Die Hirsche driften in die Bäume hinein und aus ihnen heraus wie Ein- und Ausatmen. Sie scheinen unerwartet feingliedrig und kalt, als flösse kühle Luft von ihnen auf den Boden, um sich dort mit dem Nebel zu vermengen, der ihre Beine und sich wendenden Flanken halb verdeckt. Sie sind nicht zahm: Ich komme nicht näher als etwa einhundert Meter an sie heran, bevor sie in die Finsternis schlüpfen. Man hat mir gesagt, diese speziellen Tiere seien Damhirsche der Menil-Art, eine Farbmorphe, bei der die Genetik die normalerweise dunkleren Töne des Fells zu hellem Sepia und Elfenbein ausgewaschen hat. Außerdem sind sie Abkömmlinge einer Herde, die im sechzehnten Jahrhundert für die Jagd hierhergebracht wurde, zum Verfolgen, Fangen und Kochen bestimmt. Äußerlich hat sich das Anwesen seitdem nicht viel verändert. Es ist noch immer ein ausgedehntes Flickwerk von Weide und Wald — nur dass heute die M25 mitten hindurch verläuft, sechs Spuren rauschenden Verkehrs hinter einem Maschendrahtzaun durchsetzt mit grünschnäbeligen Bäumchen. Der Nebel verdichtet sich, es wird dunkler, die Hirsche tauchen auf und verschwinden wieder, und das tiefe Brüllen der Autobahn brennt mir in der Brust, während ich auf die Brücke zugehe, die über sie hinwegführt. Sie ist vollständig mit Gras bepflanzt; in der Abend- und Morgendämmerung, so sagte man mir, nutzen die Hirsche sie als Übergang von einer Seite des Grundstücks auf die andere. Ich weiß, dass meine Anwesenheit sie davon abhalten wird, die Brücke zu überqueren, also will ich mich hier nicht zu lange aufhalten, doch bleibe ich eine kleine Weile, um die Lichterlawine unter mir zu beobachten. Eine Zeit lang scheint die Straße nicht real. Dann tut sie es auf einmal, mit überraschender Heftigkeit, und in diesem Moment sind die Brücke und die Wälder hinter mir es nicht. Ich kann nicht beides gleichzeitig in einer Welt festhalten. Hirsche und Wald, Nebel, Geschwindigkeit, eine Verwehung nassen Laubs, rauschender Lärm, Altmetalllaster, ein Konvoi von Sattelzügen, Wasserperlen auf meinen Stiefelspitzen und meine sengenden Hände auf dem kalten Eisengeländer.
Hirsche und Rehe besetzen in meinem persönlichen Pantheon der Tiere einen einzigartigen Platz. Es gibt viele Geschöpfe, über die ich sehr wenig weiß, und dazu gehören auch Rehe und Hirsche — mit dem Unterschied, dass ich über sie auch nie mehr herausfinden wollte. Sie sind wie ein fernes Land, das zu bereisen ich nie das Bedürfnis verspürte. Ich kenne zwar die Namen verschiedener Hirsch- und Reharten und kann die am häufigsten vorkommenden anhand ihres Aussehens auch identifizieren, der wirklich unerheblichen Mühe aber, die es mich kosten würde nachzuschlagen, wann die Tiere Junge haben, wie sie ihr Geweih entwickeln und abwerfen, was sie fressen sowie wo und wie sie leben, habe ich immer widerstanden. Und jetzt und hier auf der Brücke frage ich mich, woran das liegt.
