»Was wollen Sie denn schon wieder?« Ruth Vidakovic hat es sich nach dem Frühstück mit einem weiteren Becher Kaffee auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und guckt auf Videotext die Fünf-Tage-Wettervorhersage, als Kommissar Friedhelm Bolle und Kommissaranwärter Max Thomas am Sonntagvormittag bei ihr an der Wohnungstür klingeln. Friedhelm entschuldigt sich: »Tut uns leid, dass wir Sie am Sonntag stören müssen, Frau Vidakovic, aber wir brauchen noch mal Ihre Hilfe.«
»Möchten Sie ’nen Kaffee, wenn Sie schon mal da sind?«, bietet Ruth höflich an und führt die beiden Männer ins Wohnzimmer. Das Angebot wird dankend angenommen, und sie holt zwei Becher Kaffee aus der Küche und stellt Milch und Zucker dazu. Max bedient sich von beidem großzügig und erklärt: »Wir möchten Sie bitten, zusammen mit uns Herrn Kuhlborn einen Besuch abzustatten.«
»Henner? Was wollen Sie denn von dem?« Ruth ist erstaunt, und Friedhelm antwortet bedächtig: »Sie sollen für uns etwas identifizieren. Frau Vidakovic, stimmt es, dass Sie und Herr Meise am Donnerstagabend in Herrn Kuhlborns Büro waren?«
»Woher wissen Sie das denn?« Ruth ist jetzt noch erstaunter, und Max riskiert einen matten Scherz: »Dafür sind wir Polizisten. Wir wissen so was.«
»Höchst schade, dass Sie nicht auch wissen, wer den armen Jockel ermordet hat«, versetzt sie ein wenig sarkastisch, aber Friedhelm lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: »Das versuchen wir ja herauszufinden. Und Sie können uns dabei helfen, indem Sie uns erzählen, was in Herrn Kuhlborns Büro vorgefallen ist.«
»Vorgefallen … Ich habe in Fotoalben geblättert. Schöne Bilder, Boote in verschiedenen Häfen Europas. Und Sven-René hat in Henners Schreibtisch gestöbert und sich irgendwelche Unterlagen angeguckt, glaube ich. Ich habe nicht so genau darauf geachtet.«
»Hat Sven-René einmal merkwürdig reagiert? So als sei er völlig in Gedanken?«
Sie runzelt nachdenklich die Stirn: »Jetzt, wo Sie das sagen … Ich habe geredet, aber ich hatte den Eindruck, als höre er mir gar nicht zu. Er war ganz vertieft in irgendwelche Papiere. Dann habe ich seinen Namen gesagt, und er sah auf … irgendwie, als hätte ich ihn bei etwas ertappt, und dann stopfte er das Zeug zurück in den Schreibtisch und setzte sich zu mir.«
»Sie wissen aber nicht, was das für Papiere waren?«, hakt Max noch einmal nach. Ruth schüttelt den Kopf: »Nein, keine Ahnung. Es war eine Art Mappe aus braunem Kunststoff, glaube ich. Aber ich verstehe nicht, was das mit Jockels Tod zu tun haben soll.«
»Das wissen wir auch noch nicht«, erwidert Friedhelm nachdenklich. »Aber das werden wir vielleicht wissen, wenn wir diese Mappe gefunden haben. Dürfen wir dann mal bitten …?«
Sie will das Wohnzimmer verlassen, um sich umzuziehen, hält aber plötzlich mitten in der Bewegung inne: »Da war etwas … einen Moment lang kam mir das komisch vor, aber es war so eine Kleinigkeit …«
»Am Donnerstagabend?«, fragt Max alarmiert, aber Ruth schüttelt erneut den Kopf: »Nein, am Freitag. Was war denn das nur? Es passierte, nachdem die Dimics gekommen waren, oder war das später? In der Essecke oder im Wohnzimmer? – Irgendwas … Kennen Sie das? Je mehr Sie versuchen, sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, umso mehr entgleitet es Ihnen? – Weg. Ich weiß es nicht mehr. Aber es fällt mir bestimmt wieder ein.«
Die Fahrt von Poppenbüttel nach Rothenbaum legen die drei schweigend zurück. Sie brauchen etwa eine halbe Stunde, vielleicht etwas weniger, weil am Sonntagmorgen kaum Verkehr auf den Straßen herrscht. Die Suche nach einem Parkplatz in der Rothenbaumchaussee gestaltet sich da schon schwieriger, aber schließlich parkt Max den Wagen unweit von Henners feudaler Behausung, und sie klingeln an seiner Tür. Auch Henner scheuchen die beiden Beamten von dessen zweiter Tasse Kaffee auf, die der im Wintergarten einnimmt, aber im Gegensatz zu Ruth bietet er den Besuchern nichts an und reagiert auch sonst nicht sehr zuvorkommend.
»Herrgott, können Sie einen nicht wenigstens am Sonntag in Ruhe lassen? Ruth, was machst du denn hier? Werde ich jetzt verhaftet oder was?« Aber er geleitet die drei trotz seines sichtlichen Unmuts in den opulenten Wintergarten, und Friedhelm entschuldigt sich: »Tut mir leid, wenn wir Sie stören, Herr Kuhlborn, aber dies duldet keinen Aufschub. Dürfen wir Sie bitten, uns in Ihr Büro zu begleiten?«
»Sagen Sie mal, sind Sie von der Kripo oder von der Steuerfahndung?«, platzt Henner ungnädig heraus, aber plötzlich zuckt er die Achseln und macht eine vage Handbewegung: »Ach, was soll´s? Sie marschieren da ja sowieso rein, ob mit oder ohne Durchsuchungsbeschluss. Bitte … ich habe nichts zu verbergen.«
Sie betreten das gemütliche Büro mit dem wohnlichen Durcheinander, und Friedhelm deutet auf den Schreibtisch und erklärt: »Frau Vidakovic und Herr Meise waren am Donnerstag hier. Herr Meise scheint im Schreibtisch eine braune Mappe entdeckt zu haben, in deren Inhalt ihn etwas offensichtlich irritierte. Wir möchten Frau Vidakovic bitten, uns diese Mappe herauszusuchen. Sie haben doch nichts dagegen? Bitte, Frau Vidakovic.«
»Henner, bitte glaub mir, meine Idee war das nicht.« Mit betretenem Gesicht zieht sie gezielt eine Schreibtischtür auf und stöbert hastig in den darin liegenden Stapeln. Henner schüttelt ungläubig den Kopf: »Ruth, dir gebe ich keine Schuld. Aber ich will mal sehen, ob ich das hier auf die Reihe kriege: Sven-René hat etwas Merkwürdiges bei mir entdeckt, und deswegen ist Jockel jetzt tot! Den Zusammenhang muss mir mal jemand erklären.«
»Herr Meise könnte etwas bei Ihnen entdeckt haben«, resümiert Max bedächtig. »Er könnte Herrn Mickelsen davon erzählt haben. Und der könnte versucht haben, Sie zu erpressen.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht!« Ruth sieht empört von ihrer Tätigkeit auf. »Sven-René hätte ihm nie etwas anvertraut. Jockel war ihm genauso unsympathisch wie uns allen.«
»Außerdem ist es völlig absurd, dass ich mich von so einem Würstchen hätte erpressen lassen.« Jetzt wird Henner laut, und Max hakt mit sanfter Stimme nach: »Hätten Sie Herrn Mickelsen denn einen Erpressungsversuch zugetraut?«
»Falls ich so was überhaupt jemandem zutrauen würde, dann Jockel, ja«, versetzt Henner mit Nachdruck. »Er war gierig, und er vermittelte einem ständig das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Aber selbst wenn er das versucht hätte, dem hätte ich die Hammelbeine lang gezogen! Es gibt nichts, womit man mich erpressen könnte. Und selbst wenn, denjenigen würde ich achtkantig an die Luft setzen oder der Polizei übergeben. Umbringen würde ich den jedenfalls nicht. Und wie soll ich mir überhaupt dieses Gift beschafft haben?«
»Im Stadtpark. Wenn Herr Mickelsen Sie bereits am Donnerstagabend oder am Freitagmorgen angesprochen hätte, hätten Sie noch den ganzen Freitag dafür Zeit gehabt«, lenkt Friedhelm ein, und Ruth fährt hoch: »Sie legen sich die Tatsachen wohl immer so zurecht, wie Ihnen das am besten passt, was? Erst verdächtigen Sie meine Freunde, die Jockel nur einmal kurz gesehen haben, und jetzt Henner wegen einer Erpressung, die nie stattgefunden hat.«
»Ihre Freunde, Frau Vidakovic«, beruhigt Friedhelm sie, »stehen nicht mehr unter Verdacht. Wir haben die Geschichte mit Jockels Autounfall geklärt: Dem ist vor zwanzig Jahren ein kleiner Junge vor den Wagen gelaufen. Er hatte aber keine Schuld, und es gab tatsächlich nur Blechschaden. Übrigens passierte dies während einer Fahrstunde, und danach hat Herr Mickelsen die Idee mit dem Führerschein aufgegeben. Er hat in Wirklichkeit nie einen besessen, aber das wollte er wohl nicht zugeben.«
»Ich fasse es nicht, ein dummer kleiner Lügner war unser Jockel also auch«, kommentiert Henner verächtlich, und Friedhelm stimmt zu: »Das war er wohl. Er hat seiner Mutter zum Beispiel erzählt, dass Frau Wienstroh in ihn verliebt gewesen sei und er sie habe abblitzen lassen, während Sie alle berichteten, dass es tatsächlich umgekehrt war. – Frau Vidakovic, bitte lassen Sie sich nicht aufhalten.«
»Unmöglich! Ich glaube, an Angeliques Stelle hätte ich den wirklich umgebracht, so wie der ihr zugesetzt hat!« Schimpfend wendet sich Ruth wieder dem Schreibtisch zu. Henner wird auf einmal sehr nachdenklich: »Jockel war notorisch gierig. Und er war ein notorischer Lügner. Ich glaube so langsam, dass er mit einer dieser beiden Eigenschaften sein vorzeitiges Ende herausgefordert hat, oder was meinen Sie?«
»An dem, was Sie da sagen, könnte etwas dran sein«, stimmt Max zu, Friedhelm und er sind ja selbst ebenfalls auf diese Idee gekommen. In diesem Augenblick zieht Ruth eine braune, zum Platzen mit Papieren gefüllte Kunstledermappe aus dem Fach: »Ich hab sie gefunden.«
Sie legt die Mappe auf den Tisch, und vier Augenpaare blicken gespannt darauf. Bedächtig wendet Friedhelm die Papiere darin, Prospekte von Immobilienmaklern, Fotos von Baustellen, von Richtfesten, von Häusern am Strand, im Gebirge, an Zypressenhainen und blühenden Sommerwiesen. Hochglanzbilder von Villen, Ferienwohnungen und -häusern in ganz Europa. Flyer, Informationsbroschüren, Werbeprospekte.
»Waren Sie mal als Immobilienmakler tätig, Herr Kuhlborn?«, fragt Max. Henner zuckt schlicht die Achseln. »Ich war schon als alles Mögliche tätig. Ich habe Immobilien und Boote verkauft und vermietet. Ich hatte Anteile an einer Diskothek und einem Fitnessstudio. Ich habe mal mit einer Band Musik gemacht. Bloß Tellerwäscher war ich noch nicht. Millionär auch nicht.«
»Henner, großer Gott!« Ruth schnappt auf einmal tief nach Luft und tippt mit dem Finger auf ein Foto in der Mappe. Alle starren darauf und brauchen einen Moment, bevor sie begreifen, was sie da vor sich sehen. Ruth hat vollkommen die Fassung verloren: »Dieses Foto habe ich vor kurzem schon einmal gesehen!«
Ein Mann, verschmitzt, gemütlich. Eine Frau, groß, dünn, rothaarig, sommersprossig. Der Strand von Paguera, die Promenade, das Mittelmeer und Dünen im Hintergrund. Ein kubisches weißes Haus mit einer Richtkrone auf dem flachen Walmdachstuhl. Und darunter der Text: Familie Meise schießt den Vogel ab.
»Das sind Sven-Renés Eltern. Ich habe bei ihm zu Hause auch Fotoalben durchgeblättert«, sagt sie leise, und Henner erwidert wie betäubt: »Meine Güte, das ist so lange her … Ich wusste gar nicht, dass ich das noch habe.«
»Du hast ihnen dieses Haus vermittelt, ja?«, fährt sie ungläubig fort. Die beiden Polizisten durchschauen noch nicht alle Zusammenhänge, aber sie registrieren verblüfft, dass sich Henner wie erschlagen auf das königsblaue Sofa sinken lässt. »Es waren Kunden, zwei unter vielen. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen.«
»Was ist passiert?«, fragt Friedhelm ruhig. Ruth erklärt es ihnen: »Sven-René hat es uns erzählt: Seine Eltern sind nach Mallorca ausgewandert, um da ein Haus zu bauen und ein Restaurant zu eröffnen. Nach zwei Jahren wollte man ihnen das Grundstück für einen Spottpreis abkaufen. Sie verloren alles und kamen zurück nach Deutschland. Sein Vater wurde wenig später krank und starb. Ich glaube, Sven-René hatte ihn sehr lieb.«
»Der arme Junge.« Henner sieht aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Ich könnte verstehen, wenn er versucht hätte … Moment! Ich könnte verstehen, wenn er versucht hätte, mich umzubringen, aber wieso Jockel?? Was zum Teufel ist da passiert?!«
Plötzlich holt er tief Luft und sieht aus, als sei ihm eben ein Gedanke gekommen, und Ruth schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund, als habe sie gleichzeitig dieselbe Idee. Sie murmelt wie betäubt: »Meine Güte, Henner! Natürlich. Der Wein.«