Ich bin verwirrt. Ich stehe mit meinem Freund an einem niedrigen Stacheldrahtzaun im Schatten einer Edelkastanie. Herbstliche Wälder sind still: nur das durchsickernde Säuseln einer kleinen Brise über uns und ein Rotkehlchen, das in einem Stechpalmenstrauch Geräusche tröpfelnden Wassers macht.
Ich weiß nicht recht, was ich erwarten soll, denn ich weiß nicht, warum ich hier bin. Der Junge sagte, er würde mir etwas zeigen, das ich im Wald noch nie gesehen hätte — was ich mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. Aber da stehen wir nun. Er pfeift und ruft, pfeift noch einmal. Nichts passiert. Dann aber passiert doch etwas: ein kurzer, gleich wieder verpuffender Augenblick, als sich in sechzig, siebzig Metern Entfernung etwas rasch zwischen den Bäumen hindurch bewegt, und dann der Eber. Der Eber. Der Eber.
Damals im Kino bei Jurassic Park geschah etwas Unerwartetes, als der erste Dinosaurier auf der Leinwand erschien: Ich spürte einen enormen hoffnungsvollen Druck in meiner Brust, während sich meine Augen mit Tränen füllten. Es war wie ein Wunder: Etwas, das ich seit meiner Kindheit unzählige Male irgendwo abgebildet gesehen hatte, war zum Leben erwacht. Etwas ganz Ähnliches geschah jetzt, und es berührte mich genauso wie der Dinosaurier damals. Ich habe in meinem Leben schon viele Bilder von Ebern gesehen: rasierklingenbuckelige Bestien auf griechischen Keramiken, Holzschnitte aus dem sechzehnten Jahrhundert, Trophäenfotografien von Jägern aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, die sich mit Gewehren in der Hand auf ihre Beute knien, Tuschezeichnungen des Erymanthischen Ebers in meinem Buch mit griechischen Mythen und Legenden. Einige Tiere sind aufgrund der Tatsache, dass sie nur in unserer Vorstellung existieren, Fabelwesen, darunter etwa Basilisken, Drachen und Einhörner. Andere wie Löwen, Tiger, Geparden, Leoparden und Bären waren einst ebenso reich an mythologischen Konnotationen, sind uns heute aber schon so lange ausgesetzt, dass ihre früheren Bedeutungen von neueren überschwemmt wurden. Um sie ranken sich mittlerweile moderne Mythen. Für mich allerdings gehören Eber noch immer in diese älteren Geschichten; sie sind noch immer ein Sinnbild, noch immer bedeutungsgeladen und überaus seltsam. Und da war nun einer, ins wirkliche Leben gerufen.
Die Kreatur war nicht, was ich erwartete, trotz ihrer Andeutung von Vertrautheit. Sie besaß die bedrohlich nach vorn gestemmten Schultern eines Pavians und die brutale Kraft und schwarze Haut eines Bären. Dennoch war sie nicht wirklich wie ein Bär und — das überraschte mich am meisten — schon gar nicht wie ein Schwein. Als das Tier zu uns herüber trottete, ein wahres Wunder an Muskeln, Borsten und Masse, drehte ich mich zu dem Jungen um und sagte verblüfft: »Es ist gar nicht wie ein Schwein!« Der Junge grinste in vollster Zufriedenheit und entgegnete: »Nein. Das sind sie wirklich nicht.«
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten gedeihen frei herumlaufende Wildschweine in den Wäldern Großbritanniens. Sie sind die Abkömmlinge von Tieren, die man um ihres Fleischs willen gezüchtet hatte und die aus der Gefangenschaft geflohen oder absichtlich freigelassen worden waren. Auch auf dem gesamten europäischen Festland steigt die Anzahl der anpassungs- und widerstandsfähigen Wildschweine, ebenso wie an Orten, die weit außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets liegen. Dieses Verbreitungsgebiet umfasst ganz Eurasien von Großbritannien bis nach Japan. Seit der Einführung von Ebern in New Hampshire in den 1890er-Jahren wurden eberähnliche wilde Schweine bislang in mindestens fünfundvierzig Staaten der USA gesichtet. Zu ihren britischen Hochburgen gehören Sussex, Kent und der Forest of Dean in Gloucestershire, ein historisches Jagdgebiet, das in dem Film Star Wars: Das Erwachen der Macht als Double für den Planeten Außerirdischer diente. Im Jahr 2004 hatte man sechzig auf einem Bauernhof aufgezogene Tiere heimlich und illegal hier ausgesetzt; elf Jahre später ließen nächtliche Überwachungen per Wärmebildkamera vermuten, dass sich die Population in der Zwischenzeit auf über tausend Wildschweine erhöht hatte.
