Es regnet heftig, und die Luft im Wald riecht süß und weinig nach Verfall. Ich mache einen Spaziergang mit Nick, einem alten Freund und ehemaligen Promotionsberater, emeritierter Professor der Wissenschaftsgeschichte und Hobby-Pilzforscher. Seit fünfzehn Jahren schon begleitete ich ihn im Herbst immer auf der Pilzsuche; heute versuchen wir unser Glück im Thetford Forest in Suffolk. Wir haben Gartenkörbe bei uns, traditionell englisch aus Weiden- und Edelkastanienholz geflochten, um unsere Schätze verstauen zu können: vielleicht winzige Pilze mit haarfeinen Stielen, klobige Schelfe, vom Stamm verrottender Bäume gebrochen, Gebilde, die an weggeworfene runde Kissen erinnern, oder vielleicht auch Tintenfischpilze, die sich mit ihren scharlachroten Tentakeln aus dem Boden grätschen.
Die Pilzsuche kann sich überraschenderweise wie die Jagd auf Tiere gestalten, vor allem wenn man es auf essbare Spezies abgesehen hat. Es ist schon vorgekommen, dass ich auf der Suche nach Pfifferlingen unbewusst auf Zehenspitzen über bemooste Baumstümpfe geschlichen bin, als könnten sie mich sonst kommen hören. Man findet sie einfach nicht, wenn man herumläuft und direkt nach ihnen Ausschau hält. Die Pilze verfügen über die unheimliche Fähigkeit, sich vor dem suchenden Auge verstecken zu können. Statt also zu suchen, muss man den Boden um sich herum ganz anders betrachten, sich beispielsweise mit der seltsamen Phänomenologie des Laubes beschäftigen und versuchen, allen Farben, Formen und Winkeln auf dem unordentlichen Waldboden die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Hat man sich diesen entspannten und leicht räuberischen Blick dann zu eigen gemacht, schießen plötzlich überall leuchtend wachsgelbe Pfifferlinge hinter Blättern, Zweigen und Moos hervor und unterscheiden sich auf einmal deutlichst von den Falschen Pfifferlingen, die neben ihnen gedeihen. Mit genügend Erfahrung, so Nick, »kann man zumindest die bekannteren Arten zuverlässig identifizieren, auch wenn sie eine erstaunliche Vielfalt aufweisen und man nicht sagen könnte, woran genau man sie erkannt hat«. Nick ist seit seiner Jugend ein begeisterter Mykologe und hat die Namen von mindestens mehreren Hundert Pilzarten im Kopf.
Was wir gemeinhin unter Pilzen verstehen, sind die Fruchtkörper der Organismen, die Netzwerke namens Myzelien bilden. Diese Netzwerke setzen sich aus einer Vielzahl ungeheuer feiner, sich verästelnder Fäden zusammen. Manche Pilze sind Parasiten, andere ernähren sich von verrottendem pflanzlichem oder tierischem Material, und viele sind Mykorrhizapilze: Sie wachsen in und um Pflanzenwurzeln und teilen sich die Nährstoffe mit ihrem Wirt. Einen Pilz zu ernten tötet ihn nicht; in gewissem Sinne pflückt man damit nur eine Blume aus einem verborgenen Fadengewirr, das riesig und erstaunlich alt sein kann. Von einem Hallimasch in Oregon beispielsweise ist bekannt, dass er sich über eine Fläche von mehr als zehn Quadratkilometern erstreckt, außerdem soll er fast zweieinhalbtausend Jahre alt sein.
Schon bald stoßen Nick und ich auf zig Pilze, die in unregelmäßigen Halbkreisen wachsen und deren breite, abkühlendem milchigem Kaffee ähnelnde Kappen ganz plötzlich zwischen toten Blättern auftauchen. Es sind Nebelkappen, eine hier weitverbreitete Art, die allerdings als ziemlich giftig gilt. Wir lassen sie stehen und gehen weiter. Etwas später erspäht Nick ein gelbliches Glänzen im hohen Gras. Das ist schon interessanter. Er hockt sich neben den Pilz, runzelt die Stirn, schiebt Daumen und Zeigefinger unter das Exemplar und zieht es sanft aus Moos und Gras. »Tricholoma«, sagt er mit einiger Befriedigung, »Tricholoma sulphureum.« Mykologen verwenden im Allgemeinen die wissenschaftlichen Namen, wenn sie über Pilze sprechen, da die Trivialnamen meist stark variieren. Der Pilz, den Nick in der Hand hat, ist volkstümlich als Gemeiner Schwefel-Ritterling oder auch als Schwefelgelber Ritterling bekannt. Er hält ihn mir hin, ich soll daran riechen. Ein unangenehm stechender Schwefelgeruch steigt mir in die Nase, die ich auch sogleich rümpfe. Nick legt den Pilz in den Korb.
