Freitag: Ruth

Früchtezauber

Das Menü:

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Garnelen im Gemüsesud

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Hasenkeule mit Kräutergnocchi und zweierlei Salaten

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Crêpes mit Meloneneis und exotischen Früchten

»Hallo-o, immer herein, je mehr, je besser.« Mit ihrer üblichen Wärme und Fröhlichkeit in der Stimme bittet Ruth das Team von VOX in ihre Wohnung und sorgt für eine angenehme Überraschung: Die Wohnung befindet sich in einer Siedlung der SAGA, aber die Häuser wurden vor kurzem frisch und in fröhlichen Farben renoviert. Auch Ruths Wohnung strahlt nicht das übliche SAGA-Ambiente aus; sie ist schick, hell und mit geschmackvollen Möbeln eingerichtet. Ruth erklärt: »Natürlich verdienen mein Mann und ich nicht schlecht und haben normalerweise keinen Anspruch mehr auf diese Wohnung. Aber wir haben eine Ausgleichsabgabe gezahlt. Wir wollen hier nicht mehr ausziehen; unser Kind ist hier aufgewachsen, und wir fühlen uns hier wohl.«

Nanu, es klingelt erneut, aber Ruth ist nicht überrascht. Sie lässt eine junge Frau herein, von ähnlicher Statur wie sie selbst, aber mit dunkleren rötlichen, längeren Haaren: Ruths Tochter Nicola. Sie begrüßen sich mit Küsschen: »Hallo-o, mein Mäuschen, schön, dass du hier bist!«

»Früchtezauber! Und wieso dann Fisch? Ich mag keinen Fisch!« Jockel verzieht das Gesicht beim ersten Blick auf die Menüfolge. Er sitzt mit Sven-René auf einer Bank im Park am Alsterlauf und hat keinen Blick für blühende Bäume und Anemonen. Sven-René zupft die Karte ein wenig zu sich her und grinst erheitert: »Mein lieber Jockel, Garnelen sind nicht Fisch, sondern Meeresfrüchte, und das ist durchaus stimmig. Der rote Faden ist da.«

»Du meinst wegen der Früchte?« Jockel rümpft die Nase. »Das ist mir alles viel zu gesund. Salat mit Erdbeeren, Salat mit Pfirsichen … Ruth weiß doch, dass ich kein rohes Obst vertrage. Und was sind Knottschis?«

»Gnocchi«, verbessert Sven-René, eins ums andere Mal amüsiert, »also Nockerln, vermutlich aus Kartoffeln. Und vermutlich macht sie die selbst. Übrigens, wenn die Früchte in den Salaten mariniert sind, sind die neutralisiert, und das ruft dann auch keine allergischen Reaktionen bei dir hervor, Jockel, da mach dir mal keine Sorgen.«

Da es auch beim Einkaufen nicht verboten ist, sich helfen zu lassen, machen Mutter und Tochter erst mal einen Bummel in den Feinkost-Supermarkt in Fußmarschweite. In Kürze ist dort der Einkaufswagen gefüllt mit Erdbeeren, Pfirsichen, Bananen, Kiwis, Melonen, Papayas, Mangos und Lidschis … Früchtezauber eben, aber es kommen auch Kartoffeln, Hasenkeulen, Wein und eine Kiste Mineralwasser hinzu. Nicola verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen und staubt noch einige Lebensmittel ab, die sie selbst benötigt, und hinterher ist der Wagen so vollgepackt, dass sie ihn der Einfachheit halber komplett nach Hause schieben, dort ausladen und danach gleich wieder zurückbringen.

»Ich freue mich ja so, dass sich auch mal jemand traut, etwas aus dem Meer zuzubereiten.« Anerkennend schiebt Henner die Menükarte zu Angelique hinüber. Beide sitzen draußen vor einem Eiscafé in der Innenstadt und trinken ein Mineralwasser. Angelique leckt sich die Lippen. »Garnelen im Gemüsesud klingt lecker. Hasenkeule mit Bananen auch.«

»Die Salate können durchaus raffiniert sein«, erklärt Henner, »und die Gnocchi und das Eis und die Crêpes für das Dessert macht die Ruth wahrscheinlich selber. Dies ist ein ziemlich aufwändiges Menü, da muss die Ruth einiges à la minute hinkriegen. Traue ich ihr aber zu.«

»Hm, einiges kann man bestimmt auch vorbereiten«, vermutet Angelique. »Trotzdem, das ist mal was ganz anderes, zwar ein Themenmenü, aber keiner bestimmten Region zuzuordnen. Ich hätte gewettet, sie kocht serbisch. Ist sie nicht mit einem Serben verheiratet?«

