In den Tagen nach dem Brexit-Referendum ging mir plötzlich ein ganz bestimmtes Ölgemälde nicht mehr aus dem Kopf: Es trägt den Titel Swan Upping at Cookham und zeigt eine Szene aus einer uralten und bunt schillernden englischen Tradition. Das »Swan Upping«, die Schwanenzählung, findet jährlich im Sommer statt; dabei legt eine ganze Flottille hölzerner Skiffs — spezielle Ruderboote — bei Sunbury-on-Thames ab und begibt sich auf eine fünftägige Reise, auf der alle Schwäne vom Oberlauf der Themse eingefangen werden. Die Mannschaften prüfen die Abstammung junger Vögel und beringen sie gemäß ihrem Besitzer: Einige gehören der Königin, andere der Worshipful Company of Vintners und wieder andere der Worshipful Company of Dyers, zwei altehrwürdigen Zünften mit Sitz in der City of London. Auf dem Gemälde ist ein traditioneller Halt der »Swan-Upper«-Boote dargestellt; man sieht den Fluss und den Gasthof Ferry Inn, Stechkähne, launische Wolken, Frauen, die Kissen tragen, eine gitterverzierte Eisenbrücke und einen Schwan, dessen weißer Hals aus aufgerolltem Seil und Segeltuch auf der Schulter eines Mannes herausragt.
Das Gemälde stammt von dem geheimnisumwitterten, exzentrischen englischen Künstler Stanley Spencer, der es halb fertig in seinem Schlafzimmer in Cookham zurückgelassen hat, als er 1915 in den Krieg zog; das Wissen, dass es dort war, hielt ihn in den darauffolgenden drei Jahren am Leben. Er hätte seinen Vorgesetzten in der Armee liebend gern erklärt, dass er an Angriffen nicht teilnehmen könne, weil zu Hause ein Bild auf ihn wartete, das er fertigstellen müsse. Bei seiner Rückkehr nahm er es in beide Hände und schrieb später in sein Tagebuch: »Da waren wir also und sahen einander an. Unfassbar, aber wahr. Dann fragte ich mich, ob das, was ich gerade erlebt hatte, auch wahr gewesen war & dann fiel mein Blick auf das Gelb des Lyditts — oder was auch immer die Bulgaren in ihren Granaten verwendet hatten — an meinen Fingern & Fingernägeln.«
Er malte sein Bild zu Ende. Doch ist der Krieg darin gefangen. Jahre zuvor hatte er den Fluss unter der Brücke mit vielgestaltigen, sonnenglitzernden kleinen Wellen versehen, die unteren, nach dem Krieg entstandenen Teile des Gemäldes aber sind leblos, trüb und dunkel. Die Boote sind in seltsamen Farben dargestellt und haben die falsche Form, in der ihm so vertrauten Landschaft seiner Kindheit herrscht eine neue und unheilvolle Fremdheit. In den Tagen nach dem Referendum, als die lilafarbenen »Take Back Control«-Pro-Brexit-Poster an den Telefonmasten in der Nähe meines Hauses in der Sonne veilchenblau verblassten, als ich davon las, dass Verbrechen aus Hass seit dem Ergebnis des Referendums um zweiundvierzig Prozent zugenommen hatten, da wurden mir zwei Dinge klar. Erstens: Spencers Gemälde war unabsichtlich das Zeugnis einer Spaltung in der Geschichte meines Landes. Und zweitens: Es verfolgte mich, weil ich mein Land derzeit kaum wiedererkannte und das Gefühl hatte, alles um mich herum sei plötzlich unheilvoll — trüb und dunkel.
