An diesem kühlen Abend Anfang Mai bricht über Midtown Manhattan die Dämmerung herein. Den ganzen Tag über habe ich die Wettervorhersage gegoogelt, während ich die Fifth Avenue hinabspaziere, ziehe ich mein Handy aus der Tasche und sehe noch einmal nach. Wind aus Nordnordost bei klarem Himmel. Gut.
Am Empire State Building stehen die Leute um den ganzen Block herum Schlange, und weil ich die Einzige darin bin, die ein Fernglas um den Hals hängen hat, bin ich ein bisschen verlegen. In der darauffolgenden Stunde geht es zentimeterweise vorwärts, Rolltreppen hinauf, durch Marmorhallen hindurch, an matt goldfarben tapezierten Wänden vorbei. Dann quetsche ich mich in einen überfüllten Aufzug und tauche im sechsundachtzigsten Stock wieder auf. Mehr als dreihundert Meter über der Stadt weht ein kräftiger Wind, weit unter mir erstreckt sich ein spektakuläres Lichtermeer.
Hinter den Touristen, die sich an die Einzäunung drücken, lehnt sich ein Mann an die Wand. Über ihm flattern die Stars and Stripes träge in der Nachtluft. In der Düsternis kann ich sein Gesicht nicht erkennen, weiß aber, dass dies der Mann ist, mit dem ich verabredet bin, denn auch er hat ein Fernglas in der Hand — das meins übrigens um Längen schlägt —, außerdem sieht er nach oben in den Himmel. Wie er da steht, hat etwas Dringliches an sich, das mich an Leute beim Tontaubenschießen erinnert, die darauf warten, dass das nächste Ziel abgefeuert wird. Man kann ihm die gespannte Erwartung direkt ansehen.
Der Mann an der Wand ist Andrew Farnsworth, ein zurückhaltender Forscher am Cornell Laboratory of Ornithology, und wir sind in der Hoffnung hier, Zeugen eines Naturphänomens zu werden, das zweimal im Jahr beinahe unbemerkt über die Stadt fegt: die jahreszeitlich auftretenden nächtlichen Flüge von Zugvögeln. Der Ort, an dem wir uns befinden, passt so absurd gar nicht zu unserem Vorhaben einer naturkundlichen Expedition. Abgesehen von den bekannten Ausnahmen — Tauben, Ratten, Mäuse, Spatzen — leben Wildtiere in unserer Vorstellung weit außerhalb des Stadtrands, und die Natur ist das genaue Gegenteil der Stadt. Und das ist auch verständlich: Die einzige Natur, die man aus dieser Höhe sehen kann, erschöpft sich in ein paar schwach leuchtenden Sternen oben und in der bleifarbenen Strieme des Hudson, die sich unten durch das Lichterwirrwarr zieht. Alles andere sind wir — die blinkenden Flugzeuge, das Schwenken greller Smartphones, das Lichtgitter der Fenster und Straßen.
Wolkenkratzer sind vor allem bei Nacht vollkommen, flügge gewordene Träume von Modernität, die die Natur auslöschen und durch eine neue, aus Kunstgriffen geschmiedete Landschaft ersetzen, eine Kartografie aus Stahl, Glas und Licht. Doch die Menschen leben in ihnen aus demselben Grund, aus dem sie an naturbelassene Orte reisen: um der Stadt zu entfliehen. Die höchsten Gebäude erheben uns über die Unordnung und das Chaos des Lebens auf Straßenniveau; und sie erheben uns noch in etwas anderes. Der Himmel mag wie ein leerer Ort scheinen, genau so, wie wir einst dachten, die Tiefsee sei eine Leere ohne Leben. Ebenso wie der Ozean aber ist auch der Himmel ein riesiges Habitat voller Leben: Fledermäuse und Vögel, Fluginsekten, Spinnen, vom Wind verbreitete Samen, Mikroben, im Wind treibende Sporen. Je mehr ich über Kilometer staubiger, beleuchteter Luft auf die Stadt starre, desto mehr sehe ich diese superhohen Gebäude wie Maschinen in der Art von Tiefseetauchbooten — beide bringen uns in unzugängliche Gefilde, die wir anders nicht erkunden können. In ihrem Inneren ist die Luft ruhig und sauber und temperiert, während die turbulente Welt draußen von überraschender biologischer Fülle nur so wimmelt. Und wir mittendrin.