Ich bin nicht besonders gut im Pilzebestimmen, aber wenigstens besser als früher. Mit den Jahren habe ich nicht nur gelernt, einige Arten anhand ihres Aussehens oder ihres Geruchs zu erkennen — bei manchen verfärbt sich auch die Schnittfläche charakteristisch —, ich bin auch immer faszinierter davon, welchen sonderbaren Platz sie in unserer Fantasie einnehmen. Seit Jahrtausenden sucht und isst der Mensch Pilze, und noch immer haben sie die Macht, uns zu verstören, die tiefsten menschlichen Mysterien von Sex und Tod heraufzubeschwören. Besonders schockiert waren die zarten Gemüter des neunzehnten Jahrhunderts von der Gemeinen Stinkmorchel, einer — der Name lässt es vermuten — übel riechenden, Fliegen anlockenden Spezies, die aus einer eiförmigen Knolle, dem sogenannten Hexenei, herausbricht und eine Gestalt annimmt, die durch ihren wissenschaftlichen Namen Phallus impudicus recht anschaulich beschrieben wird. Von Charles Darwins Tochter Henrietta weiß man — aus den Memoiren ihrer Nichte —, dass sie in ihren reiferen Jahren regelmäßig in den Wald ging, um Stinkmorcheln zu sammeln — zu dem ausdrücklichen Zweck, sie zu Hause »bei verschlossener Tür in der tiefsten Verschwiegenheit des Salonkaminfeuers zu verbrennen, der Moral der Dienstmädchen wegen«. Unsere fortwährenden Pietäten im Zusammenhang mit Sex spiegeln sich in der Art und Weise wider, in der manche moderne Bestimmungsbücher den markanten Geruch von Pilzen wie den Risspilzen beschreiben: als »unaussprechlich« oder »ekelerregend«, und nicht als — korrekter — »spermaartig«.
Das unvorhersagbare Aufblühen wunderschöner, extrem fremder Formen aus morschem Holz, aus Mist oder aus Laub in einem Wald, der sich auf den Winter zubewegt, beschwört auch auf das Heftigste und Merkwürdigste das Leben im Tod herauf. In der baltischen Mythologie sind Pilze die Finger des Totengottes, die aus dem Erdreich herausragen, um die Armen zu speisen. Doch haben Pilze einen direkteren Bezug zur Sterblichkeit. Denn natürlich sind viele von ihnen tödlich. Man kann den Genuss eines Grünen Knollenblätterpilzes zwar überleben, aber wahrscheinlich nur mithilfe einer Lebertransplantation. Zudem ist die jeweilige Giftigkeit von Pilzen ebenso rätselhaft wie ihre spezifischen Formen. In einem Pilz kann mehr als eine Art von Giftstoff enthalten sein, und seine giftige Wirkung kann variieren, je nachdem, ob er gegart wurde, wie er gegart wurde, ob er mit Alkohol verzehrt oder ob er vor dem Verzehr vergoren wurde. Mykologen sprechen über giftige Pilze wie Herpetologen über giftige Schlangen: mit mehr als nur einem Funken bizarrer Begeisterung.
Wer Pilze sammelt, um sie anschließend zu essen, braucht schon eine gewisse Bestimmungskompetenz, wenn das Unterfangen nicht tödlich oder in ernsthafter Krankheit enden soll. Das Pilzesammeln hat also durchaus etwas Wagemutiges, etwas von wiederholt sein Leben aufs Spiel Setzen, im Angesicht fürchterlicher Möglichkeiten. Der heutige Trend, auf wild wachsende Nahrungsmittel zurückzugreifen, der teilweise berühmten Küchenchefs, die in freier Wildbahn unterwegs sind, geschuldet ist und teilweise dem nostalgischen Wunsch, sich wieder mehr mit der Natur zu verbinden, hat einige beliebte Bestimmungsbücher hervorgebracht, in denen verschiedene essbare und giftige Pilzarten vorgestellt werden. Nicks Meinung nach sind viele dieser Bücher verantwortungslos, wenn nicht gar gefährlich. »Man findet in ihnen bei Weitem nicht alles, worauf man stoßen könnte«, warnt er. Viele giftige Pilze sehen essbaren verblüffend ähnlich, und sie voneinander zu unterscheiden erfordert eine sorgfältige Untersuchung, entschlossene Hartnäckigkeit und häufig sogar die Analyse eingefärbter Sporen unter dem Mikroskop.
