Eigentlich sollte ich nicht tun, was ich gerade tue, weil man auf der Autobahn die Augen gefälligst auf der Straße lassen sollte. Ich sollte es außerdem nicht tun, weil sich absichtlich das Herz schwer zu machen ein Zwang ist, der in seiner Absonderlichkeit und Befremdlichkeit mit dem wiederholten Fahren mit der Zunge über einen schmerzenden Zahn vergleichbar ist. Ich tue es aber trotzdem, und es ist heute sicherer, da dieser Streckenabschnitt in einen »Smart Motorway«, eine intelligente Autobahn, umgewandelt wird: Das lange Gefälle der M 3 in Richtung Camberley ist mittlerweile mit Geschwindigkeitsüberwachungskameras und 80-km/h-Schildern übersät. Wenn ich hier also mit dem Auto auf dem Weg zu einem anderen Ort bin, kann ich auf der Außenspur und damit näher und langsamer an den Teil des Zauns heranfahren, den ich suche und der hoch unter einem Himmel, dessen Weiß an altes Eis erinnert, nach Westen verläuft.
Vielleicht einhunderttausend Autos fahren täglich an diesem Ort vorbei. Mitte der 1970er-Jahre lag ich manchmal in den frühen Morgenstunden wach im Bett und hörte ein einzelnes Motorrad, das in westliche oder östliche Richtung brauste — ein lang gezogenes, gähnendes Brummen, das sich ins Gedächtnis dopplerte und in meinen Träumen wiederholte. Doch wie Schnee so verdickt sich auch Verkehrslärm mit der Zeit. Als ich zehn war, stand ich an Europas zweitgrößtem Wasserfall, lauschte seinem Brüllen und dachte nur: Er klingt wie die Autobahn, wenn es regnet.
Ich sollte nicht hinsehen. Doch ich sehe immer hin. Mein Blick bleibt dort hängen, wo das wundertrommelartige Flackern der Kiefern hinter dem Zaun einem Fleckchen Himmel weicht, das vom schwarzen Wipfel eines Mammutbaums und den gegabelten, mathematisch verzweigten Ästen einer Chilenischen Araukarie unterbrochen wird. In meinem Kopf blüht die Ahnung verlorenen Raums auf, denn ich kenne das Land um diese Bäume herum genau, oder zumindest den Ort, wie er vor dreißig Jahren war. Dann ist er schon wieder weg, und ich fahre weiter. Ich lasse den Atem entweichen, den ich die letzten dreihundert Meter oder so angehalten habe, als hätte ich damit auch alles andere anhalten können — die Bewegung, die Zeit, den ganzen Staub und die sich hebenden und senkenden Füße, die ihn im Laufe eines Lebens aufwirbeln.
Hier eine frühe Erinnerung — eine alberne, aber sie ist wahrhaftig. Ich lernte das Schnelllesen, als ich versuchte, militärische Warnschilder zu entziffern, die die Straße auf dem Weg zu meiner Grundschule säumten. BETRETEN VERBOTEN war einfach, doch ACHTUNG — NICHT DETONIERTES WEHRMATERIAL! kostete mich Monate. Ich musste die Wörter alle auf einmal lesen, weil sich das Auto meiner Mutter bewegte und die Schilder sehr nah waren. Jeden Morgen unter der Woche starrte ich aus dem Fenster, als das Militärgelände heranrückte, und wartete darauf, dass die Wörter erschienen. Würde ich sie dieses Mal lesen können? Das Gefühl, das ich damals hatte, den Willen, etwas Wichtiges, das mit großer Geschwindigkeit an mir vorbeirauschte, verstehen zu können — dieses Gefühl habe ich auch heute noch, wenn ich nach dem Ort hinter dem Autobahnzaun suche, an dem ich aufgewachsen bin.
