Da ist ein Fenster, und das Geratter eines Taxis, und Trauben auf dem Tisch, dunkle, süße, und auch das Taxi ist dunkel, schwarz, und in dem Taxi ist eine Frau, die ehrenamtliche Mitarbeiterin einer Wohltätigkeitsorganisation, die dir geholfen hat, als du im Auffanglager warst. Sie lehnt sich zum Fahrer, um ihn zu bezahlen, und durch den Staub und den Schmutzfilm auf dem Fensterglas sehe ich dich auf dem Gehsteig neben der offenen Taxitür stehen. Du stehst mit dem Rücken zu mir, weshalb alles, was ich sehen kann, deine hochgezogenen Schultern in einer blauen Jeansjacke sind. Sie zeugen von Sorge, nicht um dich selbst, sondern um die Frau, die die Fahrt bezahlt. Ich winke hinter dem Fenster, und du drehst dich um und siehst mich und lächelst Hallo.
Das Haus, in dem wir miteinander sprechen, ist gemietet. Ich wohne hier nicht.
Wir sitzen am Tisch, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.
Ich weiß nichts über dich.
Es ist schwer, Fragen zu stellen.
Du willst, dass ich Fragen stelle, weil es für dich einfacher ist, Fragen zu beantworten, als deine Geschichte zu erzählen. Ich will dir keine Fragen stellen, weil ich an all die Fragen denke, die man dir schon gestellt haben muss. Aber du willst, dass ich dir Fragen stelle, und so fange ich mit dieser an: Wann bist du hierhergekommen? Und du schreibst in sorgfältigen persischen Zahlen: 12, 2016. Dezember. Ich stelle weitere Fragen, und du beantwortest sie, und wenn die englischen Wörter nicht kommen wollen, übersetzt du mithilfe deines Handys, was etwas dauert, und die Sonne klatscht ihr flaches, goldenes Licht auf den Tisch, die Schale mit Trauben und die Teekanne, all diese unaufgeregten häuslichen Dinge, während ich abwarte, was du meinst. In unserem Gespräch schlägst du diese Wörter nach: Abtrünniger. Bigott. Verderben. Verstecken.
Du bist Epidemiologiestudent. Epidemiologen studieren die Art und Weise der Übertragung von Krankheiten, wie sie in einer Bevölkerung von einem Menschen auf den anderen übergehen. Du erzählst mir, dass du dich in deiner Heimat früher abends immer mit deinen Freunden in deinem Restaurant getroffen hast, um über das Christentum zu sprechen und in der Bibel zu lesen. In deinem Restaurant hingen christliche Symbole. Du wusstest, dass du dafür verhaftet werden konntest. Geheimhaltung ist überaus wichtig, aber Glaube ist eben auch Glaube.
Als du als Abtrünniger denunziert wirst, geschieht Folgendes. Die Behörden sprechen über dich, als seist du einer der Krankheitsüberträger, die du studiert hast. Eines Tages beim Freitagsgebet denunzieren sie dich namentlich, in fünf Regionen, zwei Städten und drei Dörfern. Sie sagen, eine Frau an der Universität habe dich verdorben, womit sie meinen, sie habe dich ermuntert, Christ zu werden. Sie sagen, du hättest deine Religion gewechselt. Und jetzt, da du diesen Glauben besitzt, überträgst du ihn auf andere.
Sie sehen deinen Glauben als ansteckende Krankheit. Sie wollen sie isolieren, eindämmen, und wie bei all diesen böswilligen Metaphern, die sittliches Verhalten mit Gesundheit gleichsetzen, besteht das Heilmittel immer im Ausmerzen. Du weißt, was in deinem Land mit Abtrünnigen passiert, mit denjenigen, die zu einem anderen Glauben übergetreten sind. Sogar ich weiß, was passiert. Ich kann kaum atmen, wenn ich nur daran denke.
Als der Geheimdienst dich im Haus deiner Großmutter gesucht hat, rief sie dich und sagte dir, die Männer seien deine Freunde, auch wenn sie die falsche Sprache für die Region sprachen und Kleidung trugen, die es wirklich offensichtlich machte, wer sie waren und warum sie hier waren. Aber deine Großmutter war alt, und was konnte sie dafür, dass sie Freundschaft erwartete, wenn das, was man bekam, das vergiftete Gegenteil von Freundschaft war? Dein Onkel wusste es besser. Er sagte dir, du solltest fliehen. Dein Leben ist in Gefahr, sagte er. Wie wahr. Also bist du geflohen. Und hast alles zurückgelassen.
Du fuhrst von Stadt zu Stadt und hast in einer weiter entfernten Stadt zwei Freunde deines Onkels getroffen. Sie sagten dir, sie könnten dich gemeinsam mit anderen im Auto nach Europa bringen. Als du dort warst, fragtest du dich, wohin du gehen solltest. Großbritannien ist gut, sagte dein Onkel und bot an, die Schmuggler zu bezahlen, die dich dorthin schaffen sollten. Das Auto lud dich und die anderen in einem verwilderten Garten ab, wo du dich verstecken musstest, bis mitten in der Nacht der Laster kam, in den du einstiegst.
