An jedem Neujahrstag versuche ich, vor Einbruch der Dunkelheit ein paar Stunden im Wald spazieren zu gehen. Mal stand die Sonne dabei tief am Himmel, mal stapfte ich durch Schnee, mal regnete es, und mal herrschte nasskalter Nebel, der auf der Haut klebte und mehr Wasser schien als Luft. Ich spazierte durch ganze Blöcke zerzauster jugendlicher Kiefern, durch uralte Tieflandwälder, durch Buchenwälder und Forstgehölze; ich marschierte in Erlen- und Birkenhainen matschige Pfade hinunter. Manchmal gemeinsam mit der Familie oder mit Freunden, doch meistens allein. Wann genau ich mit diesen Neujahrsspaziergängen begonnen habe, weiß ich nicht mehr, aber mit der Zeit wurden sie für mich ebenso zur vertrauten Wintertradition wie der übergare Truthahn oder der zu teure Weihnachtsbaum.
Dem Spazierengehen im winterlichen Wald ist eine ganz spezielle Phänomenologie eigen. An windstillen Tagen ist er von einem so vollkommenen, weichen Schweigen erfüllt, dass sich jeder Zweig, der unter dem Tritt des Spaziergängers bricht, wie ein Pistolenschuss anhört. Die Stille macht einen selbst für das kleinste Geräusch empfänglich, das vorher im Aufruhr des Vogelgesangs untergegangen wäre. Das Rascheln einer Wühlmaus im abgestorbenen Farngestrüpp zu meinen Füßen, das trockene Kratzen einer Amsel, die auf der Suche nach Spinnen ein totes Blatt nach dem anderen umdreht. Nun, da die Bäume nicht mehr belaubt sind, sind die Tiere sichtbarer — genau wie ich. Häufig werde ich von den Alarmrufen des Eichelhähers, des Kleibers, des Rotkehlchens und des Grauhörnchens empfangen, schrille Rufe, die mir sagen sollen, dass die Tiere von meiner Anwesenheit wissen. Von Geschöpfen des Waldes beschimpft zu werden hat zwar etwas Beunruhigendes, gleichzeitig aber auch etwas Tröstliches. Die moderne Kultur der Naturwertschätzung geht oft davon aus, dass die Natur etwas ist, das man lediglich beobachten kann, wie durch eine dicke Glasscheibe. Die Alarmrufe erinnern mich daran, dass unsere Anwesenheit Folgen hat, dass die Tiere, die wir so gern beobachten, Wesen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Emotionen und Leben sind.
Der Winterwald legt das Skelett der Landschaft bloß, auf der er wächst, die geografischen Konturen von Abhängen, Senken und Talkesseln. Die Bäume in ihm werden zu Übungen in der Mustererkennung; jede Baumart verfügt über ihre ganz eigene Rindentextur, ihre ganz eigenen Winkel und Anordnungen von Ästen und Zweigen. Sind die Blätter gefallen, lässt der Winter Licht und Wetter in den Wald hinein, sodass Algen die Baumstämme, die neuerdings den Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, grün verfärben, während sich die Wintertage zum Frühling hin längen.
Da das Leben in einem Winterwald, dort, wo es fortbesteht, als leuchtendes Dach-Drehzahnmoos etwa oder als Pilzfruchtkörper, die winterlichen Frost mithilfe eines Frostschutzmittels in den Zellen überleben, weniger offensichtlich ist, verlangt es Aufmerksamkeit. In einem Jahr starrte ich lange wie gebannt auf eine Wolke von Wintermücken, die sich an einem Flecken schwachen Sonnenlichts mitten auf einem Zufahrtsweg gebildet hatte; aufs Äußerste war ich mir ihrer Fragilität, ihres nur vorübergehenden Halts in dieser Welt bewusst. Der Mangel an offenkundigem Leben im Winter erinnert mich auch an die Grenzen meiner eigenen, menschlichen Wahrnehmung. Der Großteil des Lebens hier ist entweder zu klein, als dass ich es sehen könnte, oder findet unterirdisch statt. Unter meinen Füßen verbindet ein ungeheuer weitverzweigtes Netzwerk an Mykorrhizapilzfäden Pflanzenwurzeln miteinander und mit dem Erdreich. Sie gewähren Bäumen nicht nur Zugang zu essenziellen Nährstoffen, sie dienen ihnen auch als Kommunikationsmittel.
