Sonntag:

Lokaltermin bei Ruth

»Ich habe am Kopfende gesessen«, erklärt Ruth. Nachdem sie das verhängnisvolle Foto in Henners Büro entdeckt hat, sind Kommissar Friedhelm Bolle und Kommissaranwärter Max Thomas mit ihr und Henner wieder nach Poppenbüttel gefahren und befinden sich jetzt in der Essecke, in der am Freitag das Dinner eingenommen wurde. Ruth ist nämlich wieder diese Kleinigkeit eingefallen, die ihr an jenem Abend so merkwürdig vorkam, die sie aber gleich wieder vergessen hatte. Sie demonstriert, was sie meint: »Links von mir saß Angelique, neben ihr Sven-René. Rechts von mir saß Henner, dann Jockel. Hinter den beiden Männern ist der Durchgang zum Flur, also auch zum Wohnzimmer.«

Sie holt tief Luft und fährt fort: »Ich habe Jockel und Henner noch einmal Wein nachgeschenkt. Jockel hat sein Glas gleich leer getrunken, Henner hat nur einen kleinen Schluck genommen. Dann habe ich die Gäste ins Wohnzimmer gebeten. Sehen Sie, es ist doch so, normalerweise geht man immer den kürzesten Weg, ganz instinktiv. Das heißt, ich stand auf und wendete mich nach rechts, Jockel und Henner standen auf und drehten sich nur um, und Angelique ging nach rechts, also am Kopfende des Tisches vorbei, um die Essecke zu verlassen. Normal wäre es gewesen, wenn Sven-René nach links um das andere Ende des Tisches gegangen wäre. Tat er aber nicht, er folgte Angelique den längeren Weg um das Kopfende herum und war als Letzter im Wohnzimmer. Das habe ich flüchtig registriert, aber ich habe mich nur kurz darüber gewundert und es gleich wieder vergessen, es war doch so unbedeutend …«

»Sie meinen, Sven-René ging absichtlich am Kopfende des Tisches entlang, weil rechts daneben das Glas von Herrn Kuhlborn stand und er bei dieser Gelegenheit das vorbereitete Gift dort eingeschenkt hat?«, fragt der Kommissar. Ihm ist nichts Menschliches fremd. Henner nickt. »Es kann nicht anders gewesen sein. Das wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, und ein Motiv hatte Sven-René immerhin.«

»Und dann hat Jockel Ihr Glas leer getrunken, Herr Kuhlborn?«, fragt der Kommissaranwärter. Henner fährt sich wütend mit der Hand über den Kopf: »Wir haben doch gesagt, Jockel war gierig und ein Lügner, und eine dieser beiden Eigenschaften hat ihm das Genick gebrochen. Die Gier war’s! Als wir wieder zurück in die Essecke kamen, fragte Ruth, ob noch jemand was trinken möchte. Wollte aber keiner. Ich hatte auch keinen Appetit mehr auf meinen Wein. Also fragte Jockel, ob er ihn austrinken könne. Das machte der dauernd, anderen den Teller leer essen oder das Glas leer trinken, das kannten wir schon.«

»Aber glauben Sie wirklich, Sven-René hätte zugelassen, dass Jockel statt Herr Kuhlborn den vergifteten Wein trinkt?« Bei Max melden sich leise Zweifel.

Ruth schüttelt den Kopf. »Nein, das war ja das Tragische. Sven-René hat es nicht mitgekriegt. Er hatte sich ein Glas Wasser über die Hose gekippt – er kleckerte dauernd mit irgendwas – und ging ins Bad, um sich abzutrocknen. Als er wiederkam, war das Glas leer, und er hat natürlich gedacht, Henner hätte den Wein ausgetrunken. Ich bin überzeugt, wenn er am Tisch gesessen hätte, hätte er irgendwie verhindert, dass Jockel aus dem Glas trinkt. Er hätte den Wein verschüttet oder was weiß ich, das wäre bei ihm überhaupt nicht aufgefallen.«

»Von Ihnen allen«, bemerkt Friedhelm nachdenklich, »war Herr Meise am meisten erschüttert über Herrn Mickelsens Tod. Wir dachten erst alle, weil er noch so jung und sensibel ist. In Wirklichkeit war er wohl hauptsächlich über die Tatsache erschüttert, dass es nicht Herr Kuhlborn, sondern Jockel war, der ums Leben kam.«

»Dann war Sven-René wohl auch mein Klingelgespenst«, folgert Henner nachdenklich, und Max stimmt zu: »Das passt. Er wollte sich wohl vergewissern, dass das Gift auch gewirkt hat, und als Sie nicht an die Tür kamen, muss er angenommen haben, dass sein Plan geklappt hatte.«

»Der arme Junge.« Ruth wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich weiß, es war Mord, aber er tut mir so leid, unser Küken. Ich fand ihn immer so rührend, so tollpatschig. Werden Sie ihn jetzt festnehmen, oder was machen Sie mit ihm?«

»Wir werden ihn zu einem Gespräch aufs Präsidium bitten«, erklärt Friedhelm bedächtig.

