Ich habe einmal einen toten Mauersegler gefunden, ein Spelzchen von einem Vogel unter einer Brücke über die Themse, wo das Sonnenlicht auf dem Wasser glitzernde Kritzeleien auf die Bogen darüber warf. Ich hob ihn auf, hielt ihn in der Hand, sah den Staub in seinen Federn, die Flügel gekreuzt wie stumpfe Schneiden, die Augen fest geschlossen, und stellte fest, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Was mich überraschte. Durch Bücher ermutigt war ich immer die Art von Amateurnaturforscherin wie aus dem Schauerroman gewesen, eine, die interessante Stückchen der Toten aufbewahrte. Ich habe schon Fuchsschädel gesäubert und poliert, die Flügel überfahrener Vögel auseinandergenommen, getrocknet und behalten. Doch als ich den Mauersegler ansah, wusste ich, dass ich ihm nichts von all dem antun konnte. Der Vogel war von einer Ernsthaftigkeit durchdrungen, die der Heiligkeit nahekam. Dortlassen wollte ich ihn aber auch nicht, und so nahm ich ihn mit nach Hause, wickelte ihn in ein Handtuch und legte ihn ins Gefrierfach. Anfang Mai im darauffolgenden Jahr, als die ersten zurückkehrenden Mauersegler aus den Wolken herabströmten, wusste ich schließlich, was ich zu tun hatte. Ich ging zum Gefrierfach, nahm den Vogel heraus und begrub ihn im Garten, eine Handbreit tief in der frisch von der Sonne erwärmten Erde.
Mauersegler sind magisch in dem Sinne, in dem Dinge, die gerade außerhalb des Verstehens existieren, magisch sind. Einst nannte man sie Teufelsvögel, vielleicht weil die kreischenden Scharen schwarzer Kreuze um Kirchen herum der Dunkelheit zu entstammen schienen, nicht dem Licht. Für mich aber sind sie Geschöpfe der oberen Luft und ihrer Natur nach unbegreiflich, was sie Engeln ähnlicher macht. Im Gegensatz zu allen anderen Vögeln steigen sie nie auf den Boden herab. Als vogelbesessenes Kind frustrierte es mich, dass ich keine Chance hatte, sie besser kennenzulernen. Sie waren so schnell, dass es unmöglich war, mit dem Fernglas ihren Gesichtsausdruck auszumachen oder sie beim Putzen zu beobachten. Alles, was ich sah, waren zitternde Umrisse mit dreißig, fünfzig, fünfundsechzig Stundenkilometern, eine Schule von Vögeln, eine sich aus hellen Wolken ergießende Garbe identischer schwarzer Körner. Ich hatte keine Chance, die Vögel voneinander zu unterscheiden oder ihnen bei irgendetwas anderem zuzusehen als beim Ziehen von Ort zu Ort; nur manchmal, wenn die Mauersegler tief über die Dächer hinwegflogen, konnte ich erkennen, wie einer den Schnabel öffnete, und das war wirklich unheimlich, denn der Schlund war gigantisch, was das Tier beunruhigenderweise in so etwas wie einen Miniatur-Riesenhai verwandelte. Dennoch war es schön, sie auch mit bloßem Auge zu beobachten, weil es die Dynamik dessen enthüllte, was zuvor nur Leere gewesen war. Mauersegler wiegen rund vierzig Gramm, ihr Ansurfen und Wenden gegen den Druck heranströmender Luft macht die Bewegungen der Atmosphäre sichtbar.
Noch heute sind sie für mich das, was mich auf der Erde am meisten an Außerirdische erinnert. Inzwischen habe ich sie aus der Nähe gesehen, habe einen lebendigen gestrandeten ausgewachsenen Mauersegler in Händen gehalten und ihn dann in den Himmel zurückfallen lassen. Sie kennen doch bestimmt die Tiefseefische, die von Netzen aus fadentiefer Schwärze gezogen wurden, und wie offensichtlich sie nicht dorthin gehören, wo wir sind. Der Mauersegler war genau so, nur aus der entgegengesetzten Richtung. Sein Körperbau war robust und gleichzeitig reduziert, seine Federn von der Sonne ausgebleicht. Seine Augen schienen unfähig, mich zu fokussieren, als sei er ein Wesen aus einem anderen Universum, dessen Sinne sich nicht ganz auf unsere Erscheinungswelt einstellen können. Für dieses Geschöpf lief die Zeit anders. Nimmt man das schrille, eindringliche Rufen des Mauerseglers auf und lässt es auf menschliche Geschwindigkeit verlangsamt ablaufen, kann man hören, wie ihre Stimmen klingen, wenn sie miteinander kommunizieren: Es ist ein wilder, sprudelnder, auf- und absteigender Ruf, der entfernt an den Gesang des Eistauchers erinnert.