Häufig sehen wir Bäume als unveränderlich, als altehrwürdige Wesenheiten, an denen wir die Spanne unseres eigenen Lebens, unserer eigenen kleinen Geschichten messen können. Aber Bäume wachsen, Blätter fallen, Winter halten den Boden im eisernen Griff. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass Wälder Orte der Abläufe und der konstanten Veränderung sind. Als Kind ging ich davon aus, dass die Wälder in der Nähe meines Zuhauses auf ewig so bleiben würden, wie sie waren. Heute sind viele meiner damaligen Pfade durch Birkendickichte blockiert, wenngleich meine Erinnerungen an diese Wege weiterleben.
Sommerliche Wälder vermitteln mir kaum das Gefühl der vergangenen Zeit oder der Zeiten, die noch kommen werden; sie sind voll des summenden, brummenden, funkelnden, sich stetig verändernden Lebensüberflusses. Dort scheint alles offenkundig, eine Potenzialität kann man in ihnen nicht auf Anhieb wahrnehmen. Winterliche Wälder sind das genaue Gegenteil: Sie evozieren das Vergehen der Zeit. Die Wintertage rasen immer auf die Dunkelheit zu, und bei bitterkaltem Wind freut man sich beim Spazierengehen unwillkürlich auf das warme Zuhause. Über mir und um mich herum sehe ich die Vogelnester vom letzten Jahr, gebaut für eine schon längst flügge gewordene Brut, und daneben Anzeichen des Lebens, die der dichte Bewuchs sommerlicher Vegetation für gewöhnlich verbirgt: Spechtnisthöhlen, vom Wild angeknabberte Schösslinge, Fuchsbaue, Büschel von Dachshaar an niedrigen Dornen. Und während meine Füße auf Blätter vom Vorjahr treten, ruhen diejenigen des nächsten Frühjahrs bereits eingerollt in Knospen an den Spitzen der Zweige neben und über mir.
Ist der Boden leicht von Schnee bedeckt, kann man die Fährten der Säugetiere und Vögel des Waldes lesen, um die Zeit zurückzuspulen. Fasanenschreitspuren enden mit einem Flügelabdruck, bei dem jede in den Schnee gezeichnete Handschwinge frostbesetzt ist und den Augenblick festhält, in dem der Vogel am Abend zuvor vom Boden aufgeflogen ist, um zu seinem Schlafplatz zu gelangen. In einem Wald in Wiltshire, in dem keinerlei tierisches Leben sich zu regen schien, folgte ich einmal der Spur eines Feldhasen über den Schnee zu einem Tümpel dunklen Wassers; ich sah, wo das Tier trank, und konnte anhand des Abstands zwischen den Abdrücken der fellbedeckten Sohlen auch erkennen, wie schnell oder langsam der Hase jeweils unterwegs gewesen war.
Oft halten wir Achtsamkeit, die Fähigkeit, ausschließlich im gegenwärtigen Augenblick zu verweilen, für ein spirituelles Ziel. Mich aber lehren winterliche Wälder etwas anderes: wie wichtig es ist, über die Geschichte nachzudenken. Sie können uns die letzten fünf Stunden, die letzten fünf Tage, die letzten fünf Jahrhunderte zeigen, und zwar alles auf einmal. Sie sind Holz und Erde und verrottendes Laub, der Kristallpelz des Raureifs und das Schmelzen von in der Nacht gefallenem Schnee. Sie sind aber auch Orte unterschiedlicher, eingeschobener Zeitrahmen. In ihnen knistert die Potenzialität in der Winterluft.