Ich stehe auf rissigem Asphalt neben einem Hochsicherheitszaun am östlichen Rand von Irland. Der Himmel hat die Farbe von kaltem Zinn, der Salzwind ist bitter. Obwohl ich den weiten Weg hierhergekommen bin, um Tiere zu beobachten, habe ich mich gerade von den einzigen Vögeln, die ich sehen kann, abgewandt. Die Irische See hat den kilometerweit sich erstreckenden Sand hinter mir perfekt weiß gewaschen, wie Perlen schimmern Möwen und Scharen ziehender Watvögel darauf. Es ist wunderschön. Doch haben meine Freunde Hilary und Eamonn mir geraten, meinen Blick stattdessen auf Dublins Kraftwerk Poolbeg zu richten, das Spielzeug eines Riesen, brutale Turbinenhallen mit Blick auf den leuchtenden Strand. Dies hier, inmitten von Kläranlagen, verfallenen Backsteinbauten, Landungsplätzen, Kränen und Schiffscontainern, ist ein wahrlich bizarrer Ort für eine Tierpilgerfahrt. Zwei stillgelegte Schornsteine mit vertikalen Roststreifen und horizontalen Bändern aus Rot und Weiß ragen über uns auf. Sie steigen als Erstes am Horizont auf, wenn man sich Irland von Osten, vom Meer aus nähert, und sie sind das Letzte, das man sieht, wenn man Irland auf demselben Weg wieder verlässt. Sie sind von der gesamten Stadt aus sichtbar, weshalb eine ganze Generation von Dublinern sie mit Heimat gleichsetzt — ebenso wie die Wanderfalken, die seit Jahren auf ihnen nisten.
Eine Zeit lang geschieht nicht viel. Wir beobachten Scharen von Tauben, die im schattenlosen Winterlicht am Dachrand herumtrippeln. Allmählich fühle ich mein Gesicht nicht mehr, so kalt ist es. Auf einmal trudelt eine Taube wie ein geworfener Feuerwerkskörper unterhalb der Schornsteine durch ein zerbrochenes Fenster in die Dunkelheit dahinter. Ihr Sturzflug hat etwas Schreckliches. Ist sie abgeschossen worden? Hat sie eine Art Anfall gehabt? Es dauert etwas, bis mir klar wird, dass die Taube versucht hat, so schnell wie möglich ins Innere zu gelangen, und dann wird mir auch klar, dass die Falken da sind.
Etwas in der Form eines schmalen, schwarzen Ankers erscheint und rast wie an einer unsichtbaren Seilrutsche befestigt auf den westlichen Schornstein zu. Etwas Lebendiges mit einer solchen Geschwindigkeit auf die Erde zustürzen zu sehen beschert mir einen Kloß im Hals. Ein schwacher, widerhallender Ruf weht zu uns herüber, das seltsame Kazick-kazick einer auf- und zuschwingenden ungeölten Tür. Es ist das Männchen, der Terzel. Er dreht ab, breitet die Schwingen aus, um zu bremsen, und landet auf dem Geländer neben einem Nistkasten, den jemand an einem metallenen Laufgang dreißig Meter über uns angebracht hat. Er schüttelt sein Gefieder, bis es sitzt, und blickt in Richtung der Mündung, flachköpfig, in umgedrehter Patronenform, die sich schwarz gegen den Himmel abzeichnet.
»Willst du mal gucken?«, fragt Eamonn mich und zeigt auf sein Teleskop. Durch selbiges wirkt der Falke eigenartig zweidimensional; er kräuselt sich in dem hellen Kreis, als sähe ich ihn durch Wasser, und meine Augen schmerzen bei dem Versuch, sie auf kleine Details scharf zu stellen: die gebänderten Federn auf seiner Brust, seine schwarze Haube, den schwach farbigen Gefiedersaum, der ihm geisterhafte Andeutungen von Staub und Regenbogen verleiht. Er ist wunderschön, hat die Farbe von Rauch, Papier und nasser Asche. Er beginnt, sich zu putzen, plustert den Bauch auf, schließt halb die Augen und winkelt den Kopf nach hinten, um sich einzelne Schulterfedern durch den tadellosen, gebogenen Schnabel zu ziehen. Windstöße, die von der Vorderseite des Schornsteins her aufsteigen, blasen ihm die Federn in die falsche Richtung. Seine Klauen krallen sich um rostenden Stahl. Der Wind ist eisig. Der Vogel wirkt vollkommen wie zu Hause.