Wenn ich als Kind unglücklich war — beim Schulwechsel etwa oder wenn ich in der Schule gemobbt wurde oder wenn meine Eltern sich gestritten hatten —, lag ich manchmal abends im Bett und zählte vor dem Einschlafen im Kopf die verschiedenen Schichten auf, die zwischen mir und dem Mittelpunkt der Erde lagen: Erdkruste, oberer Erdmantel, unterer Erdmantel, äußerer Erdkern, innerer Erdkern. Anschließend dachte ich nach oben in sich weitenden Ringen dünner werdender Luft: Troposphäre, Stratosphäre, Mesosphäre, Thermosphäre, Exosphäre. Wenige Kilometer unter mir befand sich geschmolzenes Gestein, wenige Kilometer über mir grenzenloser Staub und grenzenlose Leere, und da lag ich, mit der warmen Decke der Troposphäre und einem Bettbezug aus roter Baumwolle über mir; im oberen Stock hing noch der Geruch des Abendessens, unten war das Geräusch meiner Mutter an ihrer Schreibmaschine zu hören.
Dieses Abendritual war keineswegs nur ein Test, wie viel auf einmal ich im Kopf behalten konnte oder wie weit meine Fantasie reichte. Es hatte etwas von der Macht der Beschwörung, allerdings nichts Zwanghaftes, und es war auch kein Gebet. Wie fest auch immer die schlechten Dinge des Tages mich in ihrem Griff hielten — dort oben, über mir, gab es so viel, so viel auch unter mir, so viele Orte und Stadien, die unerbittlich waren, unerreichbar und gänzlich uninteressiert an den Angelegenheiten des Menschen. Sie alle einzeln aufzuzählen erschuf eine einfallsreiche Zuflucht zwischen den Mauern unwissender Bekannter. Es half mir auch auf andere Weisen. Schlafen war wie Zeit verlieren, irgendwie wie nicht am Leben sein, und als ich abends in den Schlaf glitt, überkam mich manchmal die Panik, dass ich meinen Weg von wo auch immer ich hingegangen war vielleicht nicht würde zurückfinden können. Meine Art von Abendgebet fühlte sich ein wenig wie das Zählen der Stufen eine steile Treppe hinauf an. Ich musste wissen, wo ich war. Es brachte mich wieder zurück nach Hause.