In meinem ersten Sommer im Park war ich fünf. Das war 1976. In den Blumenbeeten blühten und verwelkten die Bornholmmargeriten, die Kiefernzapfen in den Bäumen hinter dem Haus knackten und barsten im Laufe endloser indigofarbener Nachmittage. Standrohre, Orangeade, trockene Rasen und ein Gespräch, in dem man mir erklärte, was eine Dürre ist. Damals wurde mir zum ersten Mal klar, dass nicht ein Jahr wie das andere ist, oder vielleicht auch, dass es so etwas wie Jahre überhaupt gibt. Meine Eltern hatten das kleine, weiße Haus in Camberley, Surrey, das auf einem zwanzig Hektar großen, eingezäunten Grundstück der Theosophischen Gesellschaft stand, gekauft. Von Theosophie wussten sie nichts, doch das Haus gefiel ihnen, ebenso wie das Grundstück. Einst hatte ein Schloss darauf gestanden beziehungsweise Junker Tekels vom frühen neunzehnten Jahrhundert geprägte Vorstellung eines Schlosses, die aus gotisierenden Zinnen und Schießscharten, aus Pfauen und Kutschen bestand. Nachdem es bei einem Brand zerstört worden war, hatten die Theosophen das Gelände 1929 für zweitausendsechshundert Pfund erworben und es zu einem Ort gemacht, an dem sie wohnen und arbeiten konnten. Hier zu wohnen war ein Privileg, erzählte man den Bewohnern. Das Privileg, Dienste zu leisten. Die Mitglieder der Gesellschaft errichteten ihre eigenen Häuser, kauften Zelte für einen Zeltplatz und eine ausgemusterte Wellblechbaracke von der Armee. Sie bauten Lebensmittel im ummauerten Küchengarten an und eröffneten eine vegetarische Pension. In den 1960er-Jahren, nachdem man Pächtern das Recht gewährt hatte, den Grund und Boden, auf dem die Häuser standen, zu erwerben, kamen allmählich auch Außenseiter wie wir, um den Ort zu bevölkern.
Da die Nazis die Theosophie verboten hatten, waren viele unserer Nachbarn Kriegsflüchtlinge und andere die schwarzen Schafe blütenweißer Familien: ältere Frauen, überwiegend, die die ihnen von der Gesellschaft vorbehaltenen Rollen verweigert hatten — die ruhigen Lolly Willowes von Surrey Heath. Eine von ihnen trug antiken ägyptischen Schmuck, den Howard Carter ihr geschenkt hatte; eine andere bewahrte das Ei eines Riesenalks in einer Schublade auf. Spione, Wissenschaftler, Konzertpianisten, Mitglieder der Esoteric Society, des Round Tables, der Liberal-Katholischen Kirche, der Co-Freimaurer. Ein ehemaliger Bewohner schickte nach dem Bartschneiden seine Haarschnipsel aus Nepal nach England, auf dass diese im Gartenfeuer des Anwesens verbrannt wurden. Als ein anderer Jahre später entdeckte, dass ich nach Cambridge gegangen war, fragte er mich, wo ich mein Pferd eingestellt hatte — er selbst hatte bei seinem Studium in den 1930er-Jahren dort fürchterliche Probleme damit gehabt, einen Stall für sein Jagdpferd zu finden. Jeder unserer Nachbarn konnte sich eines Lebens und einer Vergangenheit von solch schillernder Exzentrizität rühmen, dass meine Vorstellung davon, was normal war — und was nicht —, einen Schlag erhielt, von dem sie sich nie erholt hat. Ich bin dankbar dafür, und vor allem den Frauen, dass sie mir alternative Modelle der Lebensführung gezeigt haben.