Sein Sitzplatz verschafft ihm eine vorteilhafte Warte, von der aus er sein Jagdrevier kilometerweit überblicken kann: Flussmündung, Docks, die Straßen der Stadt, Parks und Golfplätze. Die Unterscheidung zwischen diesen Dingen fällt für ihn nicht ins Gewicht, für uns hingegen schon. Was wir da gerade beobachten, ist die kleine, gefiederte Erinnerung daran, dass es mit einer unserer allgemein üblichen Vorstellungen von der Natur nicht weit her ist: dass sie nämlich nur an Orten existiert, an denen wir nicht sind — eine Annahme, die uns weiter dazu zu bringen scheint, uns von der Natur abzuwenden, sie aufzugeben als etwas, das verschwindet oder bereits verloren ist.
Beinahe das gesamte zwanzigste Jahrhundert lang wurden Falken als romantische Symbole der bedrohten Wildnis gefeiert. Die Berge und Klammen, wo es den Vögeln zu nisten gefiel, waren grandiose Orte, an denen sich Besucher der Naturbetrachtung hingeben und über die Kürze des menschlichen Daseins nachsinnen konnten. Allerdings können auch Industrieruinen romantisch sein. Die rostenden Schornsteine und kaputten Fenster des Poolbeg-Kraftwerks besitzen ihre ganz eigene, verstörende Schönheit — die von Dingen, die ihre Benutzung überdauert haben. Falken halten sich gern in Landschaften auf, bei denen wir an Sterblichkeit denken: bei Bergen aufgrund ihres Ewigwährens, bei Industrieruinen, weil sie uns daran erinnern, dass auch sie eines Tages verschwunden sein werden und dass wir schützen sollten, was hier und jetzt ist.
Vielleicht entwickelt sich der Wanderfalke zur imaginierten Essenz von Landschaften wie diesen. Als Kind suchte Eamonn gemeinsam mit seinem Vater in den Wicklow Mountains nach Wanderfalken, weil er in Büchern gelesen hatte, dass die Vögel auf Felsvorsprüngen und in Felswänden nisten. Gefunden hat er keinen einzigen. Der erste Wanderfalke in freier Wildbahn, den Eamonn je zu Gesicht bekommen hat, saß ganz oben auf einem Dubliner Gasometer. Schon seit Jahrhunderten nisten die Tiere auf hohen Gebäuden, doch ist der Anstieg der städtischen Wanderfalkenpopulation ein relativ neues Phänomen. In den 1950er- und 1960er-Jahren brachte das Schädlingsbekämpfungsmittel DDT den Wanderfalken in Europa und Nordamerika an den Rand des Aussterbens, bevor das Mittel allmählich verboten wurde. Als sich die Wanderfalkenbestände wieder erholten, zogen die Tiere, angelockt von Unmengen von Straßentauben, in die Städte. Da es in den östlichen Vereinigten Staaten keine frei lebenden Wanderfalken mehr gab, wilderte der Peregrine Fund der Cornell University in Gefangenschaft gezüchtete Vögel aus künstlichen Horsten auf Türmen und hohen Gebäuden aus, um sie in ihrem einstigen Verbreitungsgebiet neu anzusiedeln. Dafür erachtete man die Gegenden, in denen die Tiere traditionell nisten — also Felsabhänge —, als zu gefährlich: Ohne den Schutz der Eltern fielen die unerfahrenen Jungvögel nur allzu leicht Fressfeinden wie dem Virginia-Uhu zum Opfer. In der Folge fühlten sich die adulten Vögel von Gebäuden und Brücken angezogen, von Nistplätzen, die dem, an dem sie aufgewachsen waren, ähnelten. Daraufhin wurden weitere Auswilderungsprogramme durchgeführt.
Heute sind Wanderfalken in Städten ein vertrauter Anblick. In New York leben rund zwanzig brütende Paare, in London etwa fünfundzwanzig. In Reaktion auf ihre neue Umgebung haben die Tiere auch neue Verhaltensweisen entwickelt: Sie nisten auf Hochhäusern und verfolgen Tauben durch die Straßen der Stadt. Manche von ihnen haben gelernt, nachts zu jagen; sie steigen in die Dunkelheit auf und greifen Vögel, die von den Straßenlaternen unten angeleuchtet werden. Solch städtische Umgebungen sind jedoch auch mit Risiken verbunden. Straßenschluchten, reflektierendes Glas und unerwartete Windböen um hohe Gebäude herum können beim Erstflug eines Jungvogels zur Bruchlandung führen, und manchmal müssen engagierte Einheimische, die bestimmte Wanderfalkenpaare mit Fernglas, Teleskop oder Webcam beobachten, eingreifen, um gestrandete Vögel vor Autos zu retten. Trotzdem nehmen die Wanderfalkenpopulationen in Städten zu. Hoch oben auf Firmensitzen, wo sie den Himmel und die Straßen unter sich absuchen, kann man die Tiere leicht als Abbild unserer eigenen Faszination mit Übersicht, Kontrolle und Macht sehen. Doch sind Falken keine bloßen praktischen Symbole der menschlichen Ängste. Ihr größter Zauber besteht darin, dass sie nicht im Geringsten menschlich sind.
