Nathalie Cabrol war fünf Jahre alt, als sie die erste Mondlandung im Fernsehen sah. Sie zeigte auf Neil Armstrong im Schneeflockengewirr der Übertragung und des Mondstaubs und erklärte ihrer Mutter, das, genau das, wollte sie auch tun. Auch davor schon hatte sie des Öfteren von ihrem Haus in den Pariser Randbezirken aus zu den Sternen am nächtlichen Himmel geblickt und gewusst, dass da oben Fragen auf sie warteten.
Cabrol ist eine Entdeckerin, eine Astrobiologin und -geologin, die sich auf den Mars spezialisiert hat. Sie ist Leiterin des Carl Sagan Center am SETI-Institut, einer gemeinnützigen Organisation mit Hauptsitz im kalifornischen Mountain View, die sich der Erkundung, dem Verstehen und dem Erklären des Ursprungs des Lebens im Universum verschrieben hat. Der Arbeit des Instituts haftet der Glamour von Science-Fiction an, doch beinhaltet sie streng wissenschaftliche Forschung und bedarf, wie Cabrol mir erzählte, der »Menschen, die leidenschaftlich genug sind, um sich in ernsthafte Schwierigkeiten begeben zu können«. Genau das tut sie auch: Auf der Suche nach Organismen, die in Bedingungen leben, die denen auf dem Mars ähneln, reist sie in die extremsten und gefährlichsten Ecken der Welt. Cabrol war die leitende Wissenschaftlerin eines Teams, das 2002 in der Atacama-Wüste einen experimentellen Marsrover testete, und entscheidend an der Auswahl des Landeplatzes der Raumsonde Spirit auf dem Mars beteiligt, die den Planeten von 2004 bis 2010 erkundete. Sie tauchte in hoch gelegenen vulkanischen Seen, um die Lebewesen darin zu studieren; außerdem konstruierte und installierte sie einen selbst schwimmenden Roboter auf einem See in den Anden, der stellvertretend für Seen auf dem Titan, einem der Monde des Saturns, stand.
Ich traf Cabrol an einem Oktobervormittag in Antofagasta; die chilenische Hafenstadt mit ihren oxidfarbenen Hochhäusern und Kupferskulpturen erstreckt sich zwischen ariden Hügeln und den dunklen Gewässern des Pazifiks. Ich war nach Chile gereist, um mich ihr und ihrem Team auf einer Expedition zu einer Wüste in großer Höhe anzuschließen, bei der Methoden, auf dem Mars Leben aufzuspüren, getestet werden sollten. Ich war von London nach Madrid geflogen, dann weiter nach São Paulo und von dort nach Antofagasta, im Gepäck einen Schlafsack, Tabletten gegen Höhenkrankheit und eine nicht unbeträchtliche Menge an Nervosität bezüglich der Bedingungen, die wir vorfinden würden.
Cabrol, vierundfünfzig, klein und zierlich, mit kurz geschnittenem, silbernem Haar und auffällig, geradezu klassisch hübsch, erinnert äußerlich an Isabella Rossellini mit einem ätherischen Schuss David Bowie. Ihre Augen funkeln wie polierter grau-grüner Granit und sind immer nachdrücklich mit Eyeliner umrandet, auch mitten in der Wüste. Sie ist charismatisch, herzlich und ausgesprochen witzig, besitzt aber auch eine undefinierbare, unvorhersagbare Wildheit: Mit ihr zu sprechen erinnerte mich manchmal beunruhigenderweise an Begegnungen mit Waldtieren, die sich unsicher waren, ob sie fliehen oder sich verteidigen sollten. An diesem ersten gemeinsamen strahlenden Morgen in Antofagasta, als sie in schallendes, rauchiges Gelächter ausbrach, während sie eine SETI-Institut-Fahne in die Kamera hielt, wurde mir klar, dass ich diese Frau sehr mochte.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Suche nach Leben jenseits der Erde in eine neue Phase eingetreten. Einigen Modellen zufolge könnte es auf möglicherweise hundert Millionen Planeten in der Milchstraße komplexes, mehrzelliges Leben geben. Wir wissen inzwischen auch, dass ein Planet nicht zwingend der Erde ähneln muss, damit sich Leben auf ihm entwickeln kann; so könnten beispielsweise in unterirdischen Meeren entfernter Monde wie der Saturnmonde Enceladus und Titan mikrobielle Organismen existieren. Das Universum, so erzählte Cabrol mir, wimmelt wahrscheinlich nur so von diesen einfachen Lebensformen, und Zweck unserer Expedition war es, die Methoden zum Aufspüren entsprechender Biosignaturen zu verfeinern. Biosignaturen sind Anzeichen des Lebens, auch vergangenen Lebens, seien es Organismen oder deren Strukturen, ja sogar die chemischen Verbindungen, die sie hervorgebracht haben.
Im Laufe der kommenden Wochen wollen wir fünf Stätten in verschiedenen Höhen besuchen. Je höher wir klettern, desto weiter zurück bewegen wir uns in der Zeit — nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars. Die Stätten in großer Höhe zeichnen sich durch Wasserreichtum, eine dünne Atmosphäre und ein großes Maß an UV-Strahlung aus. Sie ähneln dem Mars zu Beginn des Wandels, den er vor dreieinhalb Milliarden Jahren durchgemacht hat, als Sonnenwinde allmählich seine Atmosphäre abtrugen, womit kosmische Strahlung zur Oberfläche des Planeten durchdrang und sich das Wasser, das einst auf dem Mars floss, ins All verflüchtigte oder unterirdisch beziehungsweise an seinen Polen sammelte. In diesem Zeitraum dürfte jegliches Leben auf der Marsoberfläche abgestorben sein oder zu denselben Arten von Orten Zuflucht genommen haben, an denen das Leben in unwirtlichen Regionen auf der Erde — beispielsweise in der Atacama-Wüste — existiert. Die Marsoberfläche ist auch heute noch schädlicher Strahlung ausgesetzt, sodass es dort kein Leben geben kann, so Cabrol, vielleicht versteckt es sich aber noch irgendwo unter der Oberfläche. Die salzigen, ariden Stätten, die wir zuerst besuchen, sind terrestrische Entsprechungen des heutigen Mars.