Über uns zeichnen LED-Lampen um die Basis des Turms einen blassen Heiligenschein aus sanftem Licht in die Dunkelheit. Ein hell leuchtender, aber verschwommener weißer Fleck hüpft darüber hinweg. Durch das Fernglas manifestiert er sich als Eulenfalter, der mit den Flügeln flattert, während er vertikal in Richtung Turm klettert. Niemand weiß bislang genau, wie sich Falter wie diese auf ihren Zügen orientieren; man spekuliert, sie navigierten mithilfe des Magnetfelds der Erde. Dieser Eulenfalter fliegt auf der Suche nach dem richtigen Luftstrom, mit dem er ziehen kann, wohin er will, nach oben.
Die windgetragene Migration ist eine Spezialität der Gliederfüßer. Mit ihrer Hilfe können Lebewesen wie Blattläuse, Wespen, Florfliegen, Käfer, Falter und winzige Spinnen auf elektrostatisch aufgeladenen Seidenfäden Strecken von bis zu mehreren Hundert Kilometern Länge zurücklegen. Diese driftenden Lebewesen sind Siedler, Pioniere auf der Suche nach neuen Lebensräumen, die sich ein Zuhause schaffen, wo immer sie eins finden. Stellt man einen Rosenstrauch in das aride Umfeld eines Balkons im obersten Stock, werden sich schon bald vom Wind transportierte saftsaugende Blattläuse zuhauf an seinen Zweigen finden, gefolgt von den winzigen Wespen, die parasitär von den Blattläusen leben.
Der Himmel über uns ist von einer erstaunlichen Anzahl von Zuginsekten bevölkert. In Großbritannien verwendet der Wissenschaftler Jason Chapman auf die Atmosphäre gerichtete Radarsysteme, um die Bewegungen dieser Insekten in großer Höhe zu studieren. In nur einem Monat können mehr als siebeneinhalb Milliarden von ihnen über eine Quadratmeile englischen Farmlands hinwegfliegen — das sind rund zweitausendfünfhundert Kilogramm Biomasse. Chapman zufolge ist die Zahl der Zuginsekten über New York City wahrscheinlich sogar noch höher, da die Stadt das Tor zu einem Kontinent ist und keine kleine Insel inmitten kalter Gewässer, und weil die Sommer in New York im Allgemeinen heißer sind. Befindet man sich erst einmal oberhalb von zweihundert Metern Höhe, so Chapman, befindet man sich auch in einem Reich, in dem die Unterscheidung zwischen Stadt und Land kaum noch eine bis gar keine Bedeutung mehr hat.
Tagsüber bieten diese riesigen Züge millionenfachen Lebens Schornsteinseglern ein wahres Festmahl, in der Nacht tun sich vor allem ortsansässige und wandernde Fledermäuse sowie Falkennachtschwalben mit ihren weißfleckigen Flügeln an ihnen gütlich. Weht im Spätsommer oder Frühherbst ein nordwestlicher Wind, bedienen sich Vögel, Fledermäuse und migrierende Libellen alle am üppigen Insektenbüfett, das kräftige Fallböen und Luftwirbel um die Hochhäuser der Stadt zur Verfügung gestellt haben — ebenso wie sich große Fischschwärme dort zum Fressen versammeln, wo Strömungen das Plankton im Meer zusammengetrieben haben.