Immer wieder wurde die Vergangenheit heraufbeschworen in den Zukunftsträumen der Brexit-Befürworter, genau so, wie Donald Trump sie in seinen wirren Reden jenseits des Atlantiks heraufbeschwor. Dass der Brexit-Kampagnen-Slogan des UKIP-Vorsitzenden Nigel Farage — »We want our country back«, wir wollen unser Land zurück — so bestechend war, lag teilweise daran, dass er so vage war und damit alle möglichen unzufriedenen Wählerschichten ansprach, und teilweise an seiner Doppeldeutigkeit. »Zurück« im Sinne von zurückhaben, das heißt die Nation vor Dingen retten, die als Bedrohung empfunden werden — Immigranten, gesichtslose EU-Bürokraten, Globalisierung, die »Westminster-Elite« von Großbritanniens politischem Establishment —, und »zurück« im Sinne von zeitlich zurück, wie damals, in einem unscharf definierten Goldenen Zeitalter. Ein kontinuierliches nationales Erbe und eine kontinuierliche nationale Tradition zu bewahren war erklärtes Ziel der Austrittsbefürworter. Jahrelang hatte ich in Boulevardzeitungen lesen können, dass die EU vielgeliebte englische Traditionen zerstört, haltlose Behauptungen, die EU habe vor, alles Mögliche zu verbieten, vom englischen Frühstück für Lastwagenfahrer über die Lieblingshunderasse der Queen bis zu den Perücken der Barrister an den englischen Obergerichten. Die Verschrobenheit dieser aus dem Ärmel gezogenen Plattitüden war durchaus kein Zufall: Bei der Brexit-Rhetorik ging es immer um den Kampf, die Rettung englischer Werte und der englischen Lebensart, bedrängt von Immigrationswellen und europäischer Einmischung. Sie hat Geschichte und Tradition als Waffe benutzt.
In seiner Altertümlichkeit, seinem Prunk und seiner Evokation typischster englischer Geschichte stand das Thema von Spencers Gemälde beispielhaft für all diese Aspekte, und so fragte ich mich, ob ich vielleicht etwas besser verstand, wie mir gerade zumute war, wenn ich das Swan Upping einmal aus nächster Nähe beobachtete. In ein paar Wochen war es wieder so weit, und ich beschloss, die »Upper« ein Stück ihres Weges zu begleiten. Ich hätte mich auch für andere englische Sitten und Gebräuche entscheiden können, für das Morris Dancing — Moriskentänze — etwa oder dörfliche Kricketturniere, doch ich fühlte mich nun einmal von der Schwanenzählung angezogen, einerseits aufgrund des Gemäldes und andererseits weil mich die Beziehung zwischen Naturgeschichte und Nationalgeschichte fasziniert. Symbolisch sind Schwäne schon lange mit Nationalstolz und nationaler Identität verbunden. Sie sind mit Politik verbunden.
Bei den Schwänen auf der Themse handelt es sich um Höckerschwäne, eine einheimische Art, die in Großbritannien auf eine kuriose Geschichte zurückblicken kann. In den vergangenen Jahrhunderten, als man sie für gewöhnlich gebraten zu Festmahlen servierte, gab es hier weniger frei fliegende, wilde Schwäne, und selbst heute kommen sie mir eher wie gefiedertes Vieh als wie Vögel vor: riesige, leicht bedrohlich wirkende Bewohner örtlicher Parks und Flüsse, weder gänzlich wild noch gänzlich zahm. Die Tradition von Schwänen in königlichem Besitz reicht mindestens bis ins zwölfte Jahrhundert zurück, bestimmte Scharen gewährte man per königlicher Satzung auch besonders beliebten Würdenträgern und Institutionen. Einst wurden alle jungen Schwäne des Landes jedes Jahr im Sommer eingefangen; dann stutzte man ihnen die Flügel und ritzte Muster in Schnabel oder Fuß, um das Besitzrecht anzuzeigen. Handschriftliche Aufzeichnungen dieser Markierungen gibt es heute noch: zarte Tintenlinien und -kreuze, über grafisch dargestellte Schnäbel geschrieben. Als Gänse und Truthähne als Delikatesse in Mode kamen — die weniger territorialen Tiere sind viel leichter zu halten —, ging das Besitzrecht der Schwanenscharen fast überall an die Krone zurück; Ausnahmen bildeten nur wenige Orte, beispielsweise die Themse.