Vielleicht beruhen meine Gefühle bezüglich der Tiere teilweise auf ihrem Platz in der britischen Kultur. Vor etwa fünf Jahren erschienen Bilder von ihnen plötzlich überall auf Heimtextilien und Haushaltswaren. Hirschkerzen, Hirschtrinkgläser, Hirschkopftapeten, Geweihe auf Vorhängen und Kissen, Pseudotrophäenköpfe aus Schottenmusterstoff. An Rentiermotive in der Weihnachtszeit war ich gewöhnt, dieser Wild-Wildwuchs allerdings war neu. Zu der Zeit schrieb ein Branchenvertreter ihn der Liebe der britischen Öffentlichkeit zu gemütlichen Landgasthöfen und Kaminfeuern im Winter zu, doch vermute ich, dass mehr dahintersteckte als die Sehnsucht nach saisonaler Gasthofatmosphäre. Die Jahre nach der Finanzkrise von 2008 waren durch eine zunehmende Glorifizierung der Mythen des Englischseins gekennzeichnet, die vom Florieren von Büchern über Land und Landleben bis zu Zweiter-Weltkrieg-Postern mit »Keep Calm and Carry On«-Durchhalteparolen sowie bedruckten Chintzschürzen reichte — ganz zu schweigen von dem starken Ruck in Richtung politischer Populismus. Blutet ein Land, hält es gern an Vorstellungen von sich selbst in einer ersehnten Vergangenheit fest, und ein so simples Motiv wie ein Hirschkopf kann als Polsterknopf fungieren, der einen ganzen Haufen nützlicher Bedeutungen zusammenkreppt.
Im Allgemeinen steht der Hirsch für ein eher konservatives Weltbild. Das habe ich zwischen zwanzig und dreißig gelernt, als ich viel Zeit mit Jägern, meist männlichen Jägern, verbrachte. Viele von ihnen hegten eine heimliche Bewunderung für die Anstrengungen, die vor Kraft strotzende Hirsche unternehmen, wenn sie miteinander um einen Harem fügsamer Hirschkühe konkurrieren. Und etwa zur gleichen Zeit verbrachte ich einen regnerischen Nachmittag mit dem Durchstreifen einer Ausstellung in einer Londoner Galerie, in der Gemälde von Edwin Landseer gezeigt wurden. Die Wände waren übersät von traurigen Hunden, glänzenden Pferden, verschiedenem britischem Wild, das in Stücke gerissen wurde, und zahlreichen Porträts von Rothirschen, die mir wie die Verkörperung der elitären viktorianischen Männlichkeit als solcher erschienen. Landseers Hirsche waren prächtig und gehetzt und ausgezeichnet darin, Posen einzunehmen, »Monarchs of the Glen«, Monarchen der Täler, deren fragile Herrschaft auf ewig von Emporkömmlingen bedroht ist, deren geweihgekrönte Häupter immer perfekt ins rechte Licht des Bergsonnenscheins gesetzt sind — der Inbegriff von Stärke, allein dadurch, dass sie sind, was sie sind, zu eisernen Handlungsweisen gebündelt.
Als ich die Brücke verlasse und wieder auf den Pfad einbiege, lässt das Rauschen des Verkehrslärms allmählich nach. Es ist mittlerweile zu dunkel, um die Hirsche sehen zu können, doch höre ich den dumpfen Schlag von Hufen auf Gras, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass die Autobahn den schwächsten Lichtschimmer hinter die Bäume wirft. Irgendetwas an diesem Ort, denke ich, wird das Rätsel meiner Einstellung zu Hirschen lösen, und allmählich begreife ich, dass es bei diesem Rätsel nicht nur um eine Säugetierart geht. Es geht um Tiere im Allgemeineren, und es geht dabei, warum ich nicht mehr über sie wissen will, um ein größeres Warum.
Ich trotte zum Auto zurück. Ob die Autofahrer, die hier vorbeifahren, manchmal wohl nach oben blicken und sehen, wie sich eine ganze Geweihprozession gegen den Himmel abzeichnet, ein langsames Defilee uralter Kreaturen, die sich über moderne Infrastruktur bewegen? Der Gedanke erweckt viel ältere Vorstellungen der Tiere zum Leben: die weißen Hirsche als keltische Gesandte aus der Unterwelt, Geschöpfe in mittelalterlichen Romanzen, deren Auftauchen den Beginn einer Suche oder eines großen Abenteuers verheißt. In dieser Tradition sind Hirsche kaum greifbare, unheimliche Wesen mit der tiefsten spirituellen Bedeutung, und ihr Erscheinen ist immer eine Überraschung. Ich denke da an einen ruhigen, kalten Nachmittag vor fast zwanzig Jahren, als ich mürrisch durch einen kleinen Wald in der Nähe des Hauses meiner Eltern hatschte, über mein Leben nachgrübelte und es zutiefst unbefriedigend fand. Plötzlich stieg hinter einem Dornengestrüpp auf einem umgefallenen Baum langsam eine kleine Rauchwolke auf und leuchtete schwach auf ihrem Weg nach oben durch die winterlichen Sonnenstrahlen. Ich war außerordentlich beunruhigt. Als ich näherkam, nahmen Unverständnis und Beunruhigung noch zu: ein ausladender Bogen wie von gewölbten Knochen, etwas Skelettartiges hinter den Blättern, dann sprang der ruhende Damhirsch, dessen aufsteigenden Atem ich gesehen hatte, auf und verschwand krachend zwischen den Bäumen. Mein Herz pochte wild, es raste, und noch lange Zeit danach schien der Wald wie neu, mit vielfältigen Möglichkeiten versehen, ebenso wie für lange Zeit danach auch mein Leben.
Dass ich nicht sehr viel über Hirsche und Rehe weiß, hat meine Begegnungen mit ihnen weniger wie Begegnungen mit echten Tieren und mehr zu Tableaus des Zufalls, der Symbolhaftigkeit und der Emotion gemacht. Mein Nichtwissen, denke ich, dient einem bestimmten Zweck. Übersetzt bedeutet es etwa: Ich wünschte, es gäbe mehr Magie auf der Welt. Und dann tauchen die Hirsche und Rehe auf und sagen: Bitte sehr. Das bedeuten die Tiere für mich. Sie stehen für die Fähigkeit der Natur, zu überraschen und meine Erwartungen zunichtezumachen. Und ich will, dass sie genau das tun, etwas anderes sollen sie für mich nicht sein.
Während ich in der Dunkelheit nach Hause fahre, weiß ich, dass ich durch die Geografie des Ortes, den ich soeben besucht habe, zu diesem Verständnis gelangt bin, durch die Verbindung von Asphalt und Lastwagen und Hirschen. Denn die Fähigkeit der Tiere zu überraschen, das Alltägliche auszuhebeln, hat nicht nur etwas mit Legenden oder abwegigen, leicht sich verflüchtigenden Mutmaßungen zu tun. Sie ist auch eine schonungslose Tatsache, blutig und häufig tödlich, die so oft geschieht, dass es im Englischen dafür sogar ein Akronym gibt: DVC, deer — vehicle collision, der Zusammenstoß eines Fahrzeugs mit einem Hirsch oder Reh. Für mich zum Glück bislang immer nur eine Beinahekollision.
Vor ein paar Jahren fuhr ich nachts mit dem Auto eine abschüssige Kurve hinab, als direkt vor mir ein Hirsch auf der Straße auftauchte, starr vor Schock, bevor er sich in die Luft erhob, leuchtend hell und irgendwie bewegungslos, wie die etiolierten Pferde mit ausgestreckten Läufen auf Jagddrucken aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein sengendes Kribbeln kroch unter meiner Haut entlang, und das Auto fühlte sich so leicht an, als rutschte es auf Wasser, noch bevor ich bremste. Was mir abgesehen von der blendenden Hitze des Augenblicks von diesem endlosen Moment am lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist, sind die adrette Winkligkeit der Hinterläufe und die harte Landung des Tiers in der Hecke, die Art, wie es sich in diesen schraffierten, dornigen Widerstand drückte, bevor es verschwand. Für den Rest der Fahrt sah ich nur noch Hirsche auf der Straße, wo gar keine Hirsche waren.
Hirsche sind gefährliche Tiere. In Amerika sterben rund zweihundert Menschen jedes Jahr nach Kollisionen mit ihnen, und während die offizielle Zahl solcher Kollisionen etwa anderthalb Millionen beträgt, ist sie wahrscheinlich wesentlich höher, weil viele dieser Unfälle nicht gemeldet werden. Die korrekte Empfehlung für Fahrer, die auf einen Hirsch oder ein Reh auf der Straße treffen, lautet, niemals auszuweichen, da die meisten Menschen sterben, wenn sie das Lenkrad verreißen und dann in Bäume, Mauern, Zäune oder andere Autos krachen. Doch wie könnte man nicht ausweichen? Da ist es, direkt vor dir, aus der Schwärze ausgeschnitten und von einem Heiligenschein aus reflektiertem Licht umgeben, ein schlagendes Herz in der Größe einer Faust in hundert, hundertfünfzig Pfund Perlmutt und Schrecken. Es rast mit achtzig, neunzig Stundenkilometern auf dich zu. Wie könnte man da etwas anderes tun als ausweichen?
Wer in einer Gegend wohnt, in der es häufig zu solchen Unfällen kommt, kann sich einen Wildwarnton zulegen: kleine Pfeifen, die außen am Fahrzeug befestigt werden und die Tiere vor dem herannahenden Auto warnen sollen. Manche Fahrer schwören darauf, doch es ist vielleicht nur das Wissen, dass die Pfeife da ist, das sie anders fahren lässt, vielleicht etwas langsamer, etwas defensiver, etwas mehr auf einen kreuzenden Hirsch vorbereitet, denn ich habe gelesen, dass es keinerlei statistische Beweise für die Wirkung der Vorrichtung gibt und die Tiere sie möglicherweise noch nicht einmal hören können. Diese technischen Lösungen funktionieren wie Nazar-Amulette, deren blaues und weißes augenförmiges Glas vor dem bösen Blick schützt.
Meiner Freundin Isabella ist es passiert. Sie ist Künstlerin, eine wirklich ausgezeichnete. Bei unserer ersten Begegnung vergoldete sie frische Obststücke, um sie in geriffelte, glänzende Goldklümpchen zu verwandeln und aus ihrem langsamen Verfall im Laufe der darauffolgenden Monate Kunst zu machen. Ich fragte sie: »Du bist mit einem Hirsch kollidiert. Wie war das?« Sie zog die Augenbrauen zusammen, ein klein wenig: »Wie eine Kollision mit dem Göttlichen.« »Du hast Euripides gelesen, stimmt’s?«, erwiderte ich. »Ja, habe ich.« Und noch einmal: »Eine Kollision mit dem Göttlichen.« Als sie nachts auf eine Schnellstraße wechselte, wurde sie von den Scheinwerfern eines Autos geblendet, das sich auf der falschen Spur befand. Es war bereits mit einem Rothirsch kollidiert, den sie nicht sehen konnte. Er lag quer auf der Fahrbahn. »Ich bin über ihn hinweggefahren«, sagte sie, bei der Erinnerung an das Heben und Senken des Autos zitternd, an das Gefühl nachgebenden Fleischs und des knackenden Brustkorbs. Der Hirsch war vielleicht schon tot oder nur benommen, jedenfalls riss das Gewicht des Autos ihn auf, und eine Blutflut ergoss sich über die nasse Straße. Ihre Schweinwerfer waren direkt darauf gerichtet. »Da war so viel Blut«, sagte sie und lehnte sich dabei nach vorn, die Augen auf meine geheftet. »So. Viel. Blut.« Sie erzählte mir, sie hatte das Entsetzen ihrer Tochter auf dem Beifahrersitz riechen können. Die Luft an diesem Abend war neblig, gelb vom Widerschein der Natriumdampflampen, und dann, dann dieses Laken aus Blut, das sich vor dem Auto bis in alle Ewigkeit zu erstrecken schien.
»Wie in The Shining?«, fragte ich.
Sie sah mich ruhig an, als hätte ich nicht ein einziges Wort von dem, was sie gerade gesagt hatte, gehört.
»Viel schlimmer.«
Straßen gehören uns. Wir erwarten auf ihnen keine Dinge, die nicht wir sind, nichts, was von seinem Revier in das unsere wechselt, und schon gar nicht mit solch brutaler Körperlichkeit. Selbst wenn man bei einem solchen Unfall ungeschoren davonkommt, kann er sich auf das ganze nachfolgende Leben auswirken. Das sieht man ansatzweise in Filmen, in denen Unfälle dieser Art ins Drehbuch geschriebene Schockerlebnisse sind, ein Horrorfilm-Zusammenzucken, ausgewählte Dei ex Machina, die die Erzählung zum Entgleisen bringen, während Autos zu Schrott gefahren werden. Manchmal bricht der Hirsch dabei durch die Windschutzscheibe. Es fließt Blut, ein Geweih füllt das Auto wie ein Kandelaber, und das sterbende Tier blickt die Figur, für die das Ereignis die tiefste Bedeutung hat, direkt an. Manchmal liegt der Hirsch im Film nach der Kollision noch auf der Straße. Wenn das der Fall und der Hirsch nicht tot ist — und in Hollywood ist er meist nicht tot —, stellt sich die Frage, wie man das darstellen soll. Oft gibt das Tier dann Geräusche von sich, die sterbende Hirsche nicht machen, und es handelt sich um einen Animatronikhirsch, denn es gibt Firmen in Hollywood, die tote Hirsche häuten, das Fett entfernen, den Kadaver trocknen lassen und ihn anschließend über ein Gestell mit einem Mechanismus stülpen, der, ist der Kadaver erst wieder mit Haut bedeckt, das langsame Ein und Aus des Atems imitiert. Hirschkollisionen auf der Leinwand werfen ein grelles, traumatisches Licht auf das Innerste der Figuren, die das Pech haben, sie zu erleben. Und das tun sie oft auch in der Wirklichkeit.
Tief im Innersten wissen wir alle, dass Autofahren immer bedeutet, das Schicksal herauszufordern. Wir sind nur sehr gut darin, so zu tun, als tue es das nicht. Der Wildwechsel ist Teil unseres Wetteinsatzes, den wir beim Fahren so gut wir können verdrängen, während wir durchs Leben gleiten. Überlebende einer Kollision erzählen später oft, nach dem Unfall habe sich alles verändert, ihr Leben sei ihnen kostbarer und riskanter erschienen als zuvor. Die tiefgreifendsten Auswirkungen der Kollision sind danach engstens mit ihrem Selbstgefühl verflochten, und sie sprechen von ihr als von einem Ereignis, das keinen Raum für das Profane, das Willkürliche, das Rationale lässt. Häufig jedoch sprechen sie gar nicht von ihr. »Das Auto hatte einen Totalschaden«, sagen sie, oder: »Die Windschutzscheibe war zertrümmert«, als sei es ein Tabu, den anderen an der Kollision Beteiligten zu erwähnen. Und dann dieser Satz, immer und immer wieder: »Es kam aus dem Nichts.« Das Schicksal taucht aus dem Nichts im Scheinwerferlicht auf und leuchtet wie ein gottverdammtes Einhorn, und welche Bedeutung die Fahrer auch immer aus der Kollision für sich selbst ableiten, fällt so unvermeidlich wie jede mittelalterliche Allegorie auf sie zurück. Erkenne dich selbst, sagt der Unfall und schlägt eine Schneise in alles Alltägliche, löscht das Alltägliche aus. Sieh dich an. So bist du. Die antiken Dichter nannten diesen Augenblick der Selbsterkenntnis Anagnorisis.
Die meisten Zusammenstöße mit Wild passieren zwischen Einbruch der Dunkelheit und Mitternacht und dann wieder in den frühen Morgenstunden vor der Dämmerung. Einerseits weil dies die Zeiten sind, in denen das Wild sich bewegt, und andererseits weil wir uns zu diesen Zeiten in traumartigen Bewusstseinszuständen befinden. Das Fahren in der Abenddämmerung und Dunkelheit ist der perfekte solipsistische Traum. Im Scheinwerferlicht folgt Anstieg auf Kurve auf Begrenzungszaun auf vorbeiziehende Häuser; wir rufen diese Dinge ins vorübergehende Dasein und beschmieren sie mit Licht und Masse, bevor sie wieder verschwunden sind. Und weil alles, was wir sehen, unablässig zu uns heran- und unter uns hinweggezogen wird, ist es leicht, der Illusion zu erliegen, wir selbst bewegten uns nicht, während die Welt in uns hineinströmt. Die minimalen körperlichen Kräfte, die das Gelände ausübt, das geisterhafte Summen der Straßenoberfläche, die geringfügigen Kräfte der Winkel und Hügel — all das können wir in unseren Knochen und in der Flüssigkeit in unseren Ohren spüren. Und so kann es mehr als überraschend sein, wenn plötzlich ein Tier direkt vor uns auftaucht — es kann den Anschein erwecken, als hätten wir es mit einem Teil unseres Wesens selbst erschaffen, als hätte unser Unterbewusstsein es zum Leben erweckt.
Seit meiner Rückkehr aus dem Hirschwald ist mein eigenes Unterbewusstsein voller Hirschkollisionen. Fahre ich durch ländliche Wälder, umklammern meine Hände das Lenkrad in ängstlicher Erwartung einer Katastrophe. Nachts träume ich von Straßen, von Nebel, von Ölspuren mit Hufabdrücken, von Rissen in der Windschutzscheibe, von Herden fliehender Hirsche. Ich erwähne diese eigenartige neue Besessenheit in Mails an Freunde. »Geht es dir gut?«, kommt zurück. »Passiert da gerade etwas Schlimmes in deinem Leben?« »Es geht mir gut«, antworte ich. »Ich glaube, ich will nur über Kollisionen mit Hirschen schreiben, das ist alles.« Sie haben einen Vorschlag: »Hast du schon mal auf YouTube nachgesehen? Du weißt, dass es dort Zusammenschnitte von echten Unfällen gibt?« Natürlich gibt es die. Ich will sie mir nicht ansehen, ebenso wenig wie Videos anderer traumatischer Ereignisse, anklickbare Zahlungsmittel im Internet, weit schlimmer als das zufällige Zusammentreffen eines Hirschs mit dem Kotflügel auf der Fahrerseite eines Autos. Dennoch setze ich mich vor den Computer, suche eines der Videos heraus und drücke auf Play.
Das Video besteht aus Dashcam-Filmmaterial von vielen verschiedenen Fahrzeugen, das zu einer langen Montage von Kollisionen mit Hirschen und Rehen zusammengeschnitten ist. Als Erstes muss ich dabei an Ego-Shooter-Videospiele denken, da das Wild so unerwartet auftaucht, dass es wie ein geisterhafter Bildfehler wirkt — bis es auf Metall trifft. Noch einmal. Ein weiterer Zusammenstoß. Schnitt. Es ist jetzt abenddämmerig, die Lichter einer Tankstelle, das Gemurmel einer Sendung im Radio. Ein Reh, das auf das Auto prallt und sich mehrmals in der Luft überschlägt, bevor es schwer und tot auf dem grasbewachsenen Straßenrand landet. Das Auto fährt langsamer und hält an. Eine Frau steigt aus. Sie trägt ein blaues, mit Fransen besetztes Top und eine Ärmelstola aus Wolle über den Schultern. Sie geht zu dem Reh, sieht zu ihm hinab, sieht zum Fahrer zurück und hebt beide Hände, mit den Handflächen nach oben, in einer Geste der Hilflosigkeit. Nun steigt der Fahrer aus, entschlossen, ignoriert das Reh und lehnt sich nach unten, um die Vorderseite seines Wagens zu untersuchen. Ein weiteres Fahrzeug, ein weiteres mitangehörtes Gespräch, eine weitere Kollision, eine weitere Dashcam, vom Armaturenbrett genommen und auf erschrockene Gesichter gerichtet. Ich drücke die Pausentaste, stehe auf, laufe in der Küche auf und ab. Ich setze mich wieder, lasse das Video weiterlaufen und halte es erneut an. Es fällt mir immer schwerer fortzufahren. Manchmal springt das Wild in hohem Bogen über die Motorhaube und entkommt unverletzt, doch meistens tut es das nicht; es schlägt längs auf der Motorhaube auf und rutscht hinunter oder zerschmettert die Windschutzscheibe oder wirbelt wie ein Balletttänzer in einer Parabel aus Geweih und Fleisch und Knochen davon. Ich sehe das Bauschen von Fell beim Kontakt mit einem Kotflügel, höre das Klicken von Hufen, die auf Stahl treffen. Was mich am meisten überrascht, als ich mir dieses furchtbare Gemetzel wieder und wieder ansehe, ist, wie hoch das Wild in die Luft geschleudert wird. Drei, dreieinhalb, sechs Meter, es überschlägt sich, schlaff und erbarmungswürdig. Gegen Ende des Videos beginne ich, die Kommentare darunter zu lesen. Ich ahne schon, dass sie abstoßend sein werden, und das sind sie auch. »Cool, wie bei einer Stoffpuppe«, schreibt einer. Ein anderer mutmaßt, Hirsche und Rehe hätten wohl keinen sonderlich hohen IQ. Ein wieder anderer hält die Tiere für akut suizidgefährdet. »Bin ich der Einzige, der es sauwitzig findet, wenn sie vom Auto ABPRALLEN?« Die Antwort lautet: Nein. »Oh, Mann«, schreibt einer, »ich hab lange nicht mehr so über einen Zusammenschnitt gelacht! Tolle Arbeit, ehrlich jetzt!«
Ich lache nicht. Ich sitze sehr still da. Es dauert lange, bis ich begreife, wie bestürzt ich bin. Mein Papagei versteht schneller, wie ich mich fühle, als ich selbst es tue; er springt von seinem Sitz auf einer Stuhllehne, saust die Tischplatte entlang und schmiegt sich an meinen Unterarm. Er reckt seinen weichen, fedrigen Hals, um sanft an meinem Handrücken zu knabbern.
Ich habe mir eine Reihe von äußerst gewaltsamen Todesfällen angesehen, und der Körper eines Hirschs oder Rehs ist groß genug, dass er uns unweigerlich an unseren eigenen erinnern muss. Doch das ist nicht der Grund für meine Bestürzung, zumindest nicht der einzige. Der Ton der Kommentare könnte einen aus der Fassung bringen, ist im Netz aber im Großen und Ganzen Standard. Außerdem ist unangemessenes Lachen keine ungewöhnliche Reaktion auf eine emotionale Schwierigkeit. Nein, meine Bestürzung beruht eher darauf, dass die Kommentatoren die Tiere wie die Hindernisse, die zufälligen Gegner sehen, die man in Videospielen überwinden muss, um weiterzukommen; als Dinge, deren Vorhandensein zwar Folgen hat, die an sich aber kein bedeutungsvolles Dasein haben. Und in dem Augenblick begreife ich, dass der Großteil meiner Bestürzung auf mich selbst gerichtet ist.
Ich schätze Hirsche und Rehe für ihre Fähigkeit, mich zu überraschen und zu erfreuen, weshalb ich es vermieden habe, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Je mehr man über etwas weiß, desto weniger kann es einen überraschen. Allerdings ist es schwer, Mitgefühl mit etwas zu empfinden, dessen Realität man sich entschlossen hat zu ignorieren — womit sich meine Haltung gar nicht mehr so sehr von der derjenigen unterscheidet, die sich beifällig zur Physik eines sterbenden Hirschs oder Rehs äußern oder den Zusammenstoß mit einem solchen Tier sauwitzig finden. Derlei Unfälle sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, weil sie meine eigene Einstellung zu Hirschen und Rehen widerspiegeln, gewissermaßen in Großbuchstaben und von Blut, zerfetztem Fell und Glasscherben bedeckt: Bei ihnen geht es einzig um Wild, das überrascht und unsere Erwartungen an die Welt durchrüttelt. Ich sitze am Tisch und denke an Hirsche und Rehe, die sterben, weil sie keine Vorstellung von der Natur der Straße haben. Die sterben, weil sie Geschöpfe mit eigenem Leben sind, mit eigenem Lebensraum und eigenen Pfaden, Gedanken und Bedürfnissen. Ich glaube nicht, dass ich jemals über den Anblick eines Rehs lachen könnte, das mit einem Auto zusammenprallt. Doch auch ich wasche meine Hände nicht in Unschuld. Ich schließe das YouTube-Fenster und öffne eine Webseite, auf der gebrauchte naturkundliche Bücher angeboten werden. Und kaufe ein Buch mit dem Titel Understanding Deer.