Mauersegler nisten an verborgenen Orten, in dunklem und engem Umfeld: in Hohlräumen unter Dachziegeln, hinter den Öffnungen für Lüftungsschächte, in Kirchtürmen. Um zum Nest zu gelangen, fliegen sie direkt zu den Einschlupflöchern und schlüpfen in voller Geschwindigkeit hinein. Ihre Nester bestehen aus Dingen, die sich die Vögel aus der Luft geschnappt haben: Stränge getrockneten Grases, von der Thermik nach oben gewirbelt; gemauserte Brustfedern von Tauben; Blütenblätter, Blätter, Papierschnipsel, sogar Schmetterlinge. Während des Kriegs benutzten die Mauersegler in Dänemark und Italien zum Nestbau auch Düppel, reflektierende, in der Luft aufblitzende und sich drehende Staniolstreifen, die von Flugzeugen abgeworfen wurden, um die feindlichen Radargeräte zu täuschen. Mauersegler paaren sich im Flug. Und während junge Mehl- und Rauchschwalben nach ihren ersten Flügen zu ihrem Nest zurückkehren, tun junge Mauersegler dies nicht. Sie beginnen zu fliegen, sobald sie sich aus der Nisthöhle haben fallen lassen, und hören dann zwei bis drei Jahre lang nicht mehr damit auf. Sie baden im Regen, ernähren sich von fliegenden Insekten und fliegen schnell und tief über Seen und Flüsse hinweg, aus denen sie große Schnabelvoll Wasser schöpfen. Die Mauersegler in Europa verbringen nur ein paar Monate in ihren Brutgebieten und weitere wenige Monate im Winter über den Wäldern und Feldern im Kongo — die restliche Zeit über bewegen sie sich und führen Grenzen ad absurdum. Um starkem Regen auszuweichen, der es ihnen unmöglich macht, Nahrung zu finden, fliegen Mauersegler mit Nestern in englischen Dächern im Uhrzeigersinn um Sturmtiefs herum, wobei sie einmal über Europa und wieder zurück reisen. Sie versammeln sich gern in der instabilen Luft hinter Tiefdruckgebieten, um sich an der Fülle der Insekten dort gütlich zu tun. Sie verlassen uns still. In der zweiten Augustwoche ist der Himmel um mein Haus herum plötzlich leer, und wenn ich danach noch hin und wieder einen einzelnen Nachzügler sehe, denke ich: Das war’s. Das ist der Letzte, und beobachte ihn gierig dabei, wie er durch die turbulente Sommerluft aufsteigt und gleitet.
An warmen Sommerabenden fliegen Mauersegler, die gerade nicht brüten oder sich um ihre Jungen kümmern, tief und schnell und schrill rufend in rasanten Scharen um Häuserdächer und Kirchtürme. Später versammeln sie sich höher oben am Himmel, und ihre Rufe sind durch Luft und Entfernung nun so gedämpft, dass sie für das Ohr zu etwas korrodieren, das scheinbar weniger als ein Geräusch ist, zu Ahnungen von Staub und Glas. Und dann auf einmal, als ob sie jemand gerufen oder ein Glöckchen geklingelt hätte, steigen sie höher und höher, bis sie aus dem Sichtfeld verschwinden. Dieses Verhalten wird abendlicher Steigflug genannt oder im Englischen — poetischer — vesper flights, Abendflüge, nach vesper, dem lateinischen Wort für Abend. Die Vesper ist in der christlichen Liturgie das abendliche Andachtsgebet, das letzte und feierlichste des Tages; ich fand den Ausdruck vesper flights immer wunderschön und musste dabei an ein ewig fallendes Blau denken. Jahrelang habe ich versucht, Mauersegler dabei zu beobachten, doch immer wurde entweder das Dunkel zu tief oder die Vögel glitten zu fern über den Himmel, als dass ich ihnen mit den Augen hätte folgen können.
Lange Zeit dachten wir, beim Steigflug würden die Mauersegler einfach weiter nach oben fliegen, um im Wind zu schlafen. Wie andere Vögel, so könnten auch Mauersegler ein Auge schließen und eine Hälfte des Gehirns schlafen lassen, während die andere Hälfte wach und das zweite Auge geöffnet ist, damit der Vogel weiter fliegen kann. Mittlerweile halten wir es jedoch für wahrscheinlich, dass die Tiere dort oben auch richtig schlafen, in einen REM-Schlaf fallen, in dem beide Augen geschlossen sind und das Fliegen automatisch abläuft, zumindest für kurze Zeiträume. Im Ersten Weltkrieg stellte ein französischer Pilot im nächtlichen Sondereinsatz in zehntausend Fuß Höhe den Motor seiner Maschine ab und ließ sich in geräuschlosen, engen Kreisen über den feindlichen Linien sinken, in leichtem Gegenwind und bei Vollmond. »Plötzlich«, schrieb er, »fanden wir uns inmitten einer seltsamen Schar von Vögeln wieder; sie schienen bewegungslos zu sein oder zeigten wenigstens keine erkennbare Reaktion. Sie waren weit über den Himmel verstreut und befanden sich nur wenige Meter unterhalb des Flugzeugs, wo sie sich gegen das weiße Wolkenmeer darunter abzeichneten.«
Er war in eine kleine Gruppe Mauersegler im Tiefschlaf geflogen, schwarze Miniatursterne, angeleuchtet vom reflektierten Licht des Mondes. Es gelang dem Piloten, zwei der Vögel zu fangen — ich weiß, dass das unmöglich ist, aber ich stelle mir gern vor, dass er oder sein Navigator nur die Hand ausstreckte und die Tiere sanft aus der Luft pflückte —, und einen Mauersegler barg man tot aus dem Motor, als die Maschine wieder gelandet war. Die ferne Luft, die Kälte, die Stille und die Vögel hoch oben über einer weißen Wolkendecke, im Schlaf schwebend. Dieses Bild driftet in meine Träume hinein und wieder hinaus.