In Großbritannien ruft das Töten eines Schwans noch heute eine ungeheure Entrüstung hervor: Es gilt als Verletzung des Staatswesens und grenzt an Verrat. Die Symbolik des Schwans ist in Großbritannien derart flächendeckend klar — die Tiere werden als Wahrzeichen der Monarchie und im weiteren Sinne der Nation gesehen —, dass sie schon lange Teil der Vorstellung sind, was uns ausmacht und was nicht. Von den vermeintlichen Bedrohungen für die Tiere zu imaginären Feinden der britischen Gesellschaft ist es nur ein kleiner Schritt. Alle Schwäne auf der Themse, so lautet eine Geschichte, wurden während des Bürgerkriegs von Cromwells Soldaten hingemetzelt, und erst die Wiedereinsetzung der Monarchie bevölkerte den Fluss erneut mit den Vögeln. In trauererfüllten viktorianischen Nachrufen auf Old Jack, den Schwan, der am Monarchensitz Old Buckingham House gelebt hat, ist nachzulesen, wie eine Gang kriegerischer polnischer Gänse seiner jahrzehntelangen Herrschaft über seinen Teich ein vorzeitiges Ende setzte. In einem Zeitschriftenartikel aus dem neunzehnten Jahrhundert wird behauptet, dass jüdische Federhändler Schwäne in den königlichen Parks töteten und rupften und die Überreste der Tiere anschließend an Bäume banden.
Natürlich kann man diese Fabeln des Nationaltums als Merkwürdigkeiten aus einer anderen Zeit abtun. Aber das sind sie nicht. Zu Beginn des neuen Jahrtausends beschuldigte das Boulevardblatt Sun Asylsuchende des Stehlens der königlichen Vögel zu Grillzwecken. Später sickerte durch, dass die Geschichte auf einem Anruf bei einer Auffangstation für Schwäne fußte, dem zufolge jemand dabei gesehen worden war, wie er einen Schwan in einem Einkaufswagen durch die Gegend geschoben hatte.
»Zweifelsohne essen Menschen Schwäne«, erzählte Chris Perrins mir, Schwanenexperte und emeritierter Ornithologieprofessor aus Oxford. Als Schwanenwärter der Queen begleitet Chris Perrins die »Upper« jedes Jahr. Doch er glaubt, die Täter seien unter Briten ebenso zu finden wie unter Immigranten. Viele Schwäne werden von jungen Männern mit Luftgewehren, Ziegelsteinen und Flaschen getötet — diese Verbrechen allerdings erregen in den Nachrichtenmedien weit weniger Aufmerksamkeit.
Am 19. Juli, fast einen Monat nach dem Brexit-Referendum, war ich erwartungsvoll selbst Teil der Ansicht, die Spencer gemalt hat. Es war der heißeste Tag des Jahres, die Luft war schwer und leuchtkräftig. Vertäut in trägem grünem Wasser im Schatten eines Bergahorns lag eine Ansammlung von Skiffs, deren Fahnen mit Schwänen und Kronen bestickt waren. Ich wartete darauf, dass die »Upper« aus dem Ferry Inn auftauchten, und plauderte währenddessen mit einer älteren Dame namens Siân Rider, die allein an einem Tisch saß. Sie trug einen mit Gänseblümchen geschmückten Strohhut und einen blauen Überwurf mit goldenen Sternen, den sie sich aus einer EU-Flagge genäht hatte. Sie verabscheute die Betreiber des Brexit von Herzen und war entsetzt, wie viele Leute sich seit dem Referendum ihr gegenüber als rassistisch geoutet hatten. Sie folgte den Schwanenzählern, weil der Spaziergang am Fluss ihr einerseits gute Bewegung verschaffte und ihr im Angesicht politischen Aufruhrs andererseits eine beruhigende Kontinuität bot. »Es wäre sehr schade, wenn uns unsere alten Sitten verloren gingen«, sagte sie. »Vor allem wenn man sich ansieht, was letztes Jahr auf der ganzen Welt passiert ist. Irgendwie geht alles den Bach runter. Da ist es schön, etwas zu haben, das … wie soll ich sagen … Bestand hat?« Sie schüttelte den Kopf über das Drunter und Drüber der jüngsten Geschichte und bot mir ein Minzbonbon an.