Für Cabrol bedeutet die Suche nach Leben auf dem Mars viel mehr als die Suche nach der Antwort auf die alte Frage, ob wir allein sind oder nicht. Vor Milliarden von Jahren erreichten von Kometen und Asteroiden abgeworfene und von der Erde abgeprallte Steine den Mars und umgekehrt. Vielleicht trugen einige von ihnen frühes Leben. Hier auf der Erde Beweise für den Übergang von präbiotischer Chemie zu einer Lebensform zu finden ist unmöglich, weil entsprechende Aufzeichnungen durch die rasche geologische Aktivität der Erde sowie durch Erosion und Plattentektonik schon vor Langem zerstört worden sind. Doch auf der Marsoberfläche gibt es noch immer altes Gestein aus der Zeit, in der die Kruste des Planeten allmählich abkühlte; und wenn wir und der Mars gemeinsame Vorfahren haben, dann könnten Spuren unseres eigenen Lebens noch immer dort zu finden sein. »Der Mars könnte dieses Geheimnis für uns bewahren«, so Cabrol. »Deshalb ist er für uns etwas so Besonderes.«
Wir schreiben Oktober 2016, und Cabrol steht dem Team des SETI-Instituts, das in Chile nach besseren Methoden zur Aufspürung von Biosignaturen forscht, bereits im zweiten Jahr vor. Eine steife pazifische Brise weht verwelkte Mimosenblüten über den Gehsteig, während ich in einen Minibus klettere, um mich gemeinsam mit Cabrol und ihrem Team auf die lange Fahrt zu unserer ersten Feldforschungsstätte zu begeben, wo drei Tage für das Sammeln von Proben und für das Lösen von Problemen beim Aufspüren von Lebenszeichen vorgesehen sind. Durch die blau getönten Scheiben erscheinen die warmen Gelb- und lederfarbenen Oxidschattierungen des verwitterten Gesteins und des Sands in einem staubigen, fahlen Rot. Fredrik Rehnmark, ein Maschinenbauingenieur von Honeybee Robotics, ist entzückt: »Würde man eine Straße auf dem Mars bauen, sähe sie genau so aus!«
Wir fahren nach Norden, vorbei an hellen Steinen, die an Hügeln zu Namen und Initialen arrangiert wurden. In dieser Wüste bewegt sich fast nichts. Einige Orte hier haben sich in fünf Millionen Jahren kaum verändert. Diese mit Steinen geschriebenen Namen sind auch eine Art Biosignatur, die nicht nur die Menschen, die sie dorthin gelegt haben, überdauern werden, sondern uns alle und alle, die wir kennen.
Während es weiter landeinwärts geht, sind die Ränder der sandigen Straße zunehmend von Salz gesäumt. Die Zeit treibt dahin. Alles da draußen vor dem Fenster ist so unmarkant, dass es wie eine Theaterkulisse wirkt. Als wir an unserem Bestimmungsort angekommen sind, schlagen wir am Ufer des Salar Grande, einer fast fünfzehn Kilometer langen Salzpfanne, die vor Millionen von Jahren ein See gewesen ist, unsere Zelte auf. Ähnliche Salzpfannen gibt es auf dem Mars auch.
Durch die salzige Luft zuckt und brennt mein Gesicht, ich muss dauernd blinzeln. Der hyperaride Kern der Atacama-Wüste liegt weit im Osten; hier rollt der Nebel vom Pazifik heran und hat die Landschaft um uns herum geformt. Aus der Nähe betrachtet besteht die Salzpfanne aus breiten, polygonalen Platten, an deren Rändern sich etwas häuft, das wie halb geschmolzenes Zitronensorbet aussieht oder der schmutzige, erneut gefrorene Schnee, der sich an winterlichen Straßen sammelt. Andere Salzkristalle erinnern an Haufen trockener, dreckiger Knochen, und der Boden hinter unseren Zelten ist mit den Überresten längst aufgegebener Salzminenarbeiten übersät: Stiefel, offene Sardinenbüchsen, Zeitungsschnipsel, korrodierte Metallklumpen.
Bohrer hallen in der Morgenluft wider. Die Honeybee-Ingenieure bohren Salzkerne heraus, um prototypische Werkzeuge für zukünftige Marsrover zu testen. Ein Team von der University of Tennessee kartografiert das Gelände mithilfe einer Drohne, ein winziger dunkler Stern, der wie ein weit entferntes Wespennest klingt. Pablo Sobron, der Forscher des SETI-Instituts, analysiert Salzproben mit einem Laserspektrometer; mit einem dieser Geräte wird auch ein zukünftiger Marsrover ausgestattet sein. Und Studierende der Katholischen Universität Nordchile in Antofagasta sammeln gemeinsam mit den SETI- und NASA-Wissenschaftlern Kim Warren-Rhodes sowie Alfonso Davila Salzkristalle zur mikrobiologischen Laboranalyse.
Cabrol hebt einen Salzklumpen auf und hält ihn gegen das Licht. »Sieh mal«, sagt sie. Im Inneren des Klumpens sind zwei helle Farbbänder zu erkennen, ein rosafarbenes oben, ein grünes unten. Dabei handelt es sich um Gemeinschaften halophiler — salzliebender — Mikroben, die in dieser extremen Umgebung nur in solchen durchscheinenden Kristallen überleben können. Die grünen Bakterien fotosynthetisieren Nährstoffe aus dem Licht, das durch die rosafarbene Kolonie über ihnen fällt. Das rosa Pigment fungiert als eine Art Sonnenschirm, der beide Kolonien vor einer UV-Strahlung schützt, die sonst ihre DNA schädigen würde.
Ich bin ziemlich kleinlaut. Da laufe ich nun schon den ganzen Tag auf diesen Salzklümpchen herum und sehe das Leben vor meiner eigenen Nase nicht. »Bewohnbarkeit ist nicht immer offensichtlich«, erklärt Cabrol mir. »Sie kann auch versteckt sein.« Ich sehe zu dieser zierlichen Person, zum Salz, das ihre behandschuhten Fingerspitzen bestäubt, zum leicht verschmitzten Lächeln auf ihrem Gesicht, und blicke dann in die riesige Weite der Landschaft um uns herum. An das Ausmaß, das ihre Arbeit umfasst, zu denken macht einen schwindelig: Millionen von Kilometern an Raum, Milliarden von Jahren planetarer Evolution, die Unendlichkeit des Universums, die Schluchten und Täler auf dem Mars, die enorme Salzfläche hier, unsere kleinen Gestalten darauf und diese faszinierend widerstandsfähigen, winzigen, beinahe unsichtbaren Anzeichen von Leben zwischen Finger und Daumen.