»Ein serbisches Menü wollte ich nicht machen, das eignet sich nicht für ein perfektes Dinner«, erklärt Ruth. Sie hat tatsächlich schon einiges vorbereitet: Die Garnelen marinieren mit Olivenöl, Knoblauch und feinen Zwiebelwürfeln vor sich hin, das selbstgemachte Meloneneis wird noch mal durchgerührt und kaltgestellt, und auch der Obstsalat muss noch eine gute Weile durchziehen. Trotzdem gibt es noch genug zu tun: Ruth kocht Kartoffeln, gießt sie ab und lässt sie auskühlen, drückt sie durch die Presse und stellt daraus mit Kräutern, Salz und Mehl den Teig für die Gnocchi her, den sie dann in Alufolie rollt.

Derweil schnippelt Nicola Salate, Bleichsellerie, Erdbeeren und Pfirsiche für die Beilagen und Suppengrün für die Vorspeise. Ruth fährt fort: »Außerdem hatten wir erst ein griechisches Dinner, das ist ähnlich wie serbisch. Meine Rezepte stammen alle von den Weight Watchers, und ich wollte zeigen, dass man auch aus leichter Küche ein perfektes Dinner zubereiten kann. Vielleicht gelingt es mir ja.«

Sie mixt die beiden Salatdressings zusammen und fährt fort: »Aber wir können auch anders. Wir kochen alle gern in unserer Familie. Leider essen wir auch alle gern. Mein Mann kocht häufig schon sehr gehaltvoll. – So, dann wollen wir mal in die Essecke …«

Über die lange dunkle Tafel wird eine weiße Tischdecke gebreitet und darauf roséfarbene Platzteller, Gläser und Bestecke eingedeckt. Gegenüber vom Kopfende wird eine Schale mit Frühjahrsblumen und Zweigen platziert (»Aus dem eigenen Garten«, erklärt Ruth stolz), und mittig auf dem Tisch entlang, vom Kopf- zum anderen Ende, schlängeln sich Apfel- und Kirschblütenzweige. Ruth betrachtet prüfend ihr und Nicolas Werk: »Das lassen wir so. Manchmal ist weniger mehr.«

»Tschüss, Mäuschen, und vielen Dank! Ich rufe dich an.« Ruth verabschiedet sich mit Küsschen von ihrer Tochter und begibt sich ins Bad: »Ich springe noch mal unter die Dusche, bevor die Gäste kommen …«

Und die kommen, heute gleich alle vier auf einmal: Angelique in heller Hose und buntgeblümter Bluse, Sven-René in heller Hose, dunklem Hemd und offener Weste, Henner in schwarzer Hose mit weißem Hemd und Fliege und Jockel in Jeans, gestreiftem Hemd und ohne Fliege.

»Hallo-o, kommt herein! Schön, dass ihr da seid!« Die Gastgeberin selbst trägt ein schwarzes, mit bunten Blumen bedrucktes, ärmelloses Kleid, und alle begrüßen sie mit leichter Umarmung und Küsschen auf die Wange und bedanken sich für die Einladung. Sie folgen ihr ins Wohnzimmer, das mit hellen Wänden, cremefarbener Sitzgarnitur und einem riesigen Mahagonischrank sehr hell, groß und einladend aussieht, und nehmen Platz. Ruth öffnet zur Feier des Tages eine Flasche Champagner und kredenzt selbstgebackenes Brot mit einem selbstgemachten Kräuterdip dazu: »Auf euer Wohl, ihr Lieben … und auf unseren letzten Dinnerabend!«

Kommentar von Sven-René: »Das hatte Richtung! Garnelen als Vorspeise … und Champagner als Aperitif. Der Snack war auch lecker. Und selbstgemacht. Das passt. Ruth hat Klasse. Ich habe das Gefühl, das wird ein runder Abend.«

Nachdem die Gastgeberin dann ihre Gäste in die Essecke geleitet hat, geht sie in die Küche, um die Vorspeise zuzubereiten: Sie dünstet die Garnelen mit dem feingewürfelten Suppengrün an, löscht sie mit Weißwein, Tomatenmark und Sahne ab und lässt sie noch ein wenig köcheln, während sie das selbstgebackene Brot schneidet. Dann kommen die Meeresfrüchte in tiefe Teller, ein guter Schuss Gemüsesud dazu und je ein üppiger Zweig Bleichselleriegrün als Dekoration, schon ist der erste Gang servierbereit. Dazu gibt es Mineralwasser und eine Flasche Cinque Terre: »Habe ich mir empfehlen lassen.«