Ich habe vor einigen Jahren in der Nähe dieses Walds gewohnt und mich auf die Suche nach den Tieren begeben. Meine Beweggründe waren mehr als lediglich naturkundliche Neugier: Durch die Anwesenheit der Wildschweine hatte ich das Gefühl, so etwas wie den Urwald längst vergangener Zeiten zu betreten. Gesehen habe ich sie nie, auch wenn sie unzweifelhaft da gewesen waren, wie die tiefen Furchen und die aufgewühlte Erde der Waldpfade und grasbewachsenen Wegränder bewiesen, wo die Tiere nach Nahrung gesucht hatten. Wildschweine sind Gartenbauingenieure, die die Ökologie ihrer Wälder verändern. Ihre Suhlkuhlen füllen sich mit Regenwasser und werden zu Teichen für Libellenlarven, die Samen und Kletten, die sich in ihrem Fell verfangen, werden in alle Winkel des Waldes getragen, und ihr Herumwühlen im Boden formt die Vielfalt der Pflanzengemeinschaften im Wald.
Das Wissen, dass in dem Wald, durch den ich ging, Wildschweine lebten, lud die englische Landschaft zudem mit einer neuen und ungewohnten Möglichkeit auf: mit der Möglichkeit der Gefahr. Wildschweine, vor allem ferkelnde Muttertiere, die ihre Jungen beschützen wollen, können recht aggressiv werden und Eindringlinge angreifen. Seit Wildschweine in den Forest of Dean zurückgekehrt sind, gibt es immer wieder Berichte von Spaziergängern, die durch den Wald gejagt werden, von aufgespießten Hunden und von Pferden, die auf vertrauten Pfaden plötzlich Nervosität zeigen. Und so schenkte ich auf meinem Spaziergang meiner Umgebung denn auch eine Art von Aufmerksamkeit, die ich ihr noch nie zuvor gezollt hatte: Ich lauschte angestrengt und ängstlich auf das leiseste Geräusch und suchte das Unterholz nach auch nur den kleinsten Bewegungen ab. Das machte den Wald zu einem wilderen Ort, in einem gewissen Sinn aber auch weitaus »normaler«, ist der Konflikt zwischen Menschen und gefährlichen Wildtieren in vielen Teilen der Welt doch etwas ganz Alltägliches. In Indien und Afrika etwa ist es beinahe an der Tagesordnung, dass Elefanten die Ernte niedertrampeln, und in Florida verspeisen Alligatoren gern auch mal Haushunde. In Großbritannien sind Wölfe, Bären, Luchse und Wildschweine schon längst durch die Jagd ausgerottet, weshalb wir vergessen haben, wie es sich Seite an Seite mit Wildtieren lebt.
Der Eber, der mir am Zaun entgegenkam, stellte keine Gefahr dar. Er lebte in Gefangenschaft als eines der wenigen Wildschweine, die sich ein ortsansässiger Wildhüter hielt. Er befand sich sicher hinter Stacheldraht, löste in mir jedoch die brennende Frage nach meinem Platz in der Welt aus. Das Geschöpf vor mir war eines der halb legendenhaften Tiere, die direkt aus der mittelalterlichen Literatur, die ich an der Uni gelesen hatte, auf mich zustürmten: die gejagte Beute aus Sir Gawain und der Grüne Ritter sowie Malorys König Arthur und die Ritter der Tafelrunde, Wesen, die für ihre furchterregende Wildheit und Stärke berühmt waren. In den mittelalterlichen Romanzen galten Eber als Herausforderung der Männlichkeit und die Jagd auf sie als Prüfung des Durchhaltevermögens und der Tapferkeit. Treffen wir das erste Mal auf bestimmte Tiere, erwarten wir von ihnen, dass sie den Geschichten, die wir über sie gehört haben, entsprechen. Allerdings ist das nie, niemals ganz der Fall. Der Eber war immer noch eine Überraschung. Alle Tiere sind es.
Die Geschichte unserer Angst, dass wilde Tiere in unser Revier eindringen, ist lang. Bereits im siebzehnten Jahrhundert empfahl der englische »Gartenautor« William Lawson seinen Lesern Werkzeuge, mit deren Hilfe sie ihr Anwesen frei von marodierenden Bestien halten könnten: einen »ansehnlichen und flinken Windhund, einen Balester [eine Kugelarmbrust], eine Muskete und, falls nötig, einen Apfel mit Haken für Hirsche«. Da sich die Anwohner bezüglich der von den Gloucestershire-Wildschweinen ausgehenden Gefahr Sorgen machten, hat die Forestry Commission, die britische Forstwirtschaftsbehörde, einige Anstrengungen unternommen, die Population der Tiere im Forest of Dean zu minimieren: 2014 und 2015 wurden dort dreihunderteinundsechzig Wildschweine geschossen, ungeachtet der Jagdgegneraktivisten, die versuchten, sich den Jägern in den Weg zu stellen, um die Wildstandsregelung zu verhindern. Der Streit über den Umgang mit den englischen Wildschweinpopulationen verweist auf die widersprüchlichen Weisen, in denen wir Tiere und deren gesellschaftliche Nutzungen sehen. So können Wölfe Viehräuber sein oder als Symbol für die unberührte Wildnis stehen, und der Fleckenkauz kann als an sich wichtiger Bewohner urwüchsiger Wälder oder als Ärgernis gesehen werden, das Abholzungen einschränkt und Lebensunterhalte bedroht. Solche Tiere werden zu Stellvertretern unserer eigenen Kämpfe um soziale und ökonomische Ressourcen.