»Es ist ein Stück englische Tradition und Prunk«, erzählte Casey Fleming mir. Der durchtrainierte, fröhliche Mann mit dem silbernen Haar arbeitet als Nachhaltigkeitsmanager in Katar. Er ist mit einem der »Upper« der Queen befreundet und hat seinen Sohn Reilly mitgebracht, um das Geschehen vom Presseboot aus zu verfolgen, in dem auch mir ein Platz gewährt worden ist. Nachdrücklich betont Fleming, dass das »Upping« ein durch und durch englisches und kein britisches Phänomen ist. »Die Engländer«, sinnierte er, »sind von Natur aus Traditionalisten. Konservativ. Wir werfen unseren Anker gern in der Vergangenheit aus. Und mit dieser Art von Veranstaltung können wir das. Das ist Kultur. Abstammung. Ohne das, ohne das Zelebrieren vergangener Ereignisse, ohne Traditionen am Leben zu erhalten — was definiert einen dann als Land oder Nation?« Die Menschen in Großbritannien haben Ereignisse wie diese nur allzu gern verächtlich belächelt, so Fleming, doch allmählich wird ihnen klar, dass sie etwas Erhaltenswertes sind. »Noch vor zehn Jahren bedeutete stolz darauf zu sein, ein Engländer zu sein, Engstirnigkeit und Fremdenfeindlichkeit. Es war negativ konnotiert. Heute, denke ich, ist das anders. Und ich glaube, dass der Brexit dabei geholfen hat.« Die Bedeutungen von Traditionen können sich mit der Zeit verändern, ihre sozialen Funktionen können sich verlagern. Mittlerweile werden die Daten der Schwanenzählung dazu genutzt, die Gesundheit der Schwanenpopulation auf der Themse zu überwachen, und bevor sie morgens losfahren, treffen sich die »Upper« mit ortsansässigen Schulkindern, denen sie etwas über Schwäne und den Erhalt der Flusslandschaft beibringen.
David Barber, der Schwanenberinger der Queen, der die Aktion überwacht, kam aus dem Ferry Inn, prächtig in ein rotes Jackett mit goldenen Litzen gekleidet und mit einer Schwanenfeder an der Kapitänsmütze. Ihm folgten Perrins und die Mannschaften der königlichen Boote sowie der Boote der beiden Zünfte, erfahrene Ruderer vom Unterlauf der Themse mit weißen Baumwollkappen und ebenfalls roten Shirts. Außerdem anwesend war Wendy Hermon von Swan Support, einer wohltätigen Organisation, die kranke und verletzte wilde Schwäne gesund pflegt und wieder freilässt. Ich kletterte ins Presseboot, ein schickes hölzernes Schiedsrichterboot, und los ging es flussaufwärts auf der Suche nach Schwänen.
Lange suchen mussten wir nicht. Zwei gefiederte, schneeweiße Eisberge und ein einzelnes Schwanenküken ließen sich gelassen an den Flussvillen von Bourne End vorbeitreiben. »Allll up!«, erklang es von allen Mannschaften, die anschließend versuchten, die Schwäne mit den Skiffs in ein immer kleineres Fleckchen Wasser zu manövrieren. Durcheinander. Aufgestellte Ruder, gezuckte Achseln, laute Rufe. Als der männliche Schwan anscheinend heraldisch, tatsächlich aber defensiv die Schwingen ausbreitete, packte ihn jemand am langen Hals. »Was für ein Fang!« Doch dann lief etwas schief: Das Schwanenweibchen und das Junge duckten sich unter einen Landungssteg und entkamen flussabwärts. Die Boote eilten hinterher, fingen die beiden ab, und man versuchte es erneut. »Gut«, rief Barber über das Wasser. »So sollte das aussehen.«