Tage in der Dunkelheit im Inneren eines Lasters auf seinem Weg nach Norden. Ein Kühllaster. Wie viele Menschen waren mit dir da drin?, frage ich. Und du lachst und antwortest: Zehn? Ich weiß nicht. Es war dunkel! Und ich lache auch, ein wenig beschämt, und frage mich, warum ich diese kleinen Details aus dir herauspressen will. Niemand will wissen, wie so etwas ist. Wir wollen nicht wissen, wie es ist, fünf Tage und Nächte lang weder essen noch trinken noch schlafen zu können, in der schrecklichen Angst und Dunkelheit einzig durch die Hoffnung am Leben erhalten zu werden, dass da Licht ist auf der anderen Seite. Niemand will wissen, wie es ist, mit einem Messer bedroht zu werden, so wie du mit einem Messer bedroht worden bist. Mit einer Pistole bedroht zu werden von Leuten, die man dafür bezahlt hat, dass sie einen in Sicherheit bringen.
Du sagst: Das war das Schlimmste. Dann sagst du es noch einmal. Das Schlimmste.
Mehrere Male, fährst du fort, sehe ich meinen Tod.
Dann sagst du es noch einmal. Ich sehe meinen Tod.
Das, was dir am schwersten fällt, wird mir klar, sagst du immer zweimal.
Und während du Entschuldigung in die Stille hinein murmelst, in der du wartest, bis du wieder sprechen kannst, denke ich dies. Ich denke daran, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gerade erst herausgefunden haben, wie unser Gehirn Erinnerungen schafft. Früher dachte man, wir zeichneten eine Kurzzeiterinnerung auf, die anschließend archiviert, also in einen anderen Teil des Gehirns verschoben und dort im Langzeitgedächtnis abgespeichert würde. Heute weiß man, dass das Gehirn immer zwei Aufzeichnungen gleichzeitig macht. Dass es immer zwei Geschichten parallel aufnimmt. Kurzzeiterinnerungen, Langzeiterinnerungen — zwei Spuren des laufenden Gedächtnisses, verdoppelte Erinnerung. Immer doppelt.
Was dazu führt, dass uns alles, was uns je widerfährt, zweimal widerfährt.
Was uns immer zu Wesen mit zwei Seiten macht.
Du bist Epidemiologe. Du bist Flüchtling.
Du warst einer der besten Epidemiologiestudenten des ganzen Landes.
Du bist außerdem ein Asylsuchender, der mit ansehen musste, wie sich Auffanglagerinsassen mit Rasierklingen verletzt, gewalttätig um sich geschlagen, sich mit Spice betäubt haben.
Die Regierung will dich in das europäische Land zurückschicken, in dem du zuerst gelandet bist, doch das wäre gefährlich, weil Menschen dort wissen, wer du bist, Menschen, die dich bedroht und Kontakt zu den Behörden in der Heimat haben. Und so wohnst du jetzt in einer Flüchtlingsunterkunft, gemeinsam mit vierhundert anderen. Du musst dich dort einmal morgens und noch einmal abends melden. Du bist ein Student, ein Bruder, ein Sohn, der es schafft, über Telegram oder WhatsApp mit seiner Familie zu Hause zu kommunizieren. Du bist auch jemand, der den Zuständigen im Flüchtlingsheim um Hilfe bittet, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt oder Krankheiten grassieren, und der zusieht, wie der Zuständige abweisend mit den Schultern zuckt und keine Hilfe kommt. Alles, was zwischen den Geflüchteten vor sich geht, erzählst du mir, ist schlecht für Gehirn, für Kopf, für Geist. Du sagst, mit der ruhigsten, sanftesten Stimme, im Heim, da ist nichts wirklich gut. Nichts ist gut. Es ist ein sehr schlimmer Ort. Du erzählst mir, zwei Mal, dass manche Leute noch nicht einmal irgendwelche Kleidung haben.
Im Dezember hast du vom gefrorenen Dunkel im Inneren des Lasters aus die Polizei angerufen. Die Polizei hat die Türen geöffnet, dich in eine Zelle gesteckt, dich verhört, dich zweiundsiebzig Stunden lang festgehalten. Als du Asyl beantragt hast, brachten sie dich in ein Auffanglager für Einwanderer. Dort warst du achtzig Tage lang. Ich habe viel über die Bedingungen in solchen Auffanglagern gehört — Dreckslöcher werden sie auch genannt. Und so ist es ein Zeichen deiner freundlichen Zurückhaltung, dass alles, was du über dein Auffanglager sagen kannst, das ist: Die Situation dort war sehr schlecht.