Am meisten aber bin ich dankbar für die anderen Freiheiten, die ich dort hatte. Nach der Schule machte ich mir ein Sandwich, schnappte mir mein Zeiss-Jena-8x30-Jenoptem-Fernglas und zog los zu meinen Lieblingsplätzen. Zu den efeuüberwucherten Mauern und Solitärgehölzen, den Mammutbäumen, die man im Gedenken an den Tod Lord Wellingtons gepflanzt hatte — die Anwohner nannten sie Wellingtonien, natürlich. Zu den mit Teeröl behandelten Gartenhäusern mit ihren fliegendreckbeschmutzten Fenstern. »Arthur Conan Doyle saß gern hier«, erzählte man mir, an dem kleinsten Gartenhaus im spärlichen Schatten einer Balsam-Pappel, dem mit Originaldrucken der Cottingley Fairies an den cremefarben getünchten Wänden. Zu dem runden, flachen Teich inmitten der Terrassen im italienischen Stil, in dem ein Springbrunnen an- und ausging, in dem Teichmolche und Gelbrandkäfer lebten und zu dem Glattnasenfledermäuse nachts hinabtauchten, um zu trinken. Zu der dreieinhalb Hektar großen Wiese, die von verfallenden Ställen, unzähligen Waldkiefern und feuchten Pfaden umgeben war, überwuchert von Farnkraut, Rhododendren und Sumpflorbeer mit seinen Blütenknospen wie aus der Zuckergussspritztüte. Zu den Straßen, die nirgendwohin führten, da die Autobahn das gesamte Gelände in zwei Hälften teilte; sie war auf Land gebaut worden, das man den Theosophen in den 1950er-Jahren zwangsweise abgekauft hatte. Ich liebte diese Straßen. Barfuß auf dem verrottenden Asphalt unten an der geraden Allee von Traubeneichen, die in verwehtem Laub und einem neuen Trampelpfad endete; der Pfad machte eine Rechtskurve am Rand des Autobahnzauns entlang. Eine Sackgasse im hinteren Teil des Parks war von drei Meter hohen Sandböschungen gesäumt, die ich in Richtung einer riesigen grauen Buche hinaufkletterte. In die Rinde des Baums waren Herzen und Daten und Initialen geschnitzt, und ich war ungeheuer beeindruckt, dass irgendjemand vor mir die Buche gefunden hatte, denn ich hatte nie jemanden in ihrer Nähe gesehen, niemals. Eines Nachmittags grub ich aus dem Humus unter dem Baum einen verfaulten Lederzugbeutel aus, der mir Dreipennystücke in die Hände spuckte. Bevor die Autobahn gebaut worden war, hatte es Glühwürmchen, Schnepfen und Teiche hier gegeben, so erzählte man mir. Auf der anderen Seite standen schon überall nur Häuser.
Ich durfte nach Herzenslust herumstromern, weil jeder hier mich kannte — was Gespräche unter vier Augen mit meinen Eltern allerdings nicht ausschloss, nachdem man mich wieder einmal dabei gesehen hatte, wie ich knietief mitten im Teich stand, um nach den Molchen zu suchen, oder mit einer großen Ringelnatter am Gartenhaus vorbeiging, sechzig Zentimeter biegsames Khaki und Gold, die sich um meine Arme wanden. Reg der Gärtner nahm mich auf seinem Traktor mit, auf dem wir dann die Straße hinuntertuckerten und dabei Varietélieder sangen, die er mir beigebracht hatte:
Es ist überall dasselbe
Immer sind die Armen schuld
Und die Reichen, die vergnüg’n sich,
Reißt ei’m da nicht die Geduld?
Und während sich Reg dann eine Zigarette drehte, düste ich ab, um das Farngestrüpp und das Unterholz im dichten Wald zu erkunden, wo die Rhododendren so groß wie Bäume waren und von längst vergangenem Zurückschneiden geformte Äste hatten. Sie eigneten sich ganz hervorragend zum Hinaufklettern, als ich noch klein war: wahre Gerüste an rechtwinkligen Knickstellen und scharfen Holzkurven, in die ich mich hinauf- und an denen ich mich hochziehen konnte, bis ich in einer dunkelblättrigen Baumkrone saß, die vor lauter winzigen Rhododendronzikaden nur so klickte und schwatzte. Bei näherer Betrachtung ähnelten die Schnabelkerfen sogar den farbenprächtigsten aller Bestiariendrachen. Außerdem entdeckte ich in den Tiefen des Walds das Nest der Roten Waldameisen, einen glitzernden, veränderlichen, wimmelnden Hügel, der im Laufe der Jahre wanderte und immer nach Ameisensäure stank. Man konnte blaue Blumen rosa färben, wenn man sie auf den Hügel warf, und dann dabei zusehen, wie die Ameisen sie wegtrugen. Eine Zeit lang habe ich dort die toten Vögel, die ich gefunden hatte, in Skelette verwandelt, indem ich die Vögel vorsichtig in kleine Drahtkäfige legte und diese wiederum ebenfalls auf das Nest. Wenn ich sie Wochen später aus ihrem kleinen Gefängnis befreite, waren nur noch saubere weiße Knochen übrig, die nie ganz aufhörten, nach Ameise zu riechen.
Beinahe zufällig wurde mir diese Kindheit der Freiheit und des Privilegs gewährt, teilweise aufgrund der schrulligen Eigenheit des Ortes, teilweise aufgrund des Vertrauens meiner Eltern in die Sicherheit des besagten Ortes. Und so durfte ich am mir so bekannten Schauplatz so vieler meiner Kinderbücher aufwachsen, von Der geheime Garten bis zu Schloss Malplaquet oder Lilliput im Exil, obwohl ich nicht auch nur annähernd so piekfein war wie deren Protagonisten. Ich war ein Staatliche-Schule-Kind mit beneidenswertem Auslauf in einer leicht mitgenommenen formellen Parklandschaft — eine Kindheit, die als Metapher auf Papier hätte festgehalten werden können, als Metapher für das bröckelnde Empire oder ein wilderes Leben oder gesellschaftliche Verstöße oder jedweden Traum des Entfliehens, geschmiedet in der Fantasie von Schriftstellern Jahre vor meiner Geburt.
Ich wusste gar nicht, wie ungewöhnlich meine Freiheit war, dagegen aber sehr wohl, was sie mir geschenkt hatte. Sie hatte mich zu einer Naturforscherin gemacht. Und für eine frischgebackene Naturforscherin wie mich war die dreieinhalb Hektar große Wiese die Erfüllung ihrer Träume. So vieles von dem, was dort zu finden war, muss mit dem Heu für längst verstorbene Pferde gekommen sein, als Samen von Tieflandwiesen: Skabiosen, Flockenblumen, Wiesenklee, Rundblättrige Glockenblumen, Echtes Labkraut, Zittergras, Wicken sowie verschiedene andere Gräser und Kräuter. Und auch Schmetterlinge hatte man an diesem kleinen Flecken neunzehntes Jahrhundert ausgesetzt: den Gemeinen Bläuling, den Braunkolbigen Braundickkopffalter, den Kleinen Würfel-Dickkopffalter, das Schachbrett aus der Familie der Edelfalter, den Kleinen Feuerfalter und obendrein Heuschrecken, die den ganzen Sommer lang zirpten und mir um die Füße schwirrten. Die andere Seite der Wiese war anders, mehr wie das, was man auf saurem Boden erwartet: ein flaches Meer an Kleinem Sauerampfer, das sternförmige Harzer Labkraut, Pappelspinner, Kleine Wiesenvögelchen, ebenfalls aus der Familie der Edelfalter, Ameisenhügel und Draht-Schmiele, von der Sonne mit einem Nebelschleier überzogen. Diese Wiese kannte ich wie meine Westentasche. Sie war üppiger, interessanter und geschichtenreicher als jede andere Umgebung in meinem Leben. Ich drückte mein Gesicht ins Gras, um Insekten zu beobachten, die nicht größer waren als das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i und durch das erdige Gewirr krabbelten, in dem man Stängel nicht mehr von Wurzeln unterscheiden konnte. Oder ich drehte mich um und hielt im dichten Kumulusgeschiebe des Himmels nach Vögeln Ausschau.
In vielen unserer Geschichten über die Natur geht es darum, uns mit ihr zu messen, uns gegen sie abzusetzen, unsere Menschlichkeit im Unterschied zu ihr zu definieren. Doch meine Zeit auf der Wiese hatte nichts von all dem. Sie war der Blick des Kindes auf die Natur: eines Kindes auf der Suche nach Nähe und Kameradschaft. Als ich die Namen der Tiere und Pflanzen in Bestimmungsbüchern nachschlug, tat ich dies, weil ich sie genauso wissen wollte wie die Namen meiner Klassenkameraden. Ihr vielfältiges Leben dehnte das, was ich unter Zuhause verstand, weit über die Mauern unseres Hauses hinaus aus. Sie machten aus der Natur einen Ort der komplexen und wunderschönen Sicherheit. Sie gehörten für mich mit zur Familie.