Bald darauf befanden sich das Weibchen und das Junge am Boden eines Skiffs. Die schwarzen Füße mit den Schwimmhäuten hatte man ihnen oberhalb des Schwanzes mit weichen, geflochtenen Baumwollschnüren zusammengebunden, die die »Upper« in Schleifen im Gürtel ihrer weißen Baumwollhosen stecken hatten, den beiden adulten Vögeln hatten sie zudem die Flügel verschnürt. Vom Presseboot aus konnte ich die Schwäne nicht richtig sehen, nur einen geschwungenen weißen Hals in der Ferne, der an die Tülle einer eleganten Porzellankaffeekanne erinnerte. Als wir uns näherten, fiel mir das seltsam höfliche Verhalten der »Upper« auf, das sich nun, da sie Schwäne im Boot hatten, doch sehr von der beherzten Kraft unterschied, mit der die Tiere hatten eingefangen werden müssen. »Mein Schwanenhaken ist kaputt«, vertraute einer der Ruderer mir an und blickte traurig auf die lange, hirtenstabähnliche Stange, die er in Händen hielt. Der Schwanenhaken war hundert, vielleicht sogar hundertfünfzig Jahre alt. Dann fügte er verschmitzt hinzu: »Es ist so schwierig, heutzutage einen guten Schwanenhaken zu bekommen.«
Die Schwäne wurden aus den Skiffs gehievt und ehrfürchtig auf dem Rasen einer Flussvilla abgesetzt. Aus der Nähe betrachtet hatte der ausgewachsene Schwan einen schlangenartigen Hals, glitzernde schwarze Augen und einen wächsernen orangefarbenen Schnabel, aus dem nasale, quiekende Geräusche wie von einem ungeölten Gartentor drangen. Insgesamt war der Vogel eine merkwürdige Mischung aus Festigkeit und Luft. Seidig glänzende Konturfedern über dicken Daunen, Wasserperlen, die an weißen Federn hinabliefen, die Federn so dick und gekräuselt, als seien sie aus Papier gemeißelt. Das achtzehn Wochen alte Küken wirkte wie ein riesiges, schmales Plüschspielzeug. Hermon kniete sich neben das Junge und öffnete ihre Schachtel mit den Ringen. Seit Jahrzehnten schon werden den Schwänen von den »Uppern« nicht mehr die Flügel gestutzt — heute markiert man die Tiere mit Fußringen aus Edelstahl, nicht mehr mit dem Messer.
Nachdem man herausgefunden hatte, wem die Mutter des Kükens gehörte — sie war einer der Vögel der Queen —, und den richtigen Ring ausgewählt und dem Schwanenjungen an den Fuß gesteckt hatte, erklärte Barber Reilly, was sie da taten. Barbers Gesicht war von der Sonne dunkel gegerbt, die Feder an seiner Mütze leuchtete stählern hell. »Wir müssen sie uns genau ansehen, um sicherzustellen, dass mit ihnen auch alles in Ordnung ist«, erläuterte er und hob sanft das Küken vom Rasen auf. »Hier.« Reilly atmete tief durch und streckte dann beide Hände aus. Als man ihm das Schwanenjunge in die flachen Hände setzte, hoben sich seine Schultern beim Ausgleichen des Gewichts ein wenig. Später fragte ich ihn, wie es gewesen war, das Küken zu halten.
»Als wäre es in Seide eingewickelt«, sagte er mit einem schüchternen Lächeln voller Erstaunen. »Und wie hast du dich dabei gefühlt?«, fragte ich weiter. Das würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen, erwiderte er. »Hoffentlich kommt es zu mir zurück und hilft mir. Hilft mir dabei, jemand Besonderes zu sein.«
Als sich die Sonne allmählich in westliche Richtung neigte, machten wir uns noch einmal flussaufwärts auf den Weg. Da die Boote in diesem Abschnitt der Themse von motorisierten Schleppern gezogen wurden, lehnten sich die Ruderer in ihren Skiffs zurück und checkten ihre Handys auf neue Nachrichten. Wir fuhren an einigen der teuersten Immobilien in ganz Großbritannien vorüber, einer Architektur, inspiriert von den Fieberträumen verlorener Goldener Zeitalter: gewaltige Herrenhäuser im Tudor-Stil, Kunstschlösser mit Zinnen aus Beton. An Weiden, Sommerhäusern, tadellos manikürten, sonnenüberfluteten Rasen, Flussauen, wo das Vieh haxentief im Wasser stand, benommen von der Hitze. An ein paar Gras rauchenden Teenagern neben einem Wegwerfgrill. Einer Frau, die mit ihren Einkaufstüten auf einer Holzbank an einem Parkplatz saß und den Enten unten am Fluss kleine Stückchen eines Supermarktsandwiches zuwarf. Und uns zuwinkte. Genau wie die Teenager. Wie alle. Sie winkten und lächelten, und ich winkte und lächelte zurück.
