Es war im sechzehnten Jahrhundert, als sich in den Sälen, Palästen und herrschaftlichen Häusern Europas die Zeugnisse einer kuriosen neuen Mode auszubreiten begannen. Bei diesen Zeugnissen handelte es sich um spezielle Sammlungen, die häufig in kunstvoll verzierten Holzkästen oder -schränken aufbewahrt und Wunderkammern genannt wurden. Der Name »Wunderkammer« spiegelt den Zweck dieser Sammlungen wider: Es war durchaus erwünscht, dass die Leute die in den Holzkästen ausgestellten Gegenstände in die Hand nahmen, sie anfassten, um sich persönlich von deren Beschaffenheit und Gewicht zu überzeugen und sie in ihrer ganzen Merkwürdigkeit zu befühlen. Nichts davon befand sich hinter Glas, wie es in heutigen Museen und Galerien üblich ist. Auch — und das ist vielleicht noch wichtiger — waren die Sammlungen nicht nach den museumskundlichen Gesichtspunkten geordnet, die heute eine Rolle spielen. In den Fächern der Wunderkammern tummelten sich natürliche und künstliche Gegenstände in enger Nachbarschaft: Korallenstücke, Fossilien, ethnografische Artefakte, Kleidung, Miniaturgemälde, Musikinstrumente, Spiegel, präparierte Vögel und Fische, Insekten, Gesteine, Federn. Das Wundern oder Staunen, das diese Sammlungen hervorriefen, wurzelte zum Teil in der Art und Weise, wie die Inhalte der Fächer trotz ihrer jeweiligen Andersartigkeit in Beziehung zueinander traten, durch ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Form, ihre Schönheit und ihre augenscheinliche Obskurität. Ich hoffe, dieses Buch funktioniert ein wenig wie eine Wunderkammer. Es steckt voller seltsamer Dinge und beschäftigt sich mit der Eigenschaft des Staunens.
Irgendjemand hat einmal gesagt, dass jeder Schriftsteller ein bestimmtes Thema hat, das unterschwellig allem, was dieser Schriftsteller schreibt, zugrunde liegt. Das kann Liebe oder Tod sein, Verrat oder Zugehörigkeit, Heimat oder Hoffnung oder Vertreibung. Ich denke, dass mein Thema die Liebe ist, und zwar in allererster Linie die Liebe zur schillernden Welt des nichtmenschlichen Lebens um uns herum. Bevor ich zu schreiben anfing, war ich Wissenschaftshistorikerin, eine wirklich erhellende Beschäftigung. Im Allgemeinen halten wir die Wissenschaft für die reine, objektive Wahrheit, doch natürlich sind die Fragen, die sie der Welt gestellt hat, im Stillen und oft noch nicht einmal sichtbar von Geschichte, Kultur und Gesellschaft gefärbt worden. Meine Arbeit als Wissenschaftshistorikerin hat mir gezeigt, dass wir die Natur unbewusst und unausweichlich immer als Spiegel unserer selbst gesehen haben, der nur unsere eigene Sicht der Dinge, unsere eigenen Bedürfnisse, Gedanken und Hoffnungen reflektiert. Viele der Essays in diesem Buch sind Übungen im Hinterfragen solcher menschlicher Zuschreibungen und Annahmen. Am meisten hoffe ich jedoch, mit ihnen zu etwas beizutragen, das mir im gegenwärtigen Augenblick unserer Geschichte von höchster Bedeutung zu sein scheint: zum Finden von Möglichkeiten, Verschiedenheit anzuerkennen und lieben zu lernen. Zum Versuch, die Welt mit den Augen anderer zu sehen, damit uns klar wird, dass unsere Art zu sehen nicht die einzige ist. Darüber nachzudenken, was es bedeuten könnte, diejenigen, die nicht wie wir sind, zu lieben. Sich an der Komplexität der Dinge zu erfreuen.
Die Wissenschaft ermutigt uns dazu, über die Größe unseres eigenen Lebens im Verhältnis zur unermesslichen Weite des Universums oder zur verblüffenden Vielzahl an Mikroben in unserem Körper nachzudenken. Und sie enthüllt uns einen Planeten, der so wunderschön und beharrlich nicht menschlich ist. Es war die Wissenschaft, die mich lehrte, dass die Züge von zig Millionen Vögeln über Europa und Afrika — Linien auf der Karte, gezeichnet in Linien aus Federn, Sternenlicht und Knochen — außergewöhnlicher und erstaunlicher sind, als ich es mir je hätte träumen lassen. Denn diese Geschöpfe navigieren, indem sie das Magnetfeld der Erde durch das Aufspüren einer Quantenverschränkung, die in den Rezeptorzellen ihrer Augen stattfindet, für sich sichtbar machen. Die Wissenschaft tut nichts anderes als das, was die Literatur meiner Ansicht nach öfter tun sollte: Sie zeigt uns, dass wir in einer exquisit vielschichtigen Welt leben, in der es nicht ausschließlich um uns geht. Die nicht uns allein gehört — nie gehört hat.
Für die Umwelt sind die Zeiten alles andere als rosig. Wir müssen heute mehr als jemals zuvor einen langen und genauen Blick darauf werfen, wie wir die Natur sehen und mit ihr interagieren. Wir sind derzeit Zeuge des sechsten großen Aussterbens in der Weltgeschichte, eines Aussterbens, das wir selbst verursacht haben. Mit jedem Jahr, das vergeht, werden die Landschaften um uns herum leerer und stiller. Wir brauchen harte wissenschaftliche Fakten zu Geschwindigkeit und Ausmaß dieses Verschwindens, um herauszufinden, warum es geschieht und wie wir es verzögern können. Dazu aber brauchen wir auch die Literatur, denn nur durch sie können wir kommunizieren, was die Verluste für uns bedeuten. Ich denke da zum Beispiel an den Waldlaubsänger, einen kleinen, zitrusfarbenen Vogel, der in britischen Wäldern kaum mehr zu finden ist. Es ist das eine, Statistiken über den raschen Niedergang der Spezies aufzustellen. Etwas ganz anderes ist es, den Menschen zu vermitteln, was Waldlaubsänger sind und was ihr Verlust bedeutet, wenn aus dem Erleben eines Walds, der voller Licht und Blätter und Gesang ist, ohne Waldlaubsänger etwas weniger Komplexes, weniger Magisches, wenn dieses Erleben einfach weniger wird. Die Literatur kann uns die qualitative Beschaffenheit der Welt lehren. Und wir sind darauf angewiesen, dass sie das tut. Wir müssen den Wert der Dinge in Worte fassen, damit vielleicht mehr Menschen dafür kämpfen, diese Dinge zu bewahren.