Knifflige Exemplare zu enträtseln ist an sich schon ausgesprochen befriedigend. Wenn man Nick am Abend nach einer Pilzexpedition besucht, findet man ihn an einem Tisch, auf dem Pilze, mehrere erschreckend teure Bände zur Pilzbestimmung, ein Mikroskop und eine Lupe ausgebreitet sind, und ihn selbst mit dem Gesichtsausdruck höchster Konzentration und Freude. »Manche Arten weisen eine unglaubliche Farbvariabilität auf«, kommt er über die Täublinge ins Schwärmen. »Ihre Farbe kann vom Regen ausgewaschen werden, dann muss man alternativ die exakte Verteilung der Warzen auf ihren Sporen heranziehen. Als Normalbürger hat man da keine Chance. Die Farben führen zu nichts, und das Mikroskop ist meist auch nicht vergrößerungsfähig genug.« Pilze zwingen uns dazu, die Grenzen unseres Verstehens anzuerkennen: Nicht alles fügt sich geschmeidig in unsere Klassifikationssysteme. Vielleicht, so stellt es sich heraus, ist die Welt zu komplex, als dass wir sie jemals ganz verstehen könnten.
Nach ein paar Stunden lässt der Regen allmählich nach. Wir sind durchnässt, waren aber sehr erfolgreich. Nicks Korb ist voller kleiner, schwer zu identifizierender und giftiger Spezies. In meinem stapeln sich essbare Pilze, darunter mehrere Rote Heringstäublinge, deren glänzende Kappen farblich an kandierte Äpfel erinnern. Wir machen uns durch ein dichtes Kiefernwäldchen auf den Weg zurück zum Auto. Die Luft ist feucht und dunkel hier drin. Zwischen den abblätternden Stämmen der Bäume ist Spinnenseide straff gespannt; ich kann sie an meiner Brust reißen spüren. Fette Gartenkreuzspinnen fallen von meiner Jacke auf den dicken Kiefernnadelteppich unter meinen Füßen. Ich will gerade auf den Weg zurücktreten, als etwas unter einem Baum in einigen Metern Entfernung meine Aufmerksamkeit erregt. Ich weiß sofort, was es ist, obwohl ich es nur aus Büchern kenne. »Eine Krause Glucke!«, rufe ich und laufe darauf zu. Der blasse, durchscheinende, fleischige Auswuchs in der Größe eines Fußballs scheint im tropfenden Schatten zu leuchten, die verworrenen Falten des Pilzes wirken wie eine enervierende Kreuzung aus gekochten Kutteln und Salzwasserschwamm. Plötzlich fällt mir auch der lateinische Name der Krausen Glucke oder Fetten Henne ein — Sparassis crispa —, dass sie parasitisch auf Nadelbäumen lebt und dass sie köstlich duftet und schmeckt, wenn man sie zerzupft und in Brühe simmern lässt. Ich hocke mich auf den nassen Waldboden, um sie mir näher anzusehen.
Wir sind visuelle Wesen. Für uns bestehen Wälder aus Bäumen und Blättern und Erde. Doch überall um mich herum gibt es ein unsichtbares, ubiquitäres Netzwerk pilzlichen Lebens, Millionen zarter Fäden, die sich von Baum zu Baum erstrecken, sich um Haufen von Kaninchenlosung herum ansammeln, Strauch und Weg, tote Blätter und lebende Wurzeln aneinanderheften. Wir wissen kaum, dass sie da sind, bis wir die Fruchtkörper sehen, die hervorsprießen, wenn die Bedingungen stimmen. Ohne den unablässigen Wasser-, Nährstoff- und Mineralienkreislauf der Pilze aber würde der Wald nicht so funktionieren, wie er funktioniert. Für mich besteht das vielleicht größte Mysterium der Pilze darin, dass sie die sichtbaren Erscheinungsformen einer lebenswichtigen und doch unbeachteten Welt sind. Ich strecke die Hand aus, breche die Hälfte des spröden, gefältelten Pilzes ab und lege sie in meinen Korb — voller Vorfreude darauf, dieses Souvenir von einem Ort zu kosten, der von Leben, das uns verborgen bleibt, nur so wimmelt.