Du bist ein Flüchtling, der bei einem Talentwettbewerb in einem Auffanglager vorsingt, wo die Menschen unendlich lange festgehalten werden, und du bist auch jemand, der an einem sonnigen Esstisch sitzt und laut über sich selbst lacht, als er feststellt, dass er gerade »Mein Vater ist ein Alphabet« gesagt hat, wo er doch eigentlich »Mein Vater ist Analphabet« hatte sagen wollen. Du bist jemand, der über die Lächerlichkeit eines Übersetzungsfehlers lachen kann, und du bist auch jemand, der ein Leben zurückgelassen hat, deinen Vater, deinen kleinen Bruder, deine kränklichen Familienmitglieder und jede Ecke deines Zuhauses. Dieser Verlust strömt aus dir heraus, stumm durch das Lachen, wie ein kalter Luftzug, der zu Boden sinkt und den Raum neben dem Leichten, das hier gesprochen wird, füllt.
Über dich selbst möchtest du abgesehen von den Fakten nicht sprechen. Worüber du sprechen willst, das sind die Probleme, die die Menschen um dich herum haben. Die Mitarbeiterin und Freundin von der Wohltätigkeitsorganisation erzählt mir, dass du eine Anzeige von WaterAid gesehen und sie anschließend gebeten hast, das Bisschen, das du erübrigen konntest, den notleidenden Kindern zu spenden, denn das System funktioniert nun einmal so, dass du nicht selbst spenden darfst. Sie erzählt mir, entschuldigt sich aber gleich fürs Sprechen, da dies nicht ihre Geschichte ist, dass du Obst und Linsen für die Kinder in der Flüchtlingsunterkunft gekauft hast, weil das Essen dort so schlecht ist, dass es die Menschen krank macht, und weil du sehen kannst, dass die Kinder mangelernährt sind.
Du bist jemand, dessen Augen in ungeweinten Tränen schwimmen, während du mir vom Horror deiner Reise hierher erzählst. Aber wenn du an die Menschen denkst, die freundlich zu dir waren? Dann fängst du an zu weinen. Von der Frau, die bei uns sitzt, sagst du: Ich hätte vielleicht Selbstmord, ohne sie. Als ich dich frage, ob die Menschen in der Stadt, in der du lebst, gut zu dir sind, sagst du, ja, denn wenn du sie nach dem Weg fragst, zeigen sie ihn dir. Sie zeigen ihn dir.
Ich denke über all die Geschichten nach, die wir über Geflüchtete erzählen, wie sie immer die eine oder die andere Geschichte sind, aber nie beide gleichzeitig. Tragische Geschichten oder bedrohliche Geschichten. Opfer oder Täter. Niemals kompliziert, immer simpel, immer mit sauberen Rändern. Handliche Schubladen, in die Menschen gesteckt werden, die gezwungen waren zu fliehen.
Aber der leere Raum in einer Schublade ist immer auch ein Leerraum, ein Raum zwischen Dingen, eine Lücke. Die Lücke zwischen einem Wort auf Urami oder auf Farsi oder auf Englisch. Der Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen alten Leben und neuen. Zwischen Jahren. An Neujahr im März gingst du zu dem Park in der Stadt, in der sich die Flüchtlingsunterkunft befindet, und sangst Lieder am Wasser des Sees, um das neue Jahr willkommen zu heißen. Was kann ein neues Jahr bedeuten, wenn du jung bist und nur warten kannst?
Ich will nützlich sein, sagst du. Ich will meine Zeit nicht mit Warten in dem Flüchtlingsheim verbringen. Und dann reibst du dir die Augen mit einer Hand und sagst: Bitte bete für mich. Du sagst: Die Sache ist sehr verwirrt mein Gehirn, meinen Kopf. Ich will schnell eine Rolle haben in dieser Gesellschaft. Und der Kultur. Im Moment habe ich kein Zeugnis, weil ich ein Asylsuchender bin. Und ich habe keine Rolle, anderen zu helfen, weil ich kein Geld habe und auch sonst nichts, womit ich helfen kann. Ich denke, mein Leben ist sehr kostbar. Kostbar? Du probierst das Wort als Frage aus, als sei es selbst irgendwie falsch.
Ich will es nicht mit Zeit, Warten, verbringen, sagst du. Weil ich jung bin.
Du bist jung. Du bist Student, Epidemiologe, Christ, Geflüchteter. Du willst anderen so sehr helfen, dass es mir einen Stich ins Herz versetzt. Du bist jemand, den ich nach unserem Gespräch an diesem Nachmittag zum Krankenhaus fahre, damit wir ein Foto von dir machen können, wie du vor der School for Clinical Medicine stehst, denn mit deinem Gefühl für die Zukunft verwoben ist diese Klarheit, dass du eines Tages helfen können wirst, medizinisch hier tätig sein wirst. Du bist auch jemand, der den Kopf zurückwirft und lacht, als wir feststellen, dass die School for Clinical Medicine wegen Umbaus geschlossen ist, dass die Fenster mit Brettern vernagelt sind und der Bauzaun bedeutet, dass wir das Gebäude nicht einmal sehen können. Wir fotografieren trotzdem. Wir vor den Absperrungen. Du allein, du mit der Frau, die dir hilft, du mit mir. Wir alle, alle, warten, während die Welt umgebaut wird.