Als Einzelkind verbrachte Cabrol viel Zeit allein in der kleinen Wohnung ihrer Familie, während ihre Eltern arbeiten waren. In dieser Einsamkeit schuf sie sich eine ganz eigene imaginäre, hermetisch abgeriegelte Welt voller Wörter und Symbole und Zahlen, in der sie Geschichten schrieb und mit dem Finger Linien im Atlas nachfuhr. Als Kind, so erzählte sie mir, hatte sie das Talent, Dinge miteinander zu verbinden, die andere nicht leicht miteinander verbinden konnten. Sie glaubt, dass dies auch heute noch eine ihrer größten Stärken als Wissenschaftlerin ist. Doch selbst als sie allmählich die ungeheure Weite des Raums begriff, blieb ihr soziales Umfeld eng umgrenzt. »Lange Zeit«, so Cabrol, »dachte ich, ich käme ohne die Interaktion mit anderen aus. Ich hatte nicht viele Freunde und suchte auch keine. Ich hatte genug. Ich war geistig beschäftigt genug.« Ihre Eltern sparten, um ihr Bücher und Zeitschriften über Astronomie kaufen zu können. Ihre Mutter hatte Verständnis für ihre Leidenschaft, ihr Vater war sich da nicht so sicher. »Für ihn war es nur eine Phase — eine Phase, die schon ziemlich lang anhält«, fügte sie trocken hinzu.
Cabrols Teenagerzeit war schwierig. Zu Hause stritten ihre Eltern, in der Schule wurde sie gemobbt, weil sie »anders« war. Einige ihrer Lehrer glaubten, sie lebe in einer Fantasiewelt. Und obwohl sie eigentlich Planetenwissenschaften studieren wollte, entschied sie sich zunächst für die geisteswissenschaftliche Richtung, da Mathematik damals nicht gerade ihre Stärke war — bis sie sie sich in ihrem späteren beruflichen Leben selbst beibrachte.
In ihrem letzten Jahr an der Universität Paris-Nanterre schrieb sich Cabrol für Geowissenschaften ein, und ihr Laborleiter schlug ihr vor, das historische Observatorium von Meudon südlich von Paris zu besuchen, wo sie Professor André Cailleux kennenlernen sollte, einen Pionier der Astrogeologie. Cailleux zeigte ihr Karten vom Mars und erzählte ihr, dass seine Kollegen an der Geschichte des Wassers auf dem Planeten arbeiteten. Vielleicht würde sie sich ihnen ja gern anschließen? »All die Jahre hatte ich gedacht, ich würde zu einhundert Prozent in die falsche Richtung laufen, und dabei führte mich mein Pfad genau dorthin, wo ich sein wollte«, so Cabrol. Nach diesem ersten Treffen sah sie sich bei den Kuppeln des Observatoriums um — sie waren ihr seltsam vertraut. »All die Kuppeln, die ich als kleines Mädchen gezeichnet hatte, immer und immer wieder dieselbe Landschaft, die planetare Landschaft, eines Planeten, der nichts als Wüste war. Und mit Saturn im Hintergrund immer ein dunkler Himmel und Kuppeln.« In Meudon hatte sie schließlich eine Möglichkeit gefunden, dem Mars näherzukommen.
Tagsüber arbeitete sie an ihrem Magisterabschluss über die Entstehung von vom Wasser ausgehöhlten Tälern auf dem Mars, doch ihre Nächte verbrachte sie an Meudons berühmtem Teleskop aus dem neunzehnten Jahrhundert, der »Grande Lunette« oder »Großen Brille«; direkt daneben lag ihr Schlafsack, damit sie sich wenigstens stundenweise ausruhen konnte. Durch das Okular konnte sie ihn sehen, den Mars. Er war klein, und am Anfang konnte sie nicht viel erkennen, doch je länger sie hinsah, desto detaillierter zeigte sich die dämmrige, veränderliche Oberfläche des Planeten, der zum Mittelpunkt ihrer Karriere werden sollte. Seine Schluchten und ausgetrockneten Seen kennt sie inzwischen so gut wie den Rücken ihrer Hände. Und es war auch in Meudon, wo sich ein Moment unauslöschlich in ihr Gedächtnis prägte. Professor Audouin Dollfus, der berühmte Astronom, der den Saturnsatelliten Janus entdeckt hatte, fragte sie, ob sie Mondstaub sehen wolle. »Wollte ich Mondstaub sehen?! Was für eine Frage!«
Er holte einen kleinen Behälter aus einem Safe; Cabrol warf einen Blick darauf und war enttäuscht. »Ich dachte: Na und? Ist das alles?« Höflich begeistert, aber insgeheim unbewegt verließ sie das Labor und machte sich auf den Weg nach Hause. Dann aber sah sie nach oben, wo der Mond hell über Paris hing, und war plötzlich von Ehrfurcht ergriffen. »Auf einmal kam mir der Mondstaub, der so unscheinbar aussah, wie das Wertvollste auf der Welt vor«, erinnerte sie sich. »Denn es geht nicht so sehr darum, was er ist, als vielmehr um die Reise, die er gemacht hat, bis er hier landete.« Für Cabrol war es eine Offenbarung. »Ich glaube nicht, dass ich beim Blick durch ein Okular je etwas Ähnliches gedacht habe: die Reise, die er gemacht hat, der Entdeckergeist, die Gefahren des Entdeckertums, die Dinge, die man akzeptieren muss, dass man Opfer bringen muss und dass dieses Opfer das eigene Leben sein kann.«
Das Entdecken befeuert ihre Fantasie. »Ich atme es, ich stelle es mir an jedem Tag meines Lebens vor, und ich träume nachts davon«, schrieb sie kürzlich in einem privaten Manuskript. Sie erzählte mir eine Kindheitserinnerung: ihr Vater, der vorsichtig die Schale einer Edelkastanie öffnet, damit sie die glänzende, marmorierte Frucht darin freilegen kann. Cabrol war wie verzaubert gewesen. Frühe Momente wie dieser pflanzten ihr den Wunsch ein, Entdeckungen zu machen, den Drang, das Wunder ans Licht gebrachter verborgener Dinge wieder und wieder zu erleben.