Werden Tiere so selten, dass man ihre Auswirkungen auf den Menschen vernachlässigen kann, dann nimmt ihre Fähigkeit, neue Bedeutungen hervorzubringen, ab. Und genau dann stehen sie für eine weitere menschliche Vorstellung: unsere moralischen Schwächen im Hinblick auf unsere Beziehung zur Natur. Allein in meinem bisherigen Leben ist der Welt die Hälfte ihrer Tiere verloren gegangen. Der Klimawandel, der Verlust des Lebensraums, die Umweltverschmutzung, Pestizide und die Verfolgung durch den Menschen haben dazu geführt, dass Wirbeltierarten mehr als hundert Mal schneller aussterben, als sie es in einer Welt ohne Menschen tun würden. Der einzelne Eber, der da zwischen den Bäumen auftauchte, fühlte sich wie ein Hoffnungsschimmer an; ich fragte mich, ob der Schaden, den wir der Natur angetan haben, nicht doch reversibel sein könnte und ob Tiere, die bedroht oder an manchen Orten sogar bereits ausgestorben sind, eines Tages vielleicht zurückkehren würden.
So vieles an dieser Begegnung berührte mich: nicht nur die Fleischwerdung einer Tierikone, sondern auch die Erkenntnis, dass es auf der Welt eine bestimmte Art von Intelligenz gibt: die Wildschweinintelligenz, das Wildschweinempfindungsvermögen. Und wenn man von einem Bewusstsein betrachtet wird, das nicht menschlich ist, wird man unweigerlich dazu gezwungen, die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu überdenken. Als der Eber zu mir hinaufsah, war es offensichtlich, dass mein Wissen über diese Tiere begrenzt ist, und erst jetzt, Gesicht an Schnauze mit einem echten Wildschwein, das seine Augen auf meine heftete, dachte ich über die wahre Natur des Wildschweins nach und seltsamerweise auch darüber, was es wohl von mir dachte. Ich hatte den Eber in meine mediävistischen Erinnerungen eingepasst, doch mein Freund, der früher geboxt hat, bewunderte die Statur des Tiers. Sprach von seinen säbelförmigen, rasierklingenscharfen Hauern. Den kurzen Beinen und dem Hinterteil, die gemeinsam die ungeheure Muskelmasse des vorderen Endes steuern. Der offenkundigen, Furcht einflößenden Kraft.
Während mein Freund sprach, drückte sich der Eber gegen den Zaun und schnaubte laut durch die feuchten Nasenlöcher. Vorschnell streckte ich die Hand nach ihm aus. Er sah mich direkt an, ließ seine roten Wildschweinaugen über mich schweifen und schnaubte erneut. Ich zog die Hand zurück. Nach einer Weile ließ ich sie wieder sinken. Der Eber stand auf. Er gestattete es mir, meine Finger sanft in das Fell über seinem gewölbten schwarzen Rücken zu schieben. Er fühlte sich an wie eine Haarbürste mit zu vielen Borsten, die anstatt auf Holz auf dicken Muskeln ruhten. Unter den Deckhaaren konnte ich Wollhaare spüren. »Er wird bald sein Winterfell bekommen«, sagte der Junge. »Fünfzehn Zentimeter lange Grannenhaare.« Ich kratzte dem Tier den breiten Buckel und spürte, als die Sekunden vergingen, wie sich in seinem Herzen eine winzige Ader der Aggression bemerkbar zu machen begann. Ich habe gelernt, Ahnungen wie diesen nicht zu misstrauen. Plötzlich beschlossen wir beide, dass wir genug hatten, ich mit kurz aussetzendem Herzschlag, er grunzend und eine Bewegung antäuschend.
Das Tier trottete davon, sank auf die Knie, die Schnauze nah am Boden, ließ sich dann in aller Seelenruhe nieder und rollte sich auf die Seite. Schauer liefen über seine Haut. Ich war verzückt. Trotz meines Interesses an ihm war ich dem Eber so langweilig geworden, dass er einfach weggegangen war.