Eamonn kommt fast jeden Tag an die Stelle, an der wir jetzt stehen, schon seit Jahren. Mit dem Beobachten der Poolbeg-Wanderfalken hat Eamonn nach einem persönlichen Verlust begonnen, weil es »so ganz anders … war«, so erzählte er mir. Ich wusste, was er meinte. In schwierigen Zeiten kann einen das Beobachten von Vögeln in eine andere Welt versetzen, eine Welt, die der Worte nicht bedarf. Und wenn die Vögel, die man beobachtet, städtische Falken sind, ist die Welt, in die man versetzt wird, nicht weit entfernt; sie ist an deiner Seite, ein Ort der vorübergehenden und gnadenvollen Zuflucht. Eamonn arbeitet in Dublin und behält dieser Tage den Himmel immer im Auge, sucht Kirchen und Stadttürme ab. Dort oben sieht er Falken, die auf die Straßen unten sehen. »Kleine Schnipsel Ewigkeit«, nennt er sie. Manchmal sieht er einen über den Himmel stürzen, eine schwarze Silhouette über Temple Bar oder dem Olympia Theatre. Dann ist seine Stadt in einem Augenblick verwandelt. Gebäude werden zu Felsen, Straßen zu Schluchten.
Die Zeit vergeht. Der Terzel ist weg. Nun taucht das Weibchen am Rand des Nistkastens auf. Sie ist größer und heller als ihr Partner. Eine, zwei Minuten sitzt sie da, unentschlossen, und sieht sich um. Dann öffnet sie die Schwingen, dreht sich und gleitet hinab in Richtung des anderen Schornsteins. Ich setze mein Fernglas an die Augen und zucke bei der Schwierigkeit zusammen, es mit gefrorenen Händen scharf zu stellen. Ich sehe, wie sie die Schwingen beugt, wie die Handschwingen aufflammen. Langsam wendet sie im Flug, der plötzlich anders ist. Ich bin mir nicht sicher, warum. Doch auf einmal sehe ich mit einem kleinen Aussetzer des Herzschlags eine unvorsichtige Taube tief und gemächlich mit den Flügeln schlagend auf sie zufliegen. Die Taube kann den Falken nicht gesehen haben — der Falke die Taube aber schon. Die Welt schrumpft auf den Raum zwischen den beiden Vögeln zusammen. Ich höre, wie meine Begleiter scharf die Luft einsaugen, als der Falke zur Seite gleitet und mit der Endgültigkeit eines von einer Brücke geworfenen Steins auf seine Beute herabstößt. Die erschrockene Taube weicht aus, schließt die Flügel und lässt sich in letzter Minute in die Sicherheit der Gebäude unter ihr fallen. Der Falke kreist, steigt auf und verschwindet ins Innere des Landes.
Wir nehmen die Ferngläser von den Augen und sehen uns an. Wir haben gerade erlebt, dass ein Tag durch einen jagenden Wanderfalken binnen drei Sekunden in zwei Hälften geschnitten werden kann und man selbst stumm und mit der Erinnerung an jede einzelne Kurve seines Flugs zurückbleibt. Hätte ich eine mystischere Weltanschauung, könnte ich schwören, dass ein jagender Wanderfalke die Atmosphäre, die er durchfliegt, verändert, sie schwerer macht. Wie Donner. Wie ein verlangsamter Film, der durch die Verlangsamung grobkörnig wird. Das Poolbeg-Gelände ist alles andere als ein blühendes natürliches Ökosystem; dabei zuzusehen aber, wie ein Falke seine Beute über dem vernarbten und gebrochenen Boden unten jagt, fühlt sich wie ruhiger Widerstand gegen die Verzweiflung an. Angelegenheiten von Leben und Tod und ein Gefühl für unseren Platz in der Welt, fest miteinander verknüpft in einem Flackern von Flügeln über einem Stückchen Winterhimmel.