An der Sorbonne, wo Cabrol im Rahmen ihrer Dissertation an der Frage arbeitete, wie fließendes Wasser auf dem Mars Seen bildete, traf sie dann Edmond Grin, einen herausragenden, inzwischen emeritierten Hydrogeologen, der damals auch seinen Doktor in Astrophysik machen wollte. »Das ist genau sein Ding«, so Cabrol. »Wenn ihm langweilig ist, spielt er mit Einsteins Gleichungen herum.« Sie war dreiundzwanzig und er sechsundsechzig, als sie ihn das erste Mal sah; da sprach er vor dem Unterricht gerade mit einem Professor. »Aus irgendeinem Grund konnte ich meine Augen nicht von ihm abwenden. Ich sah ihn an und dachte: Ich kenne diesen Mann. Ich kenne diese Person. Woher kenne ich ihn nur?« Er saß beim Unterricht nicht weit von ihr weg. Dann sahen sie sich an, und: »Das war’s. Plötzlich war alles klar. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe auf ihn gewartet.«
In den darauffolgenden Jahren half Grin ihr dabei, ihre Arbeit und ihre Forschungsmethodik zu bündeln; er wirkte jedoch auch noch tiefer gestalterisch auf sie ein. »Er wandelte mich um«, so Cabrol. »Es war die reinste Magie. Wie einen Handschuh drehte er die introvertierte junge Frau, die Codes und Symbole und Romane und Aufsätze zu Papier brachte, einfach um — er kehrte mein Innerstes nach außen.«
Als Cabrol 1994 zum Ames Research Center der NASA im Silicon Valley reiste, um an einer Landeplatzstudie im Rahmen einer geplanten Mission, bei der nach Leben auf dem Mars gesucht werden sollte, mitzuarbeiten, begleitete Grin sie. Sie reisten mit nur einem Koffer, und darin befand sich eine Karte des mehr als einhundertsechzig Kilometer großen Gusev-Kraters auf dem Mars. Sie bestand aus zusammengeklebten fotokopierten Bildern der unbemannten Viking-Mission, die in den 1970er-Jahren stattgefunden hatte. »Das war damals ein ganz schön großer Schritt für uns«, erzählte Cabrol mir. Über dreißig Jahre nach ihrer ersten Begegnung sind die beiden immer noch zusammen, noch immer unzertrennlich und inzwischen verheiratet. 2010 gaben sie Lakes on Mars heraus, das erste wissenschaftliche Buch zum Thema. Cabrol nennt ihren Mann Merlin, nach dem Zauberer. Er ist mittlerweile recht gebrechlich, dies ist das erste Mal, dass sich Cabrol ohne ihn in der Atacama-Wüste aufhält. Das macht sie ungeheuer traurig, was ich allerdings erst später auf der Expedition realisiere. Dann nämlich verlässt sie die Gruppe an einem Aussichtspunkt in der Nähe von San Pedro de Atacama, geht den Hügel hinunter und blickt zu den pyramidenförmigen Abhängen des Licancabur in der Ferne — den Vulkan hatten sie einst gemeinsam erklommen. Sie neigt den Kopf zu einer Seite und rührt sich lange Zeit nicht. Sie wirkt klein und schrecklich allein.
Wir wenden uns Richtung Süden, in Richtung Altiplano, der zweitgrößten Hochebene auf der Erde, wo die Landschaft eine erstaunliche Leuchtkraft besitzt: Sie strahlt wie eine auf feines Porzellan gemalte Szene. Hier oben ist es auch feuchter, an den Hängen wachsen goldfarbene Gräser. Als Cabrol zum ersten Mal hier war und die schneebedeckten Anden vor sich hatte, war dies wie ein Schock für sie. Sie fühlte sich, so erzählte sie mir, als sei sie nach Hause gekommen. Sie spürte eine Verbindung, genau wie damals, als sie das erste Mal die Atacama gesehen hatte, in einem Live-Feed von einem Versuchsrover, der die aride Landschaft der Wüste auf eine Leinwand in einem Konferenzraum geworfen hatte. Selbst auf diese Distanz und mit der Vermittlung durch einen Roboter, so Cabrol, »war das der Beginn einer großen Liebe. Etwas zog mich dorthin.«
Eine ähnliche Affinität hat sie zum Gusev-Krater, in den sich einst Wasser aus dem gewaltigen Canyon von Ma’adim Vallis ergossen haben mag. Gemeinsam mit ihrem Mann hat Cabrol den Krater studiert und als Landeplatz für die Raumsonde Spirit ausgewählt. »Das gleiche Gefühl hatte ich beim Blick auf den Gusev-Krater von der Marsoberfläche aus. Ich war die Erste auf der Welt, die diese für uns neue Landschaft gesehen hat. Über so etwas kommt man nicht hinweg. Kann man gar nicht. Ich werde mit diesen Bildern im Kopf sterben. Das ist für immer in mir.«
Auf einer unserer langen Fahrten starrt Cabrol aus dem Fenster, mit einer Anspannung in den Schultern, die ich erst als freudige Erwartung erkenne, als wir eine Anhöhe erklimmen und vor uns die ersten dunklen Vulkangipfel erblicken. Mit einem strahlenden Lächeln dreht sie sich zu uns um und verkündet: »Ich bin zu Hause.«
Zuerst ist der Salar de Pajonales nur ein ferner weißer Fleck zwischen dunklen vulkanischen Abhängen, doch als wir bei ihm ankommen und durch seine ausgedehnten Gipssande fahren, lässt die Sonne Tausende von kristallinen Flocken aufblitzen, vergängliche Punkte grellen weißen Lichts. Das Salz hier unterscheidet sich chemisch von dem des Salar Grande. Cabrol hat dem Ort bereits vor fünf Jahren einen kurzen Besuch abgestattet und freut sich nun unbändig darüber, zurückzukehren und ihn näher zu untersuchen. Der Boden unter unseren Füßen knirscht und klirrt, als trete man auf eine Mischung aus Zucker und zerbrochenem Glas. Um uns herum liegen verstreut riesige Gipskristalle, runde, milchschokoladenfarbene Gebilde, die an bröckelnde Korallen erinnern und ihre Finger nach oben recken. Fasziniert ziehe ich einige der bodennahen, von der Sonne verbrannten Finger mit meinen Händen heraus, als zöge ich Zähne.