Für Kinder bergen die Dinge um sie herum das Versprechen, auf ewig so zu bleiben, wie sie sind, und sie messen das Leben in Tagen und Wochen, nicht in Jahren. Als eines Tages Anfang August also die Mäher kamen, um die Wiese zu mähen, so, wie sie es jedes Jahr seit Anbeginn der Wiese getan hatten, und als ich sah, was geschah, brannte ich vor erschrockener Wut. Ich hatte keine Zeit, über das, was ich tat, nachzudenken. Ich rannte. Ich stolperte. Ich setzte mich vor die Mähmaschine, um sie aufzuhalten, und blieb dort, stumm, passiv, vor dem konsternierten Fahrer der Maschine sitzen, der ausstieg und mich berechtigterweise fragte, was zum Teufel ich da täte, woraufhin ich weinend nach Hause lief. Ich wusste nicht, wie Heuwiesen funktionierten. Ich sah nur eins: Zerstörung. Und wie konnte ich auch wissen, dass die Aufgabe des Mähers darin bestand, die Geschichte gewissermaßen in der Schwebe zu halten und die Wiese damit genau dort, wo sie war, gegen das Vordringen der Heide, der Birken und der Zeit?
Jedes Jahr wuchs die Wiese wieder zu, gedieh und war so üppig wie je, bis wir den Park in den 1990er-Jahren verließen. Zehn Jahre später kehrte ich an einem grauen Sommernachmittag zurück, voller nervöser Anspannung, was ich wohl vorfinden würde. Als ich die Tekels Avenue hinauffuhr, besaß die vorbeiziehende Landschaft die verwirrende, diffuse, unproportionale und unheimliche Nähe, wie sie Dingen in unseren Träumen eigen ist. Ich hatte Angst davor, was mich jenseits des Kurvenkamms, den das Auto gerade erklomm, unten am Feld erwartete. Aber da war sie, die Wiese — unmöglich, wie ein Wunder, noch immer von Leben wimmelnd.
Als ich in meinen Vierzigern war, kehrte ich noch einmal zurück, dieses Mal weniger angespannt, meiner selbst und dessen, was ich dort finden würde, sicherer. Da allerdings hatte ich mich getäuscht. Jemand, der dachte, Wiesen hätten wie Fußballplätze auszusehen, hatte sie wie einen Rasen behandelt und mehrere Jahre lang wiederholt gemäht, bis das überschäumende, wimmelnde Leben, das ich gekannt und geliebt hatte, verschwunden war. Die Wiese sah nun aus, wie sie dem Jemand nach aussehen sollte: leer und ordentlich und eben und leicht zu begehen. Ich weinte, als ich das sah, eine Frau, die nicht um ihre Kindheit, nicht wirklich, sondern um alles weinte, was von diesem Ort getilgt worden war.
Die Wiese zu verlieren ist nicht, wie die anderen Dinge aus meiner Kindheit zu verlieren: Mac Fisheries, Vesta-Paella, Space Hopper, Schulessen, Magic-Roundabout-Spielzeug, die Lutscher, die ich nach dem Essen in Caféketten an Fernstraßen in den Ferien immer bekam. Man kann die Opfer des rasanten Kapitalismus der eigenen Generation betrauern, doch im Grunde weiß man, dass sie lediglich ausgetauscht wurden, durch andere Fernsehsendungen, andere Medien, andere Dinge zum Ansehen und Kaufen. Mit der Wiese ist das anders. Ich kann sie nicht auf Nostalgie schlechthin reduzieren. Werden Habitate zerstört, gehen damit gleichzeitig erlesene ökologische Komplexitäten verloren und mit ihnen das Leben, das sie zu dem gemacht hat, was sie waren. Bei ihrem Verlust geht es nicht um uns, auch wenn ein Teil von mir mit dieser Wiese verschwunden ist — oder, besser gesagt, vom Dasein in die Erinnerung übergegangen ist, die mir auch jetzt das Herz schwer macht. Sieh nur, kann ich zu niemandem sagen. Wie schön es hier ist. Sieh nur, was hier alles ist. Ich kann nur darüber schreiben, was da alles war.