Doch dort oben befinden sich nicht nur Insekten. Die höchsten Gebäude, etwa das Empire State Building, das One World Trade Center und andere neue Supertürme, ragen in einen Luftraum hinein, den Vögel schon seit Jahrtausenden nutzen. Die Stadt liegt am Atlantic Flyway, einer wichtigen nordamerikanischen Zugroute, auf der in jedem Frühjahr zig Millionen Vögel gen Norden zu ihren Brutgebieten und im Herbst wieder zurück ziehen. Die meisten kleinen Singvögel fliegen dabei in einer Höhe zwischen neunhundert und tausendzweihundert Metern, wobei sie die Höhe jedoch dem Wetter anpassen. Größere Vögel fliegen höher; einige von ihnen, darunter Watvögel, fliegen bis zu dreieinhalb Kilometer hoch. Hier oben werden wir nur einen Bruchteil dessen, was da über uns hinwegzieht, sehen können, denn selbst die höchsten Gebäude kratzen nur an den seichteren Stellen des Himmels.
Man kann zwar auch am Tag Zuggreifvögel in Höhen von mehr als zweihundertfünfzig Metern über der Stadt sehen, doch begeben sich die meisten Arten von tagaktiven Vögeln erst nach Einbruch der Nacht auf Wanderschaft. Das ist einfach sicherer. Es ist kühler, und es gibt weniger Fressfeinde. Weniger — nicht keine. Kurz vor meinem Eintreffen hat Farnsworth einen Wanderfalken gesehen, der ominös um das Gebäude kreiste. Die Tiere jagen nachts gern hier. Von ihren Hochhauswarten aus stürzen sie sich in die Dunkelheit hinab, um sich Vögel und Fledermäuse zu schnappen. In natürlicheren Habitaten verstecken Falken von ihnen geschlagene Vögel in Felsnischen. Die Falken hier klemmen ihre Beute in Hochhausgesimse, auch in die am Empire State Building. Für einen Falken ist ein Wolkenkratzer nichts anderes als eine Klippe: Er verschafft denselben Ausblick, denselben starken Wind und dieselben Möglichkeiten, eine Mahlzeit zu verstecken.
Wir starren ins Dunkel hinaus und sehnen uns Leben am Himmel in Sicht. Die Minuten vergehen. Plötzlich zeigt Farnsworth nach oben. »Da!«, sagt er. Weit über uns lässt sich Bewegung erahnen, ganz am Rand des Sehfelds, dort, wo sich der Himmel in staubiges Chaos auflöst. Schwungvoll setze ich mein Fernglas an die Augen. Drei blasse Paare schlagender Flügel, die in enger Formation nach Nordnordost fliegen. Nachtreiher. Sie kenne ich nur auf Ästen kauernd oder an Seen und Teichen hockend — es erstaunt mich, sie derart aus ihrem gewöhnlichen Kontext gerissen zu sehen. Wie hoch sie wohl fliegen? »Die sind ganz schön groß«, sagt Farnsworth. »Wenn man nach oben ins Licht sieht, wirkt alles viel größer, als es tatsächlich ist, und auch näher.« Er schätzt, dass sich die Reiher rund neunzig Meter über uns befinden, also mehr als vierhundertfünfzig Meter über dem Boden. Wir sehen zu, wie sie in der Dunkelheit verschwinden.
Ich komme mir hier weniger wie eine Naturforscherin als vielmehr wie eine Amateurastronomin vor, die erwartungsvoll ins Dunkle blinzelnd auf einen Meteorschauer wartet. Ich versuche es mit einer neuen Taktik: Ich richte mein Fernglas auf die Unendlichkeit und sehe schnurgerade nach oben. Und plötzlich strömen durch die Gläser für das bloße Auge unsichtbare Vögel in Sicht, über ihnen wieder Vögel und weitere über diesen. Mir schießt durch den Kopf, dass wir viele Vögel sehen. Unglaublich viele Vögel.
Auf jeden größeren Vogel, den ich entdecke, kommen dreißig oder mehr vorüberziehende Singvögel. Sie sind sehr klein. Sie am Himmel ziehen zu sehen ist beinahe unerträglich berührend. Sie ähneln Sternen, Glutfunken, langsamen Leuchtspurfeuern. Selbst durch das Fernglas sind die, die höher fliegen, winzig, geisterhafte Lichtpunkte. Ich weiß, dass sie die locker gekrümmten Zehen an die Brust gezogen haben, dass ihre Augen leuchten und ihre Knochen zart sind und dass sie von dem Willen, nach Norden zu fliegen, angetrieben werden, Nacht für Nacht. Die meisten von ihnen waren gestern noch im mittleren oder südlichen New Jersey. Größere Vögel fliegen bis zum Morgengrauen. Die Grasmücken landen gemeinhin schon etwas früher; wie Steine fallen sie auf Flecken weiter nördlich gelegenen Lebensraums, um sich am folgenden Tag auszuruhen und Nahrung aufzunehmen. Einige, etwa der Kronenwaldsänger, haben ihre lange Reise in den südöstlichen Staaten begonnen. Andere, beispielsweise der Rosenbrust-Kernknacker, haben sich aus Mittelamerika bis hierher hinaufgekämpft.
