Von einem hohen Aussichtspunkt in der Nähe eines spektakulären, dreistufigen Wasserfalls im australischen Blue-Mountains-Nationalpark aus spiegeln die Gipfel in weiter Ferne Sonnenlicht wider, das durch den Dunst duftender Eukalyptusterpene fällt; das Licht hat sie in ein ausgebleichtes und staubiges Blau verwandelt. Zu meinen Füßen fällt das Land zu einem Urwald graziler, hellrindiger Bäume hin ab, der sich so weit das Auge reicht erstreckt. Weiter oben am Hang gedeihen langbeinige Sträucher, deren Blüten bunten Plastiklockenwicklern ähneln: Banksien, glaube ich. Als im Laubwerk unten ein kleiner Vogel auftaucht, nehme ich ihn mit meinem Fernglas ins Visier. Er ist weiß, schwarz und stechend gelb, hat Augen wie winzige Silbermünzen und putzt sich den nach unten gebogenen Schnabel an einem Gestrüppast mit schilfigen Blättern. Was das für ein Strauch ist, weiß ich nicht, und was das für ein Vogel ist, könnte ich auch nicht mit Sicherheit sagen. Möglicherweise ein Honigfresser, doch ich bin mir bei nichts sicher, jedenfalls nicht ganz. Nicht hier. Die Luft riecht schwach nach altem Papier und etwas, das entfernt an Kerosin erinnert. Ich fühle mich verloren und sehr fern der Heimat.
Ich bin in einem Haus voller naturkundlicher Bestimmungsbücher aufgewachsen, alles, von Lockets und Millidges 1951 erschienenem zweibändigem Führer zu den Spinnen Großbritanniens mit seinen haarigen, vieläugigen Strichzeichnungen bis zu illustrierten Büchern über Bäume, Pilze, Orchideen, Fische und Schnecken. Diese Bücher waren die unangefochtenen Autoritäten meiner Kindheit. Ich staunte über die Namen, die Insektenkundler Nachtfaltern gegeben hatten — über den Augen-Eulenspinner, den Grauen Gürtelpuppenspanner, den Gilbweiderich-Wellenrandspanner —, und versuchte, ihre Beschreibungen mit den unscheinbar grauen lebenden Exemplaren, die ich an einem kühlen Sommermorgen hin und wieder an den Wänden der Veranda fand, in Einklang zu bringen. Herauszufinden, was was war, fühlte sich oft wie der Versuch an, ein widerspenstiges Kreuzworträtsel zu lösen, vor allem wenn es dabei um das Lernen von Fachbegriffen wie Scopulae oder Thalli ging. Je mehr Tiere und Pflanzen ich kannte, desto größer, komplexer und doch vertrauter wurde die Welt um mich herum.
Es dauerte lange, bis ich verstand, dass selbst die einfachsten Bestimmungsbücher alles andere als durchsichtige Fenster zur Natur sind. Man muss lernen, sie gegen den Strich der unordentlichen Wirklichkeit zu lesen. Draußen in der Natur sehen wir Vögel und Insekten meist nur kurz, aus einiger Entfernung, bei schlechten Lichtverhältnissen oder halb von Laub verdeckt; sie haben keinerlei Ähnlichkeit mit den tabellarischen Anordnungen der Zeichnungen in Bestimmungsbüchern, die ähnliche Spezies vor einem schlichten Hintergrund auf derselben Seite zusammenstellen, alle in dieselbe Richtung blickend und in helles, schattenloses Licht getaucht, sodass man sie leicht vergleichen kann. Um Bestimmungsbücher erfolgreich verwenden zu können, muss man lernen, dem lebenden Organismus vor einem die richtigen Fragen zu stellen: Man muss die Größe abschätzen und herausfinden, wo das Tier oder die Pflanze lebt, man muss das Studienobjekt in relevante Details zerlegen (Schwanzlänge, Beinlänge, Muster der Flügeldecken oder Schuppen oder Federn), jedes dieser Details mit Bildern ähnlicher Arten abgleichen, den begleitenden Text lesen, sich die Augen mit dem Lesen winziger Karten verderben, die das gewöhnliche geografische Verbreitungsgebiet des Tiers zeigen, sich dann noch einmal das Bild ansehen und die Bestimmung so lange verfeinern, bis man mit ihr zufrieden ist.