Als Henry Green Ende der 1930er-Jahre damit begann, seine Autobiografie zu schreiben, dachte er, er müsste in dem bevorstehenden Krieg sterben, und hatte das Gefühl, sich den zeitlichen Luxus, einen Roman zu verfassen, nicht leisten zu können. »Das ist meine Entschuldigung«, schrieb er, »dass wir, die wir vielleicht nicht die Zeit haben, etwas anderes zu schreiben, tun müssen, was wir jetzt tun können.« Er schrieb noch mehr: »Wir sollten eine Bestandsaufnahme machen.« Ich mache Bestandsaufnahmen. Während dieses sechsten Aussterbens müssen wir, die wir vielleicht nicht die Zeit haben, etwas anderes zu tun, schreiben, was wir jetzt schreiben können, um Bestand aufzunehmen. Als ich damals am Rand der Wiese saß und weinte, sagte ich mir wieder und wieder, dass der Jemand nett war und einfach nicht gewusst hatte, was da gewesen war. Nicht gewusst hatte, was gewesen war. Und ich musste an etwas denken, worüber ich erst vor Kurzem mit einem Freund gesprochen hatte: dass die Welt voller Menschen ist, die emsig damit beschäftigt sind, die Dinge so zu machen, wie sie ihrer Meinung nach sein sollten, die so ziemlich alles niederbrennen und dabei restlos und zufällig Dinge zerstören, ohne überhaupt zu wissen, dass sie das tun. Und dass das jedem von uns passieren kann, jeder, jederzeit.
Vor einigen Jahren wurde der Park an einen Bauträger verkauft. Heute ist das, was mir das Herz schwer macht, wenn ich an dem Zaun vorbeifahre, zum Teil der Wiedererkennungsschmerz, mit dem ich die Bäume dort sehe, die Fleisch gewordenen Geister meiner Kindheit. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass die Wiese mit Sorgfalt, Aufmerksamkeit und einem Quäntchen Liebe und Geschick wieder in den Bebauungsplan integriert und in das, was sie noch vor wenigen Jahren war, zurückverwandelt werden könnte. Was mir das Herz schwer macht, ist das schmerzhafte Wissen, dass dies möglich, aber sehr unwahrscheinlich ist. Jahrhunderte des Lebensraumverlusts und die Tatsache, dass wir immer weniger über die Natur wissen, weil wir sie immer seltener spüren und erleben, machen es außerordentlich schwer, daran zu glauben, dass die Zerstörung rückgängig gemacht werden könnte.
Häufig sehen wir Vergangenes wie eine Art Naturschutzgebiet: als einen abgeschiedenen, eingezäunten Ort, den wir im Geist besuchen können, damit wir uns besser fühlen. Manchmal aber frage ich mich, wie wir erkennen könnten, dass die Vergangenheit immer auf uns einwirkt und durch uns wirkt und dass Diversität in all ihren Formen, seien sie nun menschlich oder natürlich, Stärke bedeutet. Die unordentlichen Abschnitte artenreicher Vegetation mit all ihrem dazugehörigen wirbellosen Leben sind besser, einfach besser, als die gespenstische, verarmte Stille moderner Pflanzschemata und Felder. Ich frage mich, wie wir lernen könnten, unsere ästhetischen und moralischen Landschaften mit dieser Anschauung in Einklang zu bringen. Das frage ich mich. Ich denke an die Wiese. Die Schmetterlingswolken sind dem örtlichen Aussterben zum Opfer gefallen, doch tief im Boden steckt eine Saatgutbank, die überdauern wird. Für eine sehr lange Zeit. Und wenn ich heute an dem Zaun vorbeifahre und bei achtzig Stundenkilometern aus dem Fenster starre, dann weiß ich, dass das, was ich jenseits des Zauns suche, ein Ort ist, der mich anzieht, weil er weder ganz in der Vergangenheit noch in der Gegenwart existiert; er ist irgendwo dazwischen gefangen, und dieses Irgendwo ist etwas, das in die Zukunft weist und dessen kleine schmerzhafte Stiche Hoffnung bedeuten.