Etwas versetzt mir einen kleinen Stich ins Herz. Ich werde keinen dieser Vögel jemals wiedersehen. Ich hätte sie überhaupt nicht gesehen, wäre ich nicht so hoch oben und wären die Vögel nicht kurz von dieser Lichtsäule angestrahlt, in den Himmel geworfen von einem Gebäude, das man in den Jahren der Wirtschaftskrise errichtet hatte, um irdische Macht und das Vertrauen ins Kapital zu feiern.
Farnsworth zieht ein Smartphone hervor. Im Gegensatz zu allen anderen, die sich hier oben ein Display vors Gesicht halten, sieht er sich Radarbilder aus Fort Dix in New Jersey an, Teil eines National-Weather-Service-Radarnetzwerks, das fast den gesamten Luftraum über den Kontinentalstaaten der USA abdeckt. »Die Migration heute Nacht ist definitiv sehr stark«, kommentiert er. »Bei diesen Mustern auf dem Radar, vor allem bei den grünen hier«, fährt er fort, »kann man von potenziell ein- bis zweitausend Vögeln pro Kubikmeile ausgehen — dichter wird es fast nicht. Eine große Nacht also.« Nachdem das Wetter für Vögel, die nach Norden fliegen wollen, tagelang schlecht gewesen war, mit niedriger Wolkendecke und Wind aus der falschen Richtung, hatten sich die Zugvögel flaschenhalsartig aufgestaut, weshalb der Himmel jetzt voll von ihnen ist. Ich beobachte die auf der animierten Radarkarte aufblühende Pixelierung, ein verästeltes Blumenmuster aus Blau und Grün, das sich über die gesamte Ostküste bauscht. »Das ist Biologie in der Atmosphäre.« Farnsworth zeigt mit einem Finger auf das Display. »Es ist alles Biologie.«
Die Meteorologen haben schon vor langer Zeit herausgefunden, dass man lebende Tiere durch Radar aufspüren kann. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg rätselten britische Radarwissenschaftler und Techniker der Royal Air Force über mysteriöse Schemata und Muster, die sich auf ihren Bildschirmen zeigten. Flugzeuge waren es nicht, das wussten sie, und so tauften sie die Erscheinungen »Engel«, bevor sie schließlich darauf schlossen, dass es sich um Schwärme sich bewegender Vögel handelte. »Für sie war es Kontamination«, sagt Farnsworth über die Radarmeteorologen. »Sie wollten das Zeug rausfiltern. Heute wollen Biologinnen und Biologen genau das Gegenteil.« Farnsworth ist einer der Pioniere einer neuen, multidisziplinären Wissenschaft, passend für eine Ära, in der Wetterradar so sensibel geworden ist, dass man damit eine einzelne Hummel in fast fünfzig Kilometern Entfernung ausfindig machen kann. Man nennt sie Aeroökologie, und sie bedient sich ausgeklügelter Fernerkundungstechnologien, darunter Radar, Schall und Peilsender, um ökologische Muster und Beziehungen am Himmel zu untersuchen. »Die ganzen Vorstellungen von Aerosphäre und Luftraum als Habitat sind erst seit Kurzem in unserer kollektiven Psyche präsent«, erläutert Farnsworth weiter. Und die neue Wissenschaft hilft uns dabei zu verstehen, wie Klimawandel, Wolkenkratzer, Windkraftanlagen, Lichtverschmutzung und die Luftfahrt die Kreaturen beeinflussen, die über uns leben und über uns hinwegziehen.