Ich hatte mir eine beträchtliche Portion Zynismus für diese Reise zurechtgelegt. Doch als wir weiter flussaufwärts fuhren, empfand ich nichts als überschäumende, trunkene Freude. Unter dem Boot schossen Formationen winziger junger Fische durch sonnengetränkte Wasserpflanzen. Der Fluss war voller Fahrzeuge, die uns folgten: große Ausflugsboote mit Bars, an denen Bier ausgeschenkt wurde, und Decks, an denen sich Touristen tummelten, ein grinsender, fast nackter Mann, der so tief in sein winziges Schlauchboot gesunken war, dass es sich beim Paddeln in der Mitte des Flusses in seine Schultern grub. Wir passierten Ruderboote, Katamarane, schnittige Sportboote, die Daimler aus den 1920er-Jahren ähnelten. Über uns scherte eine Flussseeschwalbe, lichtdurchlässige, weiche Flügelschläge über einem verkehrsverstopften Fluss, und etwas an ihrem Flug machte mich glauben, sie flöge unter Wolken, doch da waren keine Wolken, da waren nirgendwo Wolken, den ganzen Tag schon nicht, der Himmel die ausgedehnte, gefirnisste Vollkommenheit leinsamenverdünnter Öle.
Ich hatte mich im Trugbild einer englischen Traumlandschaft verloren. Kein Wunder. So viele der Bücher, die ich als Kind gelesen hatte, handelten von diesem Ort, Der Wind in den Weiden ebenso wie Drei Mann in einem Boot — vom Hunde ganz zu schweigen. Hier spielten Noël Cowards elegante Sittenkomödien, Enid Blyton und Edgar Wallace hatten hier gelebt. Hier sind die Geschichten geschrieben worden, die mir beibrachten, was es bedeutet, englisch zu sein. Und so lauschte ich gespannt, als der freundliche Pressekoordinator Paul Wilmott uns eines der Little Ships zeigte, Teil einer siebenhundert Fahrzeuge starken Flotte privater Boote, die während des Zweiten Weltkriegs britische und französische Soldaten aus Dünkirchen gerettet hatten. Ich lachte laut über seine Geschichte vom Spitfire-Piloten, der unter der Brücke von Marlow hindurchgeflogen war, um seine Freundin zu beeindrucken, und anschließend von einem Generalmajor, der das Husarenstück zufällig beobachtet hatte, zur Minna gemacht wurde. Solche Geschichten sind dazu bestimmt, das beruhigende Gefühl des Nationalstolzes zu fördern, ein Nationalstolz, bei dem der Krieg allen Schreckens und jeglicher politischer Komplexität entkleidet und in ein patriotisches Märchen tapferer englischer Heldentaten verwandelt wird.
Das »Swan Upping« ist eine Fahrt im altertümlichen Sinn des Wortes, eine Reise flussaufwärts, die nicht nur das Recht auf den Besitz von Schwänen beansprucht, sondern auch von deren Bedeutung: die der Schwäne ebenso wie die des Flusses und die der »Englishness« im Allgemeinen. Die Reise geht durch eine mit Erzählungen, Überlieferungen aufgeladene Landschaft, und wie man die Ufer liest, an denen man vorbeifährt, ist Teil dessen, was man über die eigene Nation und darüber, wer man ist, glauben will. Der eine sieht vielleicht nur Dünkirchen-Boote und Linien in der Luft, die Gespenster-Spitfires gezeichnet haben. Der andere sieht in den lockeren Herden des Viehs, das im Fluss steht, vielleicht idyllische Landschaften aus dem achtzehnten Jahrhundert. Man kann dort aber auch die Geister vergessener Farmarbeiter sehen oder sich mit einer Frau verbunden fühlen, die auf einer Bank sitzt und Sandwiches aus einer Plastikschachtel isst, oder mit einer Schar Jugendlicher, die um einen Grill herumstehen und Gras rauchen. Während ich da im Boot lag, als wir auf eine neue Gruppe Schwäne zueilten, dachte ich darüber nach, dass wir immer nur die Dinge sehen, die die Welt so, wie sie unserer Meinung nach sein soll, bestätigen. Ich schämte mich ein wenig und spürte meinen kleinen Tagtraum wie eine Seifenblase zerplatzen.