Diese Art von Tieridentifikation hat eine faszinierende Geschichte, da Bestimmungsbücher die Veränderungen in unserem Umgang mit der Natur widerspiegeln. Bis zu den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gab es beispielsweise Vogelbestimmungsbücher überwiegend in einer von zwei Formen. Einige von ihnen kann man als moralisierende, vermenschlichende Lebensgeschichten bezeichnen, darunter etwa Florence Merriams Birds Through an Opera-Glass von 1889, in dem dem Hüttensänger ein »vorbildliches Temperament«, der Spottdrossel aber eine »faule Maßlosigkeit« nachgesagt wird. »Wäre sie ein Mensch«, schrieb Merriam über Letztere, »säße sie bestimmt hemdsärmelig zu Hause rum und würde ohne Kragen auf die Straße gehen.« Die andere Art von Vogelbestimmungsbuch war der Fachband für ornithologische Sammler. Damals bestimmte man den Vogel meist erst, nachdem man ihn abgeschossen hatte, weshalb sich diese Bücher auf feine Details des Gefieders und der Weichteile konzentrierten. »Schwimmhaut an der Basis zwischen innerem und mittlerem Zeh« lautet die Beschreibung des Amerika-Sandregenpfeifers in Chapmans Color Key to North American Birds in der Ausgabe von 1912. Doch mit dem Aufstieg der Vogelbeobachtung als Freizeitbeschäftigung nach dem Ersten Weltkrieg, als die Moral des Tötens von Vögeln zunehmend infrage gestellt wurde und das Aufkommen erschwinglicher Ferngläser Vögel in unmittelbare Sichtweite des Menschen rückte, verloren solcherlei Details an Nützlichkeit. Eine neue Art, Vögel zu bestimmen, musste her.
Das erste moderne Bestimmungsbuch war Roger Tory Petersons Field Guide to the Birds von 1934. Es war teilweise von einem Kapitel in dem beliebten Kinderbuch Zwei kleine Wilde (1903) von Ernest Thompson Seton inspiriert, dem ersten Pfadfinderführer der Boy Scouts of America. Darin lehnt sich ein naturbegeisterter Junge gegen Vogelbestimmungsbücher auf, nach denen man die Vögel nur identifizieren kann, wenn man sie tot in der Hand hält. Er beschließt, stattdessen »Fernskizzen« von den Enten anzufertigen, die er in einiger Entfernung beobachten kann, und die Skizzen anschließend zu einer »Ententabelle« zusammenzustellen, in der die charakteristischen »Flecken und Streifen, an denen man sie erkennen kann … wie Soldaten an ihrer Uniform« auf einen Blick ersichtlich sind. Auf ganz ähnliche Weise ordneten Petersons Zeichnungen die Vögel in vereinfachter Form tabellarisch an, wobei Peterson jedoch einen Schritt weiter ging und den Zeichnungen dünne schwarze Linien hinzufügte, die auf besonders augenfällige Merkmale hinwiesen: die schwarze Bänderung am Schwanzende des Karibikkarakaras oder die wie in Tinte getaucht wirkenden Flügelspitzen der fliegenden Rissa-Möwe.