Nachdem die beiden Beamten die gepflegte Poppenbüttler Wohnung verlassen haben, raunt er Max zu: »Aber wir postieren zwei Streifenhörnchen vor dem Haus. Und wir nehmen unsere Spezialarmbänder mit. Ich rufe den Staatsanwalt an, der freut sich bestimmt.«

Als Sven-René die Tür zu seiner großzügigen Studentenbude öffnet und Max und Friedhelm davor erblickt, senkt er die Augen und fährt sich niedergeschlagen mit der Hand übers Haar. »Sie wissen es, nicht wahr?«

»Wat hest di dorbi dacht, mien Söhn?« Friedhelm schlägt einen geradezu väterlichen Tonfall an, während sie die Wohnung betreten.

Sven-René lässt sich in eins der zahlreichen Sesselchen im Wohnzimmer fallen und schlägt die Hände vors Gesicht. »Es tut mir so leid, ich wollte doch Jockel nicht umbringen! Ich bringe doch keine Menschen um!«

»Sie wollten Herrn Kuhlborn umbringen«, stellt Max sachlich fest. Der baumlange Student fängt trocken an zu weinen. »Das ist was anderes, der hätte das verdient! Dieser Arsch! Der geht doch über Leichen, Hauptsache, seine Kohle stimmt! Warum hat er meine Eltern nicht gewarnt? Die hatten alles verloren, verstehen Sie, alles, und mein Vater war ein gebrochener Mann danach. Aber selbst jetzt ist dieses Schwein wieder davongekommen … Ich bin doch zu blöd. Selbst zum Morden bin ich zu blöd. Na los, nehmen Sie mich schon mit!«

»Henner, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte einen Sljivovice vertragen. Möchtest du auch einen?« Ruth ist völlig erschüttert. Henner nickt, und sie schenkt zwei Schnäpse ein. Er hebt sein Glas und erklärt mit belegter Stimme: »Ungewöhnliche Ereignisse erfordern manchmal ungewöhnliche Maßnahmen. Zivjeli!«

»Das war so eine Kette unglücklicher Umstände.« Ruth nippt an ihrem Glas. »Wenn Sven-René dieses Foto nicht gefunden hätte … Wenn Jockel nicht dein Glas leer getrunken hätte … Wenn Sven-René sich nicht Wasser über die Hose gekippt hätte …«

»Hör bloß auf.« Henner kippt den Schnaps hastig hinunter. »Ich fühle mich schuldig. Ich war es, der sterben sollte. Und ich hätte es verdient. Was meinst du, soll ich mich für Sven-René um einen guten Anwalt kümmern, der …«

»Henner, mach das nicht!«, gebietet sie eindringlich. »Er würde nicht wollen, dass du dich jetzt auch noch als Wohltäter aufschwingst. Wenn du allerdings irgendwelche Fäden im Hintergrund ziehen kannst, wäre das okay.«

»Hallo, mein Schatz!« Plötzlich steht Ruths Mann in der Tür, begrüßt sie mit Küsschen und gibt Henner freundlich die Hand: »Hallo, ich bin Nasko. Also, wir sagen mal du, ja?«

»Super, Nasko, ich bin der Henner«, grüßt der herzlich zurück. Nasko merkt aber schon, dass Ruth und ihr Gast dasitzen wie die begossenen Pudel. Fragend greift er nach der Karaffe mit Sljivovice. »Ruth, ist das Dinnergast von dir? Darf ich noch ein bisschen Heimatverbundenheit einschenken? Habt ihr Dinnermörder gefasst?«

»Haben wir, mein Schatz.« Ruth zieht Nasko neben sich aufs Sofa. »Es ist ganz furchtbar. Komm, ich erzähle dir …«

»Ich habe gerade mit Arne gesprochen.« Grinsend klappt Friedhelm Bolle sein Handy wieder zu. Die Rede ist von Arne Göransson, dem Staatsanwalt, und Friedhelm berichtet weiter: »Er ist sehr zufrieden, dass wir den Fall so schnell aufklären konnten. Er hatte natürlich Angst, VOX würde jetzt der Hamburger Polizei die Hölle heißmachen.«

Er sitzt mit Max in einem sonnigen Biergarten und trinkt mit ihm zum glücklichen Abschluss der Ermittlungen ein Alsterwasser – ungewöhnliche Ereignisse erfordern manchmal ungewöhnliche Maßnahmen. Max nimmt einen herzhaften Zug aus seinem Glas und stellt nüchtern fest: »Nur dass streng genommen nicht wir es waren, die diesen Fall aufgeklärt haben.«

»Sondern?« Friedhelm balanciert seinen Humpen in Brusthöhe und sieht den Kollegen fragend an.

Max starrt nachdenklich in sein Bierglas. »Eine freundliche Dinnerkönigin, der man zwar ihre Reinlichkeit zum Vorwurf machen kann, die das aber durch ihre Leidenschaft für fremde Fotoalben wieder mehr als wettgemacht hat. Und eine junge ausgeschlafene Gerichtsmedizinerin mit einem Faible für Seifenopern, perfekte Dinners, Krimis von Agatha Christie und einer scharfen Beobachtungsgabe. Neue Frauen braucht das Land, Herr Kollege … Diese beiden Damen waren uns eine große Hilfe, und wenn wir die nicht gehabt hätten, dann wäre diese bizarre Geschichte vermutlich jetzt noch nicht zu Ende