»Da hast du dir was Gutes empfehlen lassen, Mädel, ligurischer Weißwein passt auf jeden Fall zu Meeresfrüchten«, versetzt Henner wohlwollend. Nachdem nun auch die Getränkefrage gelöst ist, beginnt Angelique mit der Konversation: »Ruth, wo ist denn dein Mann heute Abend?«

Ruth nippt an ihrem Weinglas: »Nasko ist in Serbien geboren, wie ihr wisst, und sehr engagiert in der orthodoxen Kirchengemeinde. In der Kirche ist am Wochenende eine Veranstaltung, und er hilft heute bei den Vorbereitungen.«

»Und was machst du so, wenn du nicht kochst?«, fragt Sven-René. Sie antwortet: »Ich bin als Buchhalterin tätig, aber Ende nächsten Jahres gehe ich in den Vorruhestand.«

»Ach, da freust du dich bestimmt schon, oder?« Angelique strahlt sie an. Ruth macht ein ratloses Gesicht: »Du, einerseits ja, weil mein Mann danach auch nur noch ein Jahr lang arbeiten muss. Aber ich verlasse die Firma mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich fühle mich da wohl, und diese täglichen Herausforderungen werden mir fehlen.«

»Och, ist doch schön, morgens ausschlafen …« Eine typische Jockel-Aussage, der, obwohl er vorher verkündet hat, dass er keine Meeresfrüchte (Pardon, das war ja Fisch) mag, seiner Portion wieder hinreichend den Garaus gemacht hat. Henner, der mit seinen Garnelen auch keine Probleme zu haben scheint, erwidert: »Ruth, ich kann mir nicht vorstellen, dass du in ein tiefes Loch fällst, wenn du mal nicht mehr zur Arbeit gehst.«

»Ich an sich auch nicht: Wir haben den Garten, wir haben viele Bekannte und ständig was um die Ohren, und wer weiß, vielleicht kaufen wir uns noch mal ein Haus in Serbien …« Ruth nimmt es leicht, und mit diesen rosigen Zukunftsaussichten endet der erste Gang des letzten Dinners.

Kommentar von Henner: »Der Tisch sah perfekt aus, passte zum Thema des Menüs und war nicht überladen. Ich wollte auch erst was mit Fisch oder Meeresfrüchten machen, dachte mir aber, das ist nicht jedermanns Sache. Glückwunsch zu diesem Mut, und die Vorspeise ist der Ruth echt gelungen. Das Rezept werde ich mir mal von ihr geben lassen. Auch unser Jockel hat sein Tellerchen leer gegessen … na, das macht der ja immer. Er hat auch recht, man soll nichts umkommen lassen.«

Ruth sticht derweil in der Küche Gnocchi von ihren vorbereiteten Teigrollen ab und gart sie in Salzwasser, schöpft sie ab und lässt sie trocknen. Die Hasenkeulen kommen aus dem Ofen, der Sud wird mit Tomatenmark, feingewürfelten Zwiebeln, Rumaroma, Weinessig und Zucker eingekocht. Den Teig für die Crêpes rührt sie auch noch an.

Unser Jockel geht mit Sven-René in Ruths Wohnung auf Tournee und landet mit ihm im ehelichen Schlafgemach, das sich mit großzügigen hellen Möbeln dem Rest der Wohnung anpasst. Ungeniert öffnet er eine Schranktür und fischt eine Jeans heraus, eine Hüfthose mit Schlag, ein rückenfreies Sonnentop, einen Minirock und ein paar klobige Turnschuhe. »Kannst du dir vorstellen, dass Ruth so was trägt?«

»Jockel, du Dussel, ich stelle mir vor, dass Ruths Tochter so was trägt«, prustet Sven-René amüsiert. Er hat sich auf das fröhlich bunt bezogene Bett gesetzt … im Gegensatz zu Angelique läuft er hier wohl keine Gefahr, attackiert zu werden. Jockel sieht ihn an wie ein Schaf: »Meinst du? Ihre Tochter? Ich denke, die wohnt nicht mehr zu Hause.«

»Vielleicht hat sie keinen Platz in ihrer Wohnung«, vermutet Sven-René. »Wenn sie vor kurzem erst ausgezogen ist und noch studiert, kann sie sich wahrscheinlich keine Riesenhütte leisten. Ich weiß, wovon ich rede, ich studiere schließlich selber.«

Kommentar von Jockel: »Ziemlich abgehoben, die Truppe. Alle haben studiert oder lassen ihre Kinder studieren, alle haben Kohle ohne Ende … Ich glaube, Ruths Mann ist ein braver, ehrlicher Arbeiter, aber wohnen tun auch die ziemlich fein. Champagner als Aperitif fand ich übertrieben. Und diese Gummidinger als Vorspeise … na, das war nicht schlecht. Aber ich sagte ja schon, ich mag keinen Fisch.«