Am Ende des Tages stolperte ich in Marlow vom Boot und dachte an Reillys verzücktes Gesicht, als er das Schwanenjunge hatte halten dürfen, an die gesellige Fröhlichkeit der »Upper«, an die sonnenbetüpfelte Schiffsablaufbahn bei Cookham und dann wieder an Stanley Spencer. Dieses Mal nicht an sein Gemälde, sondern an die Geschichte einer Reise, die er 1954 im Rahmen einer Kulturdelegation nach Peking gemacht hatte. Gegen Ende der Reise hielt Zhou Enlai, der chinesische Premierminister, eine lange Rede darüber, wie sehr das chinesische Volk China liebte. Anschließend bat er seine Gäste darum, auf seine Rede einzugehen — ein politisch äußerst prekärer Augenblick. Niemand wusste, was man darauf sagen sollte. »Zuerst herrschte absolute Stille«, erzählte mir der Kulturhistoriker Patrick Wright, der ein Buch zum Thema — Passport to Peking — geschrieben hat. »Dann stand Spencer zum Entsetzen seiner Landsleute auf und sagte: ›Die Chinesen lieben also ihre Heimat. Nun, das tun die Engländer auch. Kennen Sie — haben Sie jemals von Cookham gehört? Waren Sie jemals in Cookham?‹«
Damit hatte Spencer einen verblüffend erfolgreichen Schachzug gemacht, auf den eine lebhafte Unterhaltung mit Zhou folgte. Spencer sagte, die Menschen von Cookham seien wie die Menschen überall: Sie wollten ein ruhiges Leben führen, gut mit ihren Nachbarn auskommen und, wie Wright es ausdrückte, nicht bombardiert werden. »Ich fühle mich in China wie zu Hause«, fuhr Spencer fort, »weil ich das Gefühl habe, dass Cookham ganz in der Nähe ist.« Er wird für seinen Provinzialismus, sein Achtgeben auf die kleinen Dinge oft verspottet, doch war seine Vision, so Wright, letztlich eine, in der man »durch das Kleine, durch das örtlich Begrenzte in eine universellere Domäne menschlicher Erfahrung gelangt«.
Erbtraditionen wie das »Swan Upping« haben für Nationalisten einen klaren konzeptuellen Wert: Sie vermitteln das Gefühl nahtloser historischer Kontinuität, die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart auslöscht und dabei die Illusion unveränderlichen Englischseins auf Hochglanz poliert. Als ich mich jedoch an die Geschichte von Spencer in China erinnerte, fragte ich mich, ob das »Swan Upping« noch etwas anderes als der exklusionistische Traum eines sakrosankten, tief in einer imaginären Vergangenheit wurzelnden Englischseins sein könnte. Denn außer dem Gepränge hatte ich an diesem Tag auch einen wunderbar fachmännischen Umgang mit Tieren gesehen und Einblick in gelebtes Flusswissen bekommen. Skiffs, besetzt mit Mannschaften, die wissen, wie man rudert, wie man in schwierigen Gewässern navigiert, wie man Schwäne fängt, wie man sie zusammentreibt und wie man mit einem Vogel umgeht, der so groß ist wie ein Hund und einen biegsamen Hals sowie Flügel hat, die Rippen brechen können.
Das ist Handwerkswissen, eines, das man in der Lehre erlernt, nicht aus Büchern, und das eben aufgrund seiner Spezifität universell ist. Wie Spencers Cookham-Dörfler in China ist es gerade aufgrund seiner Örtlichkeit global und lässt sich nicht leicht in simple Geschichten von Ethnie und Nationalität, von »wir« und »sie« einpassen. Später an diesem Abend, als der Vollmond aufging, in Luft, die schwer vom Duft der Lindenblüten war, dachte ich daran, dass es immer auch Gegenerzählungen gibt, verborgene Stimmen, verschollene Leben, andere Arten zu sein, und dass es durchaus möglich ist, selbst in der am tiefsten verwurzelten Tradition ein anderes, inklusiveres England zu sehen. Mir gefiel der Gedanke, dass prachtvolle historische und politische Narrative ins Straucheln geraten könnten, nur ein ganz klein wenig, angesichts eines geschickten Umgangs mit Dingen, die nicht wir sind. Kleinen Dingen. Schwänen, Flüssen, Booten, Strömungen, zusammengeknoteten Schlaufen geflochtener Baumwollschnüre.