In den 1920er-Jahren, damals war Peterson ein junger Mann, war er Mitglied des Bronx County Bird Club, einer Gruppe miteinander konkurrierender, ikonoklastischer junger Naturkundler. Als es noch keine tragbaren Bestimmungsbücher gab, konnten Hilfsmittel zur Feldidentifizierung ungewöhnliche Formen annehmen: Eines der Gründungsmitglieder des Vereins hatte immer einen Umschlag mit Farbtafeln bei sich, die er aus E. H. Eatons aufwendigem, aber unhandlichem Ornithologieführer Birds of New York ausgeschnitten hatte — das Buch hatte er in einem Mülleimer gefunden. Mentor der Gruppe war Ludlow Griscom, ein strenger, genauer Lehrer, der für seine Technik der Vogelerkennung in freier Wildbahn — selbst im Flug — berühmt wurde. »All die vielen Fragmente, die wir über Vögel wissen — Aufenthaltsort, jahreszeitliches Verhalten, Lebensraum, Ruf, sonstige Verhaltensweisen, Zeichnung und Wahrscheinlichkeit des Vorkommens —, blitzen im Spiegel des Geistes auf und ergeben plötzlich ein Gesamtbild, das uns den Namen des Vogels verrät«, erklärte Peterson Griscoms Technik später. Diese Gestaltfähigkeit, eine Spezies anhand der Kombination von Buchwissen und langer Felderfahrung im Bruchteil einer Sekunde erkennen zu können, wurde zum Kennzeichen ornithologischer Expertise und zum Kern einer wachsenden Kultur wetteifernder Vogelbeobachtung, die bis heute weiterlebt. Denn mit dem Identifizieren ist ein ungeheures intellektuelles Vergnügen verbunden; jedes Mal, wenn man eine neue Tier- oder Pflanzenspezies erkannt hat, wird die Natur zu einem komplexeren und bemerkenswerteren Ort, und aus dem verschwommenen Hintergrund namenlosen Graus und Grüns tritt eine verschachtelte Vielfalt hervor.
Heute werden elektronische Bestimmungsmittel immer beliebter. Mit Fotoerkennungs-Apps wie Leafsnap oder Merlin Bird ID kann man Spezies mittlerweile auch ohne das Wissen, wie man mit einem Bestimmungsbuch umgehen muss, identifizieren. Und sie können, was gedruckte Bücher nicht können — Tiergeräusche und Vogelgesänge abspielen beispielsweise. Allerdings machen sie es auch schwieriger, das zu lernen, was wir unbewusst aus Bestimmungsbüchern aufnehmen: Familienähnlichkeiten zwischen verschiedenen Arten oder die taxonomische Einordnung. Für mich als Kind machte die Materialität der Bücher, ihr Gewicht und ihre Schönheit, einen Teil ihrer Anziehungskraft aus. Ich verbrachte Stunden damit, die Farbtafeln mit Schmetterlingen und Vögeln zu bestaunen, ein Tier vom anderen zu unterscheiden und mir die gemalten Bilder einzuprägen. Als ich das erste Mal einen Epargyreus clarus, einen Schmetterling aus der Familie der Dickkopffalter, sah, der sich auf bloßem Kalkstein auf einer Wiese in hohem Hügelland sonnte, wusste ich sofort, wie der staubig-goldfarbene Falter mit den hellen, ausgefransten Flecken auf den Flügeln hieß. Bestimmungsbücher hatten die Freude möglich gemacht, auf etwas zu treffen, das ich schon kannte, dem ich aber nie zuvor begegnet war.
Als ich wieder in meinem Hotelzimmer bin, ziehe ich aus den Tiefen meines Koffers zwei australische Bestimmungsbücher hervor, begierig herauszufinden, was ich da gesehen habe. Im ersten stoße ich auf eine Seite mit Honigfressern: neun Vögel vor einem blassgrünen Hintergrund. Das auffällige Muster aus Weiß, Gelb und Schwarz findet sich bei zwei Arten, die runden Silberaugen aber sind einzigartig. Ich gleiche meine Entdeckung mit den Verbreitungskarten und der kurzen Beschreibung auf der gegenüberliegenden Seite ab. Was ich gesehen habe, war ein Weißaugen-Honigfresser. Und beim Durchblättern des Pflanzenführers, der nur einige Hundert der dreißigtausend verschiedenen Pflanzenarten Australiens spezifiziert, entscheide ich mich bei dem Strauch, auf dem der Vogel saß, versuchsweise für eine Telopea. Bei den Banksien am Wegrand handelte es sich um Haarnadelbanksien, erkennbar an ihren »vorstehenden, drahtigen, hakenförmigen Griffeln«. In Australien kennt die Arten praktisch jeder, für mich aber bedeuten sie kleine Triumphe. Ich weiß jetzt drei Dinge. Und noch vor ein paar Stunden blickte ich bei Sonnenuntergang über ein Tal und wusste gar nichts.