Hier ist es schwieriger, Leben zu finden. Erst als Bill Diamond, Geschäftsführer des SETI-Instituts, gegen einen Stein tritt, sehen wir, dass dieser von den vertrauten rosafarbenen und grünen Mikroben besiedelt ist. Mit halb von einer Spiegelbrille und einem Schal verdecktem Gesicht legt Cabrol vorsichtig die versteinerten Abdrücke uralter Bakterienkolonien namens Stromatolithen frei. Sie sehen wie schartige, zerbrechliche Tassen aus, wie kreidige Fingerabdruckdellen. Proben davon werden fotografiert, schriftlich festgehalten, in Tüten verpackt und ins Labor geschickt. Über uns beginnt die Drohne, das Terrain zu kartografieren, und hat mit dem heftigen Wind zu kämpfen.
An diesem Nachmittag springe ich mit einem Biologen und einem Biochemiker von der Katholischen Universität Nordchile, die Bakterienproben aus einem nahe gelegenen See entnehmen wollen, in einen Truck. Das türkisfarbene Gewässer ist von helleren Gipskristallen wie von einem Dickicht aus Küchenmessern umgeben. Das ist zu viel der Surrealität; irgendwie geblendet kehre ich zum Truck zurück, obwohl ich durchaus sehen kann. Es fühlt sich an, als leuchte ein weißes Licht hinter meinen Augen. Mir läuft die Nase, die Nebenhöhlen tun mir weh. Die Dinge, die ich in mein Notizbuch schreibe, haben etwas zunehmend Bizarres. Ich kritzle in Glas gestellte Fragen über eine ganze Seite, eine unheimliche Gedächtnisstütze, die später komplett versagt. Auf der Fahrt zurück sehe ich Cabrol in der Ferne, ein schlanker Schatten, der sich langsam über das fahle Feuer sonnengebackenen Gipses bewegt und mir seltsamerweise wie eine Fata Morgana vorkommt.
In dieser Nacht schlafen wir in einem verlassenen Bergarbeiterlager. In den frühen Morgenstunden liege ich in der rattendreckbestäubten Spanplatten-Wellblech-Hütte, die wir statt der Zelte benutzen, und leugne zunehmend genervt, dass ich pinkeln muss, bis ich mich schließlich doch aus meinem Schlafsack schäle. Draußen herrschen minus achtzehn Grad. Über mir sind die Sterne der südlichen Hemisphäre ganz Staub und Schrecken und Ferne und schwaches Feuer in der Nacht, und ich starre zu ihnen hinauf, starr vor Kälte und starr vor Staunen.
Dann klettern wir noch höher, zu vulkanischen Stätten, die Formationen auf dem Mars ähneln und so hoch liegen, dass der Motor unseres Minibusses nicht mehr genug Sauerstoff bekommt. Auf halbem Weg zu unserem Ziel bleibt er stehen. Wir wenden um einhundertachtzig Grad, kehren nach Antofagasta zurück und mieten einen anderen Minibus. Der ebenfalls stehen bleibt. Als wir schließlich am Geysirfeld von El Tatio ankommen, finden wir es verlassen vor. Mit seiner Lage in knapp viertausenddreihundert Meter Höhe ist es eines der höchsten aktiven Geothermalgebiete der Welt. Bei Anbruch des Tages, wenn die eiskalte Luft die Gegend in ein Feld zischender Dampfsäulen verwandelt, strömen Massen von Touristen hierher. Manche Geysire sind niedrig, kaum zu sehen und nur am schwachen Flirren warmer Luft über ihnen erkennbar; andere ähneln hohen Lehmböschungen, die dicke Dampfwolken in die Luft speien. Diese Art von vulkanischem, fumarolischem Umfeld hat es vor vier Milliarden Jahren auch auf dem Mars gegeben; alte hydrothermale Stätten wie diese gehören zu den wahrscheinlichsten Habitaten, in denen man Leben oder die Überreste früheren Lebens auf dem Planeten finden kann.
Cabrol schultert ihren rot-schwarzen Rucksack, setzt ihre schwarze Fleece-Mütze und ihre Spiegelbrille auf, nimmt einen geologischen Hammer zur Hand und beginnt, an einem inaktiven Geysir herumzuhacken. Auf seiner Oberfläche scheint es kein Leben zu geben, doch schon bald entdeckt Cabrol an der Unterseite der Kieselsinterklumpen entzückt leuchtend smaragdgrüne Chasmolithenkolonien, Mikroben, die Gesteinsrisse und -spalten besiedeln. Die heißen Quellen hier sind voller Algenmatten und Organismen, die sich an ein Leben in fast kochendem Wasser angepasst haben. Sie leuchten violett und dunkelrosa in der Sonne, ihre Farben schützen sie vor der UV-Strahlung.