Heute murmle ich beim Einschlafen nicht mehr die verschiedenen Schichten der Erde und der Atmosphäre vor mich hin. Stattdessen spiele ich ein Hörbuch auf meinem Smartphone ab, das ich auf den Nachttisch gelegt habe, und lasse das Flüstern und Stocken der Erzählerstimme sich in weißes Rauschen verwandeln, während ich wegdämmere. Mir dieselben Worte, gesprochen von denselben Stimmen, wieder und wieder anzuhören ist eine Angewohnheit, die ich nach dem Tod meines Vaters entwickelt habe, als das Abschweifenlassen meiner Aufmerksamkeit beim Einschlafen mich an Orte führte, an denen ich nicht sein wollte, zu Fragen von warum und wo und wie und was wäre, wenn. Mir Krimis anzuhören war die perfekte Ablenkung, und anfangs fesselte mich die Handlung. Nach einigen Wochen der Wiederholung allerdings war mir das Allerliebste die sanfte Vorhersagbarkeit der kommenden Sätze, der Trost, die Wörter, die gesprochen werden würden, zu kennen. Ich habe mit diesem Abendritual vor über zehn Jahren begonnen und kann mich noch heute schwer von der Angewohnheit trennen.
Im Sommer 1979 begann Luit Buurma, Pilot, Umweltforscher und Experte für die Wissenschaft, die sich mit Zusammenstößen von Luftfahrzeugen und Vögeln beschäftigt, in den Niederlanden mit Radarbeobachtungen zu Flugsicherheitszwecken. Auf seinen Bildern waren riesige Schwärme von Vögeln über den weiten Gewässern des IJsselmeers zu sehen, Mauersegler aus Amsterdam und Umgebung, wie sich herausstellte. Jeden Abend im Juni und Juli flogen sie zu dem See, wo sie zwischen neun und zehn Uhr tief über das Wasser jagten, um sich enorme Mengen Süßwassermücken einzuverleiben. Kurz nach zehn begannen die Vögel aufzusteigen, bis sie sich fünfzehn Minuten später alle in über einhundertachtzig Metern Höhe befanden und zu dichten, kreisenden Schwärmen versammelt hatten. Dann begann der eigentliche Steigflug: Weitere fünf Minuten später waren die Mauersegler außer Sicht. Ihre Abendflüge führten sie in Höhen von bis zu zweieinhalb Kilometern. Um ihre Bewegungen näher zu studieren, benutzte Buurma einen speziellen Datenprozessor, der mit einem großen militärischen Luftabwehrradargerät im Norden Frieslands verbunden war, und entdeckte, dass die Vögel zum Schlafen nicht dort oben blieben. In den Stunden nach Mitternacht kamen sie wieder nach unten, um über dem Wasser nach Nahrung zu suchen. Und so stellt sich heraus, dass der Mauersegler, lieb gewonnener Genius Loci heller Sommerstraßen, ebenso sehr das nächtliche Geschöpf der satten Sommerdunkelheit ist.
Aber Buurma machte noch eine weitere Entdeckung: Mauersegler vollziehen ihre Steigflüge nicht nur am Abend, sondern im Laufe der Nacht noch einmal, kurz vor der Morgendämmerung. Zweimal am Tag, dann, wenn sich die Lichtmengen exakt spiegeln, steigen die Vögel auf und erreichen den Höhepunkt ihrer Flüge zur nautischen Dämmerung.
Seit Buurmas Beobachtungen haben auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Steigflüge der Mauersegler studiert und über ihren Zweck spekuliert. