist zwischendurch mal das Geld ausgegangen, diese Fahrstunden sind ja wirklich so teuer –, und die theoretische Prüfung hat er im zweiten Anlauf bestanden. Durch die praktische Prüfung ist er beim ersten Mal durchgefallen, aber er wollte noch ein paar Fahrstunden nehmen und es noch mal probieren. Und dann lief ihm während einer Fahrstunde dieser Bengel vors Auto, ohne nach links und rechts zu gucken, er war plötzlich auf der Straße.«

Alarmiert blicken die beiden Beamten auf, Max zückt seinen Füllfederhalter, und Jockels Mutter fährt fort: »Jochen hat vor Schreck das Steuer herumgerissen, und der Wagen ist gegen einen Laternenpfahl geknallt. Der Fahrlehrer hat zwar gleich auf die Bremse getreten, aber es war zu spät, das ging alles so schnell. Der Wagen war völlig verzogen, Totalschaden, und der Fahrlehrer war stocksauer. Dem Kind ist aber nichts weiter passiert, der Bengel ist nur über sein Springseil gestolpert, hingefallen und hat sich das Knie aufgeschrammt. Und hat geflennt, er wollte nicht ins Krankenhaus. Die Anwohner haben erzählt, dass der Kleine schon öfter ohne zu gucken über die Straße marschiert ist, und einmal wurde er angefahren und kam mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Da wollte er selbstverständlich nicht wieder hin. Aber Jochen hat danach so eine Angst gehabt, er konnte sich nicht mehr ans Steuer setzen und hat die Idee mit dem Führerschein sofort aufgegeben. Er brauchte ja keinen, er kam ohne Auto klar.«

Wurde damals die Polizei gerufen?«, erkundigt sich Friedhelm, und sie nickt: »Ja sicher, schon wegen der Versicherung. Das Auto gehörte ja der Fahrschule.«

Mehr Zweckdienliches ist aus Elgard Mickelsen nicht herauszubekommen, aber da die Polizei diesen Unfall damals aufgenommen hatte, kann man die Geschichte von Lieschen Möller, der Assistentin des Kommissariats, wenigstens überprüfen lassen. Lieschen erledigt das gleich, auch sie hat heute Sonderschicht, und wenig später schiebt sie ihren üppigen Busen zur Tür herein und bestätigt sämtliche Angaben von Jockels Mutter.

»Ich glaube nicht, dass er eine Angstpsychose bekam. Ich glaube eher, dass unser guter Jockel mal wieder eine Blamage fürchtete, weil er die Führerscheinprüfung nicht gepackt hätte«, stellt Max zur Disposition. »Aber das traute er sich wohl nicht, den anderen Dinnergästen zu erzählen. Angstpsychose klingt natürlich interessanter. Welchen Zweck sollte diese dumme Lüge denn sonst haben?«

»Ich glaube, Sie haben völlig recht, Herr Kollege«, stimmt Friedhelm bedächtig zu. »Und ich glaube noch etwas anderes: Wenn etwas zu seinem Tod geführt hat, dann die Tatsache, dass der liebe Jockel öfter Gebrauch von solch kleinen blödsinnigen Lügen gemacht hat, einfach um sich in einem besseren Licht darzustellen oder sich nicht eingestehen zu müssen, dass er in Wirklichkeit nichts zuwege brachte. Zum Beispiel, dass er seiner Mutter erzählt hat, Angelique sei in ihn verliebt gewesen, während wir von vier Leuten gehört haben, dass er die ganze Zeit sie angebaggert hat, sie ihn aber nicht ausstehen konnte.«

»Heißt das, Sie verdächtigen Angelique?«, fragt Max, und Friedhelm erwidert nachdenklich: »Hm, Gift ist an sich eine Frauendomäne, also haben Ruth und Angelique bei mir die meisten Stimmen. Obwohl ich mir bei Ruth kein Motiv denken kann. Die Theorie mit dem Kind der Familie Dimic hat sich ja erledigt. Wir fangen wieder von vorn an.«

»Henner hat zwei Söhne, die ungefähr so alt sind wie der Junge damals, und Sven-René ist ebenfalls in dem Alter.« Dass diese These ziemlich lahm ist, merkt Max schon, während er sie ausspricht, und Friedhelm bügelt sie entsprechend ab: »Und wie wahrscheinlich ist die Tatsache, dass man einen Mord begeht, weil man vor zwanzig Jahren mal über sein Springseil gestolpert ist und sich das Knie aufgeschlagen hat?«

»Bolle, deine Freundin Maike ist am Telefon, sie fragt, ob sie mal vorbeikommen kann; ihr ist noch was eingefallen«, tönt Lieschens fröhliche Stimme aus dem Nebenzimmer, und Friedhelm winkt gebieterisch: »Soll herkommen. Unsere junge Kollegin hatte schon ein paar interessante Hinweise für uns, vielleicht kommt noch etwas Verwertbares dabei heraus. Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

Wenig später sitzt Maike Sievert von der Gerichtsmedizin den beiden Beamten gegenüber, die meterlangen Beine übereinandergeschlagen und einen starken Kaffee mit Milch vor sich. »Bolle, du hast doch gesagt, ich soll mich melden, wenn mir noch was einfällt, was mir komisch vorkam. Und da war noch was Komisches.«