Wir begleiten Angelique und Henner auf einen Streifzug in Nicolas ehemaliges Kinderzimmer. Ein Tisch mit Computer steht da, ein Korb mit Bügelwäsche, ein einladender Fernsehsessel, ein kleiner Fernseher und ein Schrank. Angeliques Augen leuchten verständnisvoll. »Hast du auch so ein Zimmer, Henner? Ich finde, so was braucht jeder Haushalt, da kann man mal die Tür hinter sich zu machen, bügeln, was aufbewahren, die Füße auf den Tisch legen …«

»Was haben wir denn hier?« Henner zieht vorsichtig die Tür von der Schrankvitrine auf: »Guck mal, Ruths Schatzkästchen, Souvenirs aus aller Herren Länder: Sand von Gran Canaria, weiche Steinbrocken aus der Türkei, Schmuck von Sri Lanka, Muscheln aus der Dominikanischen … Unsere Ruth verreist auch gerne. Du, die Frau würde ich sofort mal auf einen Segeltörn um die Welt mitnehmen.«

»Dann komme ich aber auch mit!«, schmettert Angelique und stupst ihn an, und Henner stupst galant zurück: »Versprochen.«

In der Küche gehen die Präliminarien für den zweiten Gang ins Land. Ruth besitzt große weiße Teller mit kleinen Trennwänden, so dass sie das Hauptgericht wie ein Gesicht anrichten kann: Rot und grün leuchtet das linke Auge aus Erdbeer-Salatherzen, gelb und grün das rechte aus Eisbergsalat mit Pfirsichspalten. In der Mitte sitzt eine dicke Nase aus Hasenkeule im eigenen Sud mit Bananenscheiben, und eine Reihe grinsend weißer Gnocchi, mit heißer Butter gekrönt, dient als Mund. Mehr Dekoration ist nicht notwendig, und die Gäste würdigen dieses farbenfrohe Ensemble mit ehrfürchtigen Ahs und Ohs. Dazu gibt es Mineralwasser und einen Grumello. Henner kennt natürlich auch diesen Wein und murmelt: »Erdbeeraroma, passt.«

»Jockel, um die Früchte brauchst du dir keine Sorgen machen«, erklärt Ruth. (Macht er nicht, Sven-René hat ihn in dieser Hinsicht bereits aufgeklärt.) »Die sind mariniert, die lösen bei dir keine Allergie aus. Für deinen Obstsalat musste ich allerdings auf Früchte aus der Dose zurückgreifen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.«

»Ruth, dir könnte ich nie böse sein«, versichert Jockel glaubhaft. Er fällt mal wieder über sein Hauptgericht her, als hätte er tagelang gefastet. Angelique verdreht genießerisch die Augen. »Ruth, was ist das für ein Dressing an dem Eisbergsalat?«

»Ganz einfach: Pfirsichsaft, Zitrone, Öl, Weißwein, Rosmarin, Zimt und Zucker. Das Rezept ist original Weight Watchers«, bekennt diese schlicht, und Henner versichert: »Leicht und raffiniert zugleich. Liebe Freunde, Abnehmen kann auch Spaß machen!«

Plötzlich klingelt es an der Wohnungstür. Ruth erhebt sich entschuldigend: »Das tut mir jetzt leid. Ich habe noch ein paar Freunde eingeladen, die euch ein wenig unterhalten sollen. Die scheinen zu früh zu sein. Wollt ihr mich kurz entschuldigen?«

Sie geht zur Tür und ist wenig später wieder da, mit einem gutmütig aussehenden Mann mit dunklen Locken und buschigem Schnurrbart, einer kleinen barocken Frau mit dickem dunklen, hochgesteckten Zopf und großen dunklen Augen und einem drahtigen jungen Mann um Mitte zwanzig mit kurzem schwarzen Schopf und randloser Brille. Diese Familie ist recht atavistisch gekleidet, vermutlich Serben, und sie grüßen mit leisen warmen Stimmen: »Dobro vece.«

»Das sind Mladan und Vedrana Dimic und ihr Sohn Stefan. Ich bringe sie ins Wohnzimmer und bin gleich wieder da.« Ruth entfernt sich kurz, serviert ihren Freunden offenbar noch etwas zu trinken und ist wenig später wieder bei ihren Gästen. Henner hat ein gutes Namensgedächtnis: »Mladan und Vedrana … hast du nicht gestern erst von denen erzählt? Vedrana, die ein Kind bei einem Autounfall verloren hat?«

»Das sind sie«, bestätigt Ruth. »Mladan ist auch sehr stark bei der orthodoxen Kirche engagiert, aber in einer anderen Gemeinde als mein Mann, sonst hätten sie heute nicht kommen können. Möchte noch jemand eine Hasenkeule?«

Alle lehnen dankend ab und weisen auf ihre Teller, die bis auf ein paar Krümel fast wieder makellos weiß sind. Nur Sven-René hat noch etwas Fleisch mit Bananen und zwei Gnocchi vor sich liegen und entschuldigt sich, wobei er mit der Gabel etwas Hasensud auf die bis eben noch blütenweiße Tischdecke wedelt. »Das war bestimmt der interessanteste Hase, den ich je gegessen habe, aber so wie dein Dessert klingt, sollte ich dafür lieber noch Platz lassen.«

»Du, bevor das wegkommt …« Jockel richtet bereits sehnsüchtige Blicke nach gegenüber, und Sven-René tauscht gutmütig den Teller mit ihm: »Hast ja recht, es ist zu schade.«

Kommentar von Angelique: »Das war so ein schöner Abend bis jetzt, der Champagner, die Garnelen, und das Hauptgericht mit diesen ganzen Früchten und raffinierten Salaten war echt grandios. Hoffentlich wird es jetzt nicht traurig, ich meine … das ist so ein grausames Schicksal, was dieser Familie da passiert ist. Ich hoffe, sie machen keine schwermütige Musik.«

»Möchte noch jemand ein Glas Wein?«, bietet Ruth höflich an. Angelique und Sven-René lehnen dankend ab, Henner und Jockel möchten noch. Ruth schenkt großzügig nach, Henner nimmt einen kleinen Schluck, und Jockel gurgelt gleich das ganze Glas hinunter, während er den Rest des Hauptgerichts in geflissentlicher Eile dessen natürlicher Bestimmung zuführt.

Danach führt Ruth ihre Gäste ins Wohnzimmer, wo die Mitglieder der Familie Dimic einen Mokka und ein Mineralwasser vor sich stehen und einen wahren Bauchladen an Instrumenten um sich gestapelt haben: eine Rhythmusgitarre, eine Trommel und eine Geige. Und jetzt sehen die Gäste auch, dass die serbischen Besucher mit einer Art Bauerntracht bekleidet sich: Vater und Sohn tragen weiße Hosen mit besticktem Saum, darüber eine Art weißen Kittel mit pludrigen Ärmeln und bestickter Brust, dazu eine farbenfrohe Schärpe, eine bestickte Weste und eine Kappe auf dem Kopf. Vedrana trägt ein langes weißes Kleid mit weitem Rock und weiten Ärmeln, und die Kappe über ihrem dichten hochgesteckten Haar, der Gürtel und der üppige Halsschmuck sind mit großen Pailletten bestickt.

»Ich habe heute zwar kein serbisches Dinner zubereitet«, führt Ruth die Darbietung ein, »aber ein wenig aus der Heimat meines Mannes möchte ich euch doch bieten. Möchte jemand eine Juliska

Das passt jetzt, finden alle. Ruth schenkt acht Schnäpse in zierliche kleine Flakons ein, und die Dimics und die Dinnergäste prosten einander zu: »Zivjeli!«

Ruth fährt fort: »Wie ich euch schon sagte, Familie Dimic findet Trost in der Musik. Mladan und Vedrana kommen aus Serbien, aber sie werden uns jetzt ein paar Lieder vortragen von einer Gruppe aus Bosnien-Herzegowina, die ihr möglicherweise nicht kennt, die aber im ganzen jugoslawischen Raum von Jung und Alt gehört wird: Hari Mata Hari.«

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, erklärt zu jedermanns Erstaunen der Kulturbanause Jockel, aber Henner kann dieses Irgendwie natürlich noch präzisieren: »Die waren vor ein paar Jahren Dritte beim Eurovision Song Contest. Schöne Musik.«

Stefan klopft auf die Trommel, Vedrana spielt Geige, und Mladan spielt Gitarre und singt mit schöner getragener Stimme in einer fremdartig klingenden Sprache:

»Ruzmarin, nema kome da mirise,

uzalud je da procvjeta …«

Orientalisch klingt das, sehnsüchtig, Fernweh weckend. Das nächste Lied ist fröhlich, lädt zum Mitsingen ein, und die Dinnergäste wiegen leicht mit den Hüften, wippen mit den Füßen und klopfen sich leise mit den Händen auf die Oberschenkel.