Cabrol hat sich immer schon sowohl von Vulkanen als auch von Seen angezogen gefühlt, von Feuer und Wasser. Absolute Gegensätze, sagt sie, »doch arbeiten sie synergistisch zusammen, erzeugen sie Dampf, eine Energiequelle. Mit der man wiederum Strom erzeugen kann. Und damit kann man Dinge erschaffen. Wasser auf Feuer aber bedeutet Zerstörung. In meinem ganzen Leben geht es um diese Balance zwischen Schöpfung und Zerstörung. Zwischen den Dingen, die ich erschaffe, und den Dingen, die mich innerlich auffressen. Eine sehr fragile Balance.« Da gibt es dieses Muster in ihrem Leben, erzählt sie mir, bei dem auf die höchsten Höhen rasch die tiefsten Tiefen folgen. Sie erzählt mir vom Tod ihrer Mentoren, Freunde und Familienmitglieder, von Zeiten, in denen sie selbst dem Tod nah war, von Zeiten, in denen sie mit der inneren Dunkelheit kämpfte. »Die Menschen sehen in mir nur die erfolgreiche Frau, die Anführerin, doch all das ist auf Schweiß und Arbeit und Temperament gebaut. Auf Verluste, Tragödie, Tod und Tränen. Ich glaube, man kann nicht stark sein, wenn man nie verletzt wurde und gelernt hat, das zu überleben.« Während sie mir dies erzählt, sieht sie hundemüde aus. Wir sind in der dritten Woche unserer Expedition, und sie schläft schlecht, nur etwa zwei Stunden pro Nacht, sagt sie. Und von den Tabletten gegen Höhenkrankheit, die sie einnimmt, wird ihr übel.
Cabrols Suche nach Leben unter Extrembedingungen begann in der Atacama-Wüste, nahm im Jahr 2000 jedoch eine Wendung, nachdem sie im Fernsehen einen französischen Dokumentarfilm über den Kratersee auf dem Licancabur auf dem bolivianischen Altiplano gesehen hatte. Da auf dem Fernsehbildschirm war er, der perfekte Ort, um nach extremophilem Leben zu suchen, das an die überaus harschen Bedingungen von Höhenseen angepasst ist. Sie verfasste einen Forschungsantrag, schlüpfte drei Jahre später in einen schwarzen Neoprenanzug mit Gewichtgürtel und tauchte ohne Sauerstoffgerät in einem See auf rund sechstausend Meter Höhe, in dem sie Zooplanktonspezies fand, die der Wissenschaft bis dato unbekannt gewesen waren.
»Wasser ist genau mein Ding«, fährt Cabrol fort. »Ich fühle mich wohl darin. In Frieden.« In einem Familienurlaub, da war sie gerade zwei Jahre alt, ließ sie sich mit Schwimmflügeln auf dem Gardasee in Italien treiben. Anschließend kletterte sie ans Ufer, streifte die Schwimmflügel ab und kehrte ins Wasser zurück. »Irgendwie denke ich, dass ich unter Wasser nicht untergehen kann«, sagt sie und lacht. Untergetaucht schwamm sie ganz nach Instinkt in einer neuen Welt der schillernden Kiesel und lebhaften Farben. Das Freitauchen lernte sie als Teenager in Cap d’Agde an der südfranzösischen Küste. »Das war immer wunderschön und so friedlich, ganz ohne Stress«, erinnert sie sich. »Ich hatte das Gefühl, für mich selbst verantwortlich zu sein, das Sagen zu haben; das Gefühl, schöne Dinge zu sehen, erkunden und entdecken zu können.« Wir führen dieses Gespräch in ihrem Zelt, und die Stille zwischen ihren Worten ist mit dem Krachen und Flattern von Nylongewebe angefüllt; die Wände des Zelts atmen im Wind ein und aus, der Boden bauscht sich um und über unsere Füße.
»Als ich in den See tauchte«, erzählte sie weiter, »war es wie das Eintauchen in die Vergangenheit, das Betreten einer Zeitmaschine, die mir verriet, wie der Mars vor vier Milliarden Jahren gewesen ist. An einem solchen Ort sind Zeit und Raum verdreht.« In Höhenseen zu tauchen löst gewisse emotionale Zustände aus, so Cabrol, atemberaubende und intensiv spirituelle Zustände. Einmal, 2006, hing sie mitten in dem Vulkansee, zwischen Erde und Himmel, in arktisch blauem Wasser, und jeder Sonnenstrahl um sie herum wurde abgelenkt — sie hatte sich wie von Diamanten umgeben gefühlt. »Und obendrein«, fährt sie fort, »noch Ruderfußkrebse, kleines Zooplankton, winzige Garnelen, leuchtend rot. Eine wahre Sinfonie an Farben. Ich hänge also da, und die Zeit steht still. Und für den Bruchteil einer Sekunde ist alles perfekt. Ich verspüre nicht das Bedürfnis, etwas erklären zu müssen. In diesem einen Moment versteht man alles. Und es gibt nichts zu verstehen.« Dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich auf einem gar nicht mal so tief schlafenden Vulkan befand. »Ich dachte: Ich habe einen Taucheranzug und für fünfundvierzig Minuten Sauerstoff.« Sie schüttelt den Kopf. »Mein letzter Gedanke wäre so heiter und friedlich gewesen.«
Während wir im Konvoi zu unserem letzten Etappenziel hinauffahren, blicke ich auf die Atacama zurück und denke an die Apollo-Astronauten. Weit hinter und unter uns legt sich ein weicher Dunstschleier über ein weites, von Wolken durchzogenes Blau, wodurch sich unser Anstieg wie eine Reise anfühlt, bei der wir die Erde hinter uns lassen. Wir befinden uns nun mitten zwischen Vulkanen, die riesige Blasen auf der Hochebene geschlagen haben. Cabrol zeigt auf Simba, in dessen Kratersee das Team Bakterienproben sammeln will. Cabrols Geschichte ist auch mit diesem Vulkan verbunden. Sie erklomm ihn 2007 mit ihren Mitarbeitern gerade, als das Erdbeben von Tocopilla sie voll erwischte. Den Lawinen konnten sie ausweichen, doch als der Lascar — der Vulkan teilt sich einen Abhang mit seinem Nachbarn Simba — giftige Gase auszuspucken begann, machte sich etwas »chirurgisch Kaltes« in Cabrols Kopf breit: Sie dachte an nichts anderes als Logik, praktische Durchführbarkeit, Überleben. Beim Abstieg verfehlte ein gewaltiger herabstürzender Gesteinsbrocken sie nur knapp. »Und genau da«, so Cabrol, »drehte ich durch.« Sie richtete sich mitten in der Schlucht auf und brüllte den Vulkan an. »›War das schon alles?! Ist das alles, was du draufhast?!‹ Ich schrie den Berg tatsächlich an! Ich war stinkwütend!« Nachdem es ihr gelungen war, alle heil herunterzubekommen, wurde sie auf der Fahrt zurück zum Basislager beinahe ohnmächtig — teils durch die Adrenalinflut, teils aufgrund des Wissens, dass sie alle hätten sterben können.
Wir schlagen unser Lager unterhalb eines erloschenen Vulkans in einer verlassenen Militärbaracke auf, die vom Team Chilifornia genannt wird. Das Betonziegelrechteck hat zwar kein Dach mehr, doch schirmen die Seitenwände unsere Zelte gegen den Wind ab. Cabrol ruft uns alle zusammen und warnt uns davor, hier auf eigene Faust herumzulaufen. In den 1970er-Jahren stritten das benachbarte Bolivien und Chile sich um dieses Gebiet, das auch heute noch vermint ist. Das macht mir Sorgen. Noch nervöser werde ich, als ich zufällig mit anhöre, wie Cabrol und Cristian Tambley, der für die Logistik der Expedition zuständig ist, darüber sprechen, UV-Überwachungssysteme in der Region zu installieren. Starke UV-Strahlung schädigt die DNA, die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, sich bei einem UV-Index höher als elf nicht ins Freie zu begeben. In den Jahren 2003 und 2004 hat Cabrol hier unaufgeklärte UV-Stürme beobachtet, die zwar nur wenige Stunden dauerten, aber eine außergewöhnlich hohe Intensität aufwiesen. Auf dem Licancabur wies sie UV-Spitzen mit einem Index von über dreiundvierzig nach. In dieser Nacht sehe ich mich im Traum mit einem Raumanzug.
Die Fahrt zum Laguna Lejía am nächsten Morgen dauert eine Stunde; der kupferfarbene See zittert im harten Licht der Sonne. Als wir ankommen, kann Cabrol nicht verbergen, wie schockiert sie ist: »Er ist, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe — das war 2009 —, wesentlich kleiner geworden. Unser Planet verändert sich vor unseren Augen«, erzählt sie mir später, »in einer Geschwindigkeit, die extrem besorgniserregend ist.« Auf der Straße, auf der wir weiterfahren, wurde einst Vieh von Argentinien nach Chile getrieben; ich kann meine Augen kaum von den Knochen, die überall herumliegen, abwenden. Die Schädel sind so alt, dass die sich abschälenden Keratinschichten die Hörner wie zarte Kiefernzapfen oder die brüchigen Seiten in der Sonne vergessener Bücher aussehen lassen.
Schon seit vielen Jahren arbeitet Cabrol eng mit Robotertechnikern zusammen, 2011 installierte sie im Rahmen des Projekts Planetary Lake Lander einen selbst schwimmenden Roboter auf dem Laguna Negra in den Anden. Seitdem hat Cabrol es zu ihrer Mission gemacht, zwei Dinge zusammenzubringen: den Klimawandel auf dem Mars und den Klimawandel auf der Erde. Das Projekt diente nicht nur der Vorbereitung auf zukünftige Missionen zu Seen und Meeren jenseits der Erde oder schlicht dem Schaffen ähnlicher Bedingungen wie beim Klimawandel auf dem Mars, es war auch eine Möglichkeit, den Klimawandel hier und jetzt zu untersuchen. Die Region um den Laguna Negra leidet an rapider Entgletscherung, eine Veränderung, die auch uns nicht verborgen bleibt. Wir fahren zu einem anderen See weiter, der von Bächen und gefrorenem Gras umgeben ist. Der Wind ist brutal, der Himmel tief dunkelblau. Cabrol kauert sich an der Stelle auf den Boden, an der sie vor sieben Jahren Süßwasserquellen gefunden hat. Fasziniert und traurig erzählt sie uns, dass es hier wie auf dem Mars vor drei Milliarden Jahren ist. Das Oberflächenwasser hat sich zurückgezogen, doch etwas Wasser gibt es noch unter der Oberfläche. Sie kann nicht fassen, wie schnell sich das Klima hier verändert. »Vor sieben Jahren war hier eine wunderschöne Quelle, ein Teich mit Zooplankton — und jetzt unterscheidet sich das hier nicht im Mindesten vom Rest der Wüste.« Fast zärtlich kratzt sie mit der Spitze ihres geologischen Hammers am gefrorenen Schlamm. Später führt sie aus, dass die Erde selbst in keinerlei Gefahr sei. »Sie wird alles überleben, was wir ihr um die Ohren hauen. Was in Gefahr ist, ist die Umgebung, die uns möglich gemacht hat. Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen. Entweder verstehen wir das jetzt mal endgültig, oder das Leben wird weitergehen — allerdings anders als bisher.« Sie glaubt nicht an ein langsames Verschwinden: »Das wird plötzlich kommen und furchtbar sein.«
In dieser Nacht spekuliere ich in meinem Schlafsack wirr über die Bedeutung von Leben und Tod, das Schicksal der Erde, das Ende der Dinge. Ich frage Mario, einen der Expeditionsärzte, ob das Déjà-vu ein anerkanntes Symptom der Höhenkrankheit ist. »Absolut«, antwortet er. Ich bin erleichtert. Denn das passiert mir gerade ständig und fängt langsam an, mir Angst zu machen. Gestern ist ein Lama, das sich hinter einer Felsnase vor dem Wind versteckt hatte, mit bedächtiger, gemessener Anmut talkumbepuderte Steinplatten hinuntergeschritten. Ich wusste, dass ich das Tier schon einmal gesehen hatte. Mehr als zwei Mal, ganz sicher. Vielleicht sogar schon fünf, sechs Mal. Natürlich hatte ich das nicht, doch wurden diese luftgespiegelten Erinnerungen augenblicklich ineinandergeschoben und zusammengefältelt wie Spielkarten derselben Farbe, die man mit dem Daumen durchblättert. Ich habe das Gefühl, dass die Realität hier nicht verlässlich ist, als könnte ich die Hand in die Luft strecken und damit geradewegs in ein anderes Universum greifen, wenn ich nicht aufpasse oder ein wenig zu viel aufpasse. Als könnte ich eine andere Realität freisetzen, indem ich Luftecken aneinanderreibe, als versuchte ich, eine widerspenstige Plastiktüte zu öffnen. Wenn wir mit dem Auto unterwegs sind, fährt der Wind auf uns nieder und lässt Staubteufel in der Ferne tanzen, wo alles atemfeindlich wirkt.
Diese Orte in großer Höhe, so Cabrol, waren den Inka heilig; sie kletterten auf die Berge, um den Göttern rituelle Opfer zu bringen. Wir hocken uns hinter einen Felsen, wo wir Schutz vor dem unbarmherzigen Wind suchen, und Cabrol erklärt, dass hier oben die wissenschaftliche Suche nach Leben jenseits der Erde nicht von der spirituellen Suche nach dem Sinn des Lebens getrennt werden kann. »Die Inka kamen hierher, um Gott Fragen zu stellen — ebenso wie wir, irgendwie. Die Fragen sind dieselben. Wer sind wir? Woher kommen wir? Was ist da draußen? Wir versuchen, uns mit unseren eigenen Ursprüngen zu verbinden. Wir tun dies wissenschaftlich, sie taten es intuitiver.«
Cabrol hegt tiefen Respekt für die Kulturgeschichte der Landschaften, in denen sie arbeitet. Ihr Quechua-Guide Macario opferte der Inka-Göttin Pachamama, bevor er mit Cabrol und ihrem Team auf Vulkane stieg, und auch Cabrol hinterlässt regelmäßig Opfergaben, meist in Form von Kristall- oder Steinkugeln, an den hoch gelegenen Kraterseen, in denen sie taucht. Sie hatte ursprünglich vorgehabt, am Ende der Expedition zum Kratersee des Simba hinaufzuklettern, doch hatte sie keine Opfergabe für seine blutfarbenen Gewässer bei sich. Zögernd fragt sie mich, ob ich vielleicht etwas habe, das als Ersatz dienen könnte. Ich reiche ihr einen eiförmig geschliffenen Lapislazuli, den ich in San Pedro de Atacama gekauft habe. Das Ganze ist ein völlig rationaler Akt. Beide Seiten von Cabrol, die wissenschaftliche und die spirituelle, sind in ihrer Arbeit auf das Vollkommenste vereint, in ihrem beharrlichen, gewissenhaften Tasten nach der tiefgründigsten aller Fragen: Warum sind wir hier?
Cabrol hält beim Arbeiten inne. Sie starrt auf Dampfwolken, die von einem Vulkan am nahen Horizont aufsteigen. An der Basis sind sie leuchtend weiß, doch dann weichen sie rasch zu Dunstschleiern auf, die höher und höher klettern, bevor sie vor dem Himmel den Zusammenhalt verlieren. Der Dampf steigt vertikal auf, sogar in diesem gemeinen Wind, weshalb man ernsthafte Kraft hinter ihm vermuten darf. Der Vulkan ist der Lascar, der, der sich einen Abhang mit dem Simba teilt. Und es befinden sich genau jetzt Leute vom Team auf dem Simba, ortsansässige Führer, die unseren Aufstieg vorbereiten.
Cabrol ruft uns alle zusammen. Wir stehen in einer Reihe vor ihr und warten auf ihre Befehle. Sie schiebt ihre Spiegelbrille auf ihre Mütze und spricht mit knapper Autorität. Sobald die Guides vom Simba herunter sind, sagt sie, gehen wir zurück zum Lager. Dort wird sie via Satellitentelefon mit Bill Diamond sprechen, der schon wieder im SETI-Institut ist, und anschließend beim United States Geological Survey sowie bei der Universität von Chile anrufen, um mehr über die Situation hier herauszufinden. Danach wird nicht nur entschieden werden müssen, ob das Team die geplante Besteigung des Simba absagen, sondern auch, ob überhaupt jemand im Lager bleiben soll.
Da die Anrufe keine unmittelbaren schlechten Neuigkeiten bringen, bleiben wir. Cabrol wird die Aktivität des Lascar im Auge behalten und uns informieren, wenn es schlimmer wird. Sie weist uns an, in Kleidung zu schlafen und unsere Pässe bereitzuhalten, sodass wir falls nötig mitten in der Nacht aufbrechen könnten. All das füllt mich mit seltsamer Angst. Mit träger, langsamer, unter Opiateinfluss stehender Furcht. Es ist schon lange her, dass mir keines der Werkzeuge zur Verfügung stand, die ich zum Einschätzen einer Situation brauche. Wir hören, dass es vor sehr Kurzem ein Erdbeben der Stärke fünf Komma fünf in Calama gegeben hat, einer Stadt, nur anderthalb Stunden von uns entfernt. Das ist alles andere als optimal: Findet Wasser seinen Weg in die Magmakammer unterhalb des Vulkans, könnte der Vulkan ausbrechen. Eine beunruhigende Vorstellung. Ich ziehe mich in mein kleines, orangefarbenes Zelt zurück, setze mich auf mein Feldbett und scrolle mich auf meinem Handy durch Fotos von zu Hause. Draußen stirbt das Licht auf dem alten Vulkan. Ich kann Leute packen hören und das Brummen des Generators hinter der Betonziegelmauer. Tambley baut eine Wetterstation zusammen und lässt dabei »Shine On You Crazy Diamond« von Pink Floyd auf seinem Laptop laufen, das traurigste aller traurigen Lieder. Reißverschlüsse, Geflüster, Lachen, das Geräusch von Pelican-Koffern, die über unebenen Boden geschleift werden.
Ich starre auf meine Hände. Sie gleichen uralter Echsenhaut, jede Falte von fahlem Staub umrissen. Alles, was ich anhabe, ist weiß von ihm. Meine Haare fühlen sich wie eingeöltes Fell an. Eine Motte hat sich in mein Zelt verirrt, aber ich bin zu benommen, als dass ich sie entfernen könnte. Ausdruckslos beobachte ich, wie das Stückchen Leben zwischen den orangefarbenen Wänden hin und her taumelt. Die Tür des Zelts ist offen — der Falter müsste sich nur umdrehen und in die andere Richtung fliegen. Aber das tut er nicht. Ich verliere ihn für lange Minuten aus den Augen und erschrecke, als er mich berührt. Er hat sich seinen Weg auf meine Hand gestolpert und sitzt jetzt da, zitternd. Ich setze ihn nach draußen. Am nächsten Tag reisen wir ab.