»Gestern?«, hakt Friedhelm nach. Maike schüttelt den Kopf: »Nein, am Abend davor, bei diesem älteren tollen Typen. Es ist so, zwischen Vorspeise und Hauptgericht ist der Gastgeber immer etwas länger in der Küche, weil das Hauptgericht meistens etwas zeitaufwändiger zuzubereiten ist. Die anderen Gäste durchstöbern derweil in Grüppchen die Wohnung. Manche sind da richtig ungeniert; ich habe schon gesehen, dass Schubladen mit Unterwäsche durchwühlt wurden. Aber das will ich gar nicht erzählen. Also vorgestern Abend waren Ruth und Sven-René zusammen in Henners Büro. Sie saß auf einem Sofa und blätterte in Fotoalben, das machte sie gern, und er saß am Schreibtisch und wühlte in irgendeinem Fach. Na ja … sie kommentierte ihre Fotos und erzählte ihm eifrig was, aber ich hatte den Eindruck, er hörte ihr gar nicht zu. Er hatte eine Mappe vor sich liegen und starrte die an, und irgendwann merkte Ruth das wohl auch. Sie sagte seinen Namen, aber er reagierte zuerst gar nicht, dann sah er auf einmal auf wie ein ertappter Sünder und stopfte diese Mappe hastig wieder ins Fach.«

»Und das war alles?« Max ist enttäuscht. Maike zuckt die Achseln. »Das war alles. Mir kam Sven-René den Rest des Abends stiller vor als sonst. Aber das kann ich mir auch eingebildet haben, der Junge war sowieso nicht gerade ein Pausenclown.«

»Und wie passt Jockel dahinein? Schließlich wurde der ermordet und nicht Henner«, stellt Friedhelm sachlich fest.

Sie sieht ihn ein wenig von oben herab an. »Das müsst ihr auseinanderklamüsern. Ich habe euch nur erzählt, was mir aufgefallen ist.«

»Waren Jockel und Angelique zusammen unterwegs?«, erkundigt sich Max der Vollständigkeit halber und bietet Lindt feine Täfelchen an. Friedhelm und Maike lehnen ab, er nimmt sich ein Stück Schokolade, und Maike verzieht das Gesicht. »Ja, in Henners Spielzimmer, wenn ich so sagen darf. Das Übliche: Er wollte wieder an ihr rumgrabbeln, und sie war genervt.«

»Mal angenommen, Sven-René hat etwas Gravierendes über Henner herausgefunden … wie bringt uns das weiter?« Max reckt wieder in seiner typischen Geste den Kopf in die Höhe.

Maike schlägt erregt mit der flachen Hand auf den Tisch: »Mal angenommen, Herr Max … Sven-René muss sich jemandem mitteilen. Auf dem Heimweg bietet sich Jockel an, und der könnte versucht haben, Henner zu erpressen. Würde ich ihm jedenfalls zutrauen, er hat doch immer so über sein trauriges Dasein gejammert. Und er war gierig, beim Dinner hat er immer jemandem die Reste vom Teller geputzt oder die Gläser leer getrunken.«

»Bei Henner Kuhlborn hat in der Nacht gegen zwei Uhr jemand geklingelt«, erinnert sich Max, Maikes Fauxpas diesmal überhörend.

Die schüttelt zweifelnd den Kopf: »Haut nicht hin, um zwei weilte euer Kandidat bereits nicht mehr unter den Lebenden.«

»Herr Kuhlborn könnte eine andere Uhrzeit angegeben haben, um uns zu verwirren«, spinnt Friedhelm den Faden weiter. »Andererseits, warum erzählt er uns das überhaupt? Vielleicht haben Nachbarn jemanden bei ihm an der Tür gesehen und ihn darauf angesprochen. Nehmen wir also mal an, Jockel klingelt bei Henner, der lässt ihn herein, spendiert ihm einen Drink …«

»… und versieht den mit Taxin, das er wie wir alle im Apothekerschrank rumliegen hat?«, fragt Maike zweifelnd. »Halte ich für zu weit hergeholt. Es sei denn, Jockel hat Henner schon vorher angesprochen. Schließlich war zwischen den beiden Dinnern noch ein ganzer Tag Zeit, da hätte man sich das Gift beschaffen können.«

Für einen Moment verfallen alle drei in kollektives Grübeln. Dann wendet sich Max an die beiden anderen: »Danke, dass Sie uns das erzählt haben, Frau Kollegin. Herr Kollege, was machen wir aus diesem Hinweis?«

»Wir machen aus diesem Hinweis«, versetzt Friedhelm mit bedächtiger Stimme, »das, was wir aus jedem Hinweis machen: Wir gehen ihm nach. Aber nicht mehr heute. Ich habe die Nase voll, I go home to Mama, und Sie, Herr Kollege, sollten dasselbe tun.«

»Werde ich auch, sonst sagt meine Frau demnächst wieder Sie zu mir, und meine Kinder haben Angst, weil ein fremder Mann in der Wohnung erscheint«, antwortet Max trocken. »Und morgen rufen wir Frau Vidakovic an, richtig?«

»Richtig. Und bitten sie, mit uns zusammen Herrn Kuhlborn einen Besuch abzustatten. Mal sehen, vielleicht kann sie diese ominöse Mappe identifizieren.«