»Bas ti ljepo stoje suze ali nemoj plakati,

zasto bisere un blato nocas bacas ti …«

Der dritte Beitrag beginnt mit der wie schwebend klingenden Geige, kraftvoll gesellen sich die Gitarre und Mladans volltönende Stimme dazu. Die Gäste schnappen nach Luft, und Henner murmelt: »Jetzt sind meine innigsten Gebete erhört worden.«

»Golube, moj golube, nosi joj suze mjesto pjesme.

Ja odlazim ko da sam kriv …«

Lejla, der soeben von Henner genannte erfolgreiche Grand-Prix-Beitrag. Angelique und Sven-René stehen Tränen in den Augen, die von Henner leuchten, und Jockel sitzt da mit offenem Mund, als wolle er Fliegen schnappen. Kurze betäubte Pause nach dem Ende des dritten Liedes, dann tosender Applaus und Standing Ovations. Familie Dimic schultert ihre Instrumente und verabschiedet sich fröhlich winkend: »Dovidenja, prijatelji, laku noc!«

Kommentar von Henner: »Den Abend kannst du nicht mehr toppen, das Ding ist gelaufen! Das Essen war schon oberklasse, aber diese Gratwanderung, in ein Weight-Watchers-Früchte-Menü doch noch so was Fremdartiges wie diese Serbentruppe einzuflechten und eine Juliska zu servieren, das nötigt mir Hochachtung ab! Und dann auch noch Lejla …«

Kommentar von Sven-René: »Ruth ist die perfekte Gastgeberin, fröhlich, aufmerksam, natürlich. Das Essen war bis jetzt klasse, ein Augenschmaus, raffiniert, Lean Cuisine, total mein Geschmack … Aber was sie uns beim Essen an schwer Verdaulichem vorenthalten hat, das hat sie mit dem Beitrag von dieser serbischen Familie wieder wettgemacht. Das war schwere Kost, dramatisch, sehr exotisch, teilweise traurig … aber schön, das gebe ich zu.«

Die Gäste finden sich zum unwiderruflich letzten Gang dieser Dinnerwoche wieder in der Essecke ein, und Ruth erkundigt sich: »Ich dachte, wir könnten vielleicht einen Mokka …«

»Das wäre toll.« Angelique spricht allen aus der Seele, und Ruth serviert binnen kurzem jedem ein zierliches Henkelglas mit zierlichem Löffelchen, ein starkes, süßes aromatisches Gebräu. Alle nippen ehrfürchtig daran, bevor Ruth wieder in die Küche verschwindet. Henner lässt den Mokka genießerisch über die Zunge rollen: »Hmm, da steht der Löffel drin!«

Mit stoischer Ruhe handhabt Ruth den letzten Gang ihres Dinners: Sie bäckt hauchdünne Pfannkuchen, lädt sie auf schwarze Teller, deren Ränder mit Puderzucker bestäubt sind, und klappt sie halb zusammen, füllt je eine gehörige Portion Meloneneis darauf und rollt die Crêpes auf, so dass sie wie Tüten auf den Tellern liegen; um die Tütenspitzen gruppiert sie dekorativ bunte Früchte, die sie zuvor in Orangen- und Lidschisaft mit einigen Tropfen Bittermandelöl mariniert hat. Ein Zweig Zitronenmelisse über jede Tüte, und das Dessert ist servierbereit … nur dass Jockels Teller mit Lidschis und Mango aus der Dose nicht ganz so bunt leuchtet wie die anderen Desserts, in denen außerdem noch Würfel von Melone, Papaya und Kiwi und dunkle Weintrauben enthalten sind.

Erneute Ahs und Ohs, als Ruth das Dessert auf den Tisch bringt. Alle haben indessen ihrem Mokka den Garaus gemacht und wenden sich nun einigermaßen zögerlich dem letzten Gang zu. Angelique spricht aus, was alle denken: »Das sieht so schön aus … Das muss ich erst mal auf mich wirken lassen, bevor ich dieses Kunststück zerstöre.«

»Meloneneis mit ganzen Früchten?« Sven-René grinst, und alle prusten los. Aber dann fallen alle Hemmungen und die Gäste mit Dessertbesteck über die Kunstwerke her. Jockel intoniert mit vollem Mund: »Die Musik war geil, hatte ’n bisschen was von griechisch. Nette harmonische Familie.«

»Könnte noch harmonischer sein, wenn das Kind damals nicht umgekommen wäre. Oder könntest du mit so einem Schicksal leben, Jockel?«, pariert Angelique ein wenig bissig, und der reagiert konsterniert und ziemlich heftig: »Könnte ich nicht, muss ich auch nicht. Ich habe noch kein Kind verloren. Und bei meinem Unfall damals gab es nur Blechschaden, liebe Angelique, falls du das vergessen haben solltest.«

»Du, Ruth, Angelique und ich haben, glaube ich, so eine Art Souvenirschrank bei dir gefunden«, leitet jetzt Henner die Konversation wieder in friedliche Bahnen um. Ruth wirkt direkt ein wenig verlegen: »Ach, mit diesem ganzen kitschigen Zeug darin?«

»Du, kitschig ist nicht das Zeug selbst, sondern höchstens die Beziehung, die man dazu hat«, wird sie von Angelique belehrt, und Ruth grinst in die Runde: »Dann ist es kein Kitsch. Ich habe eine innige Beziehung zu allem, was mich an unsere Urlaube erinnert. – Henner, ich habe gestern Fotos bei dir gesehen von Schiffen in europäischen Häfen, da kriegte ich so richtig Fernweh. Ich musste an dieses Lied von Achim Reichel denken.«

»Ich weiß, welches du meinst.« Henner fängt an zu singen, und Ruth stimmt mit ein:

»Ich hab die ganze Welt gesehn von Singapur bis Aberdeen.

Doch wenn ihr mich fragt, wo’s am schönsten war,

dann würd ich sagen: Sansibar …«

Sven-René schunkelt wie ein betrunkener Seemann und schwenkt sein Wasserglas:

»Der Steuermann hatte Matrosen am Mast,

und den Zahlenmeister ham die Gonokokken vernascht …

aber sonst war’n wir bei bester Gesundheit!«

Plötzlich knallt er mit dem Knie gegen die Tischkante und lässt vor Schreck sein Glas fallen. Dieses kippt über die Tischdecke, federt elegant auf Sven-Renés Bein ab und landet dann unbeschadet auf dem Teppich. Aber eine Wasserlache ergießt sich vom Tisch über Sven-Renés Hose und den Stuhl und tropft auf den Fußboden. Er springt mit feuerrotem Kopf auf, und Angelique verdreht die Augen. »Sven-René, manchmal bist du ein solcher Esel!«

»Herrgott, Ruth, tut mir so leid«, stammelt der Unglücksrabe. Sie hat schon ein Tuch aus der Küche geholt und tupft den Tisch und die Sitzfläche ab, während sie ihn tröstet: »Ist doch nur Wasser, das gibt keine Weinflecken. Willst du dir kurz im Bad mit einem Handtuch …?«

Sven-René trottet ergeben davon, und die Gastgeberin wirft einen prüfenden Blick über perfekt leer gegessene Dessertteller. »Ich habe noch Eis, möchte noch jemand?« (Jockel natürlich, und sie holt ihm Nachschlag aus der Küche.) »Jemand noch Wein oder eine Juliska

Wird dankend abgelehnt. Henner legt die Hand wie entschuldigend über sein noch halbvolles Weinglas. »Vielleicht bei der Preisverteilung, aber ich glaube, heute trinke ich nichts mehr.«

»Zum Wegschütten ist das aber zu schade«, findet Jockel und hat die Hand bereits nach dem Glas ausgestreckt. Henner überlässt es ihm gottergeben, und Jockel stülpt den Wein in einem Zug hinunter. Wenig später ist auch Sven-René wieder da, mit noch feuchtem Hosenbein, sonst aber auch wunschlos glücklich.

Kommentar von Angelique: »Zuerst dachte ich, Sven-René hätte nur bei seinem eigenen Dinner dauernd was verschüttet, weil er nervös war, aber dem passiert so was ja ständig. Mich würde der zum Wahnsinn treiben, aber Ruth bewahrt natürlich auch in so einer Situation die Ruhe.«

Kommentar von Jockel: »Das war schon ziemlich nahe an einem perfekten Dinner. Das Essen war okay, besonders das Dessert, und ich fand es auch gut, dass ich noch Eis nachbekommen habe. Aber diese ganzen Früchte waren nicht mein Ding. Und Fisch mag ich auch nicht.«

Ruths Küche sieht inzwischen aus, als hätte ein Tornado darin gewütet, aber sie wirft nur einen gelassenen Blick auf diese Stätte der Verwüstung und erklärt ruhig: »Die Teller sind leer. Ich würde sagen, den Gästen hat es geschmeckt. Ich glaube, das ist mir gelungen.«

Und was glauben die Gäste, an Punkten vergeben zu können?

Angelique: »War schon recht nahe an einem perfekten Dinner. Die Deko stimmte, Ruth war eine tolle Gastgeberin, die Getränke passten. Die Garnelen waren super und das Dessert traumhaft. Das mit den Früchten beim Hauptgericht war mir ’n bisschen viel, und diese Salate waren nicht besonders aufwändig.« (Ach, auf einmal? Waren die vorhin nicht besonders raffiniert gewesen?) »Ich gebe der Ruth neun Punkte.«

Sven-René: »Das war in jeder Hinsicht spitze. Das Essen war klasse, die Getränke stimmten, und wo Henner gestern ein bisschen überstylt war, war Ruth einfach sie selbst, ruhig, herzlich, gastfreundlich … die perfekte Gastgeberin eben. Zehn Punkte für meine Lieblingsruth.«

Jockel: »Ja, war schon ganz okay, auch reichlich. Die Vorspeise war nicht so meins.« (Nicht? Und warum hast du dann alles aufgegessen? Ach so, zum Wegschütten war es wohl zu schade?) »Und dieses ganze Obst hat doch in einem Hauptgericht nichts zu suchen. Ich meine, entweder ich esse zu Abend oder ich trinke Kaffee. Aber die Musik fand ich schön. Also acht Punkte bekommt die Ruth von mir schon.«

Henner: »Das war das perfekte Dinner! Das Essen war ein kulinarischer Orgasmus, die Deko war schön, und die Getränke waren gut abgestimmt; die Musik von der Familie Dimic hat mir sehr gut gefallen, und die Ruth war als Gastgeberin einsame Spitze! Tolle Frau, das ist zehn Punkte wert.«

Zweimal zehn, einmal neun und einmal acht macht insgesamt 37 Punkte, und damit steht das Ergebnis fest. Die heutige Gastgeberin hat das perfekte Dinner gewonnen.

Die Spannung steigt, als Ruth wieder die Essecke betritt, in den Händen einen Metallteller, auf dem eine Haube die ersehnten Briefumschläge versteckt. Die Gäste trommeln mit dem Zeigefinger auf die Tischdecke und geben Geräusche von sich wie eine Rakete beim Karneval in Köln: »Didi-didi-didi-dit … hoi, hoi, hoi, hoi …«

»So, ihr Lieben, es ist so weit. Zeigt her eure Punkte!« Ruth nimmt die Haube herunter und reicht jedem seinen Umschlag. Die Gäste ziehen die Papiere mit den Ergebnissen heraus und zeigen sie zu den Tischnachbarn herum.

Angelique: »Fünfundzwanzig, vorletzter Platz … Ganz okay finde ich das nicht. Ich habe schließlich nicht so viel Zeit wie die anderen, ich habe doch auch noch meine beiden Töchter, um die ich mich kümmern muss. Das hätte man bei der Bewertung ja schließlich mal berücksichtigen können.«

Sven-René: »Neunundzwanzig? Die goldene Mitte? Damit habe ich nicht gerechnet. Irgendwas muss ich richtig gemacht haben. Scheint mir ein faires Ergebnis zu sein.«

Jockel: »Neunzehn! Nicht mal die Hälfte? Der letzte Platz … Damit habe ich nicht gerechnet. Ich meine, gegen die Menüs von Henner und Sven-René war mein Dinner doch deutlich besser!«

Henner: »Vierunddreißig, Silbermedaille. Das geht in Ordnung. Den ersten Platz hat die Ruth verdient, hundertprozentig!«

Ruth: »Ach … siebenunddreißig Punkte?! Das fasse ich nicht! Ihr habt mich zur Dinnerkönigin gekürt? Danke, danke schön, meine Lieben, da freue ich mich aber! Danke schön für eine tolle und spannende Dinnerwoche! Es hat Spaß gemacht mit euch … und ich verspreche euch, ich lade euch noch mal ganz feudal zum Essen ein. Mit Partnern, falls vorhanden. Aber nicht in den nächsten Wochen. Ab morgen wird gefastet!«

So endet auch der letzte Dinnerabend. Ruth verschiebt den Gedanken an den Tornado in ihrer Küche und hat sich gerade mit einem Glas Grumello aufs Sofa geflegelt, als die Tür klappt und Nasko Vidakovic das Wohnzimmer betritt, ein großer Mann mit gemütlicher Figur, dunklen Locken und einem Bart in einem gutmütigen Gesicht. Er begrüßt seine Frau mit dunkler Stimme und weichem Dialekt: »Hallo, mein Schatz, hast du schöne Abend gehabt?«

»Nasko, mein Schatz!« Ruth begrüßt ihren Mann mit Küsschen. »Ich bin einfach nur noch platt. Klar Schiff mache ich morgen. Komm, hol dir ein Glas Wein und setz dich zu mir, dann erzähle ich dir, wie es war …«