Gegen zehn gleiten Zirruswolken über den Himmel wie Öl, das auf Wasser gegossen wird. Zehn Minuten später ist der Himmel wieder klar, und die Vögel fliegen immer noch. Wir gehen zur Ostseite der Aussichtsplattform. Ein Saxofonist beginnt zu spielen, und mit diesem seltsamen Soundtrack im Hintergrund sehen wir die Vögel jetzt viel näher als vorher. Vor allem einen. Obwohl er überbelichtet ist, können wir einen schwarzen Fleck auf seiner Brust und ein unverwechselbares Muster an seinem Schwanz erkennen: Es ist ein männlicher Kronenwaldsänger. Er flackert vorbei und verschwindet um die Ecke des Gebäudes. Ein wenig später sehen wir noch einen, der denselben Weg nimmt. Dann noch einen. Allmählich dämmert uns, dass dies immer derselbe Vogel ist, der um das Gebäude kreist. Ein weiterer schließt sich ihm an, beide nun hilflos vom Licht angezogen; sie taumeln um den Turm, als hingen sie an unsichtbaren Fäden. Sie so zu sehen dämpft unsere ausgelassene Stimmung. An diesem Abend ist der Turm wie eine Kerze von pulsierenden kleinen, auf und ab kletternden Lichtsäulen beleuchtet, die an den fünfundachtzigsten Geburtstag des Gebäudes erinnern sollen. Davon wurden die Vögel angelockt und von ihrem Kurs abgebracht — das Licht überforderte die exquisite Navigationsmaschinerie der Tiere, was die Tiere selbst orientierungslos macht und in beträchtliche Gefahr bringt. Nach dieser Hypnotisierung reißen sich manche der Vögel los und ziehen weiter, andere jedoch nicht.
Auf der Liste der hellsten Städte der Welt steht New York direkt hinter Las Vegas, und doch sind beide nur Lämpchen in einer künstlichen Lichterkette, die sich von Boston bis nach Washington erstreckt. Wir lieben unsere Städte für ihre nächtliche Erscheinung, doch fordert diese einen schrecklichen Tribut von ziehenden Singvögeln: In ganz Amerika liegen sie tot oder erschöpft am Fuß der Hochhäuser oder Wolkenkratzer. Durch Licht oder Reflexionen auf Glas desorientiert, prallen sie gegen Hindernisse, fliegen in Fenster, stürzen zu Boden. Allein in New York City sterben auf diese Weise mehr als einhunderttausend Vögel pro Jahr. Thomas King, Mitarbeiter der New Yorker Schädlingsbekämpfungsfirma M & M Environmental, musste schon viele Anrufe von Hochhausbewohnern beantworten, die sich wegen der vielen Vogelkollisionen in der Zugsaison sorgten. Er sagt ihnen dann, dass es zwar keine grundsätzliche Lösung für das Problem gibt, dass sie jedoch den Hausmeister bitten könnten, das Licht am Gebäude auszuschalten. Das hilft. Initiativen wie »Lights Out New York« der Audubon-Niederlassung in New York City konnten schon viele Hochhausbesitzer davon überzeugen, es den Vorreitern auf diesem Gebiet gleichzutun — das spart Energie und rettet Vogelleben.
Jedes Jahr werden beim »Tribute in Light« zwei blaue Zwillingslichtsäulen in den Nachthimmel über Manhattan gestrahlt, um an die Opfer des 11. September zu erinnern. Sie reichen sechseinhalb Kilometer in die Luft und sind noch in knapp hundert Kilometern Entfernung zu sehen. In Spitzenmigrationsnächten werden Unmengen von Singvögeln praktisch in diese Lichtsäulen hineingezogen; rufend wirbeln sie in ihnen umher, so viele, dass sie glitzernden Papierschnipseln ähneln, die sich im Wind verfangen haben. In einer Nacht im letzten Jahr war der Strudel der Vögel in den Lichtsäulen so dicht, dass die wenigen Pixel, die die Stelle des »Tributes« markieren, ungeheuer grell auf den Radarschirmen erschienen. Farnsworth war mit einem Audubon-Team dort gewesen; sie hatten dafür gesorgt, dass die Lichter zeitweise ausgeschaltet wurden, um die Zahl der Unfallopfer möglichst gering zu halten. In dieser Nacht wurde das »Tribute« acht Mal für jeweils zwanzig Minuten ausgeschaltet; so konnten sich die darin gefangenen Vögel befreien und zu ihrer Zugroute zurückkehren. Doch jedes Mal, wenn die Lichter wieder angingen, wurde erneut ein ganzer Schwung Vögel in sie hineingezogen — die Zwillingstürme Lichtgeister, die wieder und wieder von geflügelten Reisenden heimgesucht wurden. Und jedes Mal, wenn man die Reisenden in die Dunkelheit entließ, stürzte eine neue Schar heran, um ihren Platz einzunehmen. Farnsworth ist führender Wissenschaftler bei BirdCast: Mit verschiedenen Methoden — Wetterdaten, Flugrufen, Radar, Beobachtern am Boden — will die Initiative die Bewegungen von Zugvögeln in den gesamten Kontinentalstaaten der USA vorhersagen und damit außerordentlich betriebsame Nächte wie diese prognostizieren, um bei Bedarf mit Notfalllichtausschaltungen eingreifen zu können.
Während der Strom an Vögeln über der Aussichtsplattform nicht nachlässt, wird es allmählich spät. Ich verabschiede mich, nehme den Aufzug nach unten und spaziere den Hügel hinauf zu meinem Apartment. Mitternacht ist schon lange vorbei, doch ich bin hellwach. Hochhäuser und Wolkenkratzer sind teilweise deshalb so konstruiert, weil sie unsere Art zu sehen verändern sollen. Um uns andere Ansichten der Welt zu vermitteln, Ansichten, eng mit Wohlstand und Macht verknüpft. Um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die Vögel, die ich gesehen habe, waren überwiegend unidentifizierbare Lichtstreifen, dünne Kratzer auf der Netzhaut oder Leuchtfarbenspritzer vor einem dunklen Hintergrund. Bei meinem jetzigen Blick von der Straße hinauf scheint der leere Himmel über mir ein ganz anderer Ort zu sein, tiefgründig und voller Leben.
Zwei Tage später beschließe ich, im Central Park spazieren zu gehen, und finde ihn voller neuerer Migranten, die in der Nacht hier angekommen und geblieben sind, um sich auszuruhen und nach Nahrung zu suchen. Ein Kletterwaldsänger, der an einem schrägen Baumstamm tief im Ramble hin und her hüpft, ein Kronenwaldsänger, der sich in die helle Frühlingsluft aufschwingt, um Fliegen zu jagen, ein Blaurücken-Waldsänger, so adrett und agil, dass er wie ein gefaltetes Taschentuch aussieht. Diese Singvögel sind vertraute Geschöpfe mit vertrauten Bedeutungen. Es ist schwer, sie mit den entfernten Lichtern, die ich am Himmel gesehen habe, in Einklang zu bringen.
Das Leben in einem Hochhaus hindert uns daran, auf bestimmte Weisen mit der Natur zu interagieren. Dort kann man zum Beispiel keine Futterstationen aufstellen, um Rotkehlchen und Meisen im Garten beobachten zu können. Doch versetzen Hochhäuser uns in einen anderen Teil ihrer gewohnten Welt, in eine Nokturne der Eiskristalle, der Wolken, des Winds und der Dunkelheit. Hochhäuser, Symbole der Herrschaft des Menschen über die Natur, können auch als Brücken zu einem vollständigeren Verständnis der Natur fungieren — sie können den Himmel an den Boden, die Natur an die Stadt heften. Tage nach meinem Abend auf dem Empire State Building wimmelt es in meinen Träumen von Singvögeln, sowohl den aus Wäldern und Gärten vertrauten als auch den Punkten sich bewegenden Lichts, den kleinen Astronauten, den Reisenden, die mithilfe der Sterne navigieren, für eine kurze Zeit auf die Erde gefallen, bevor sie sich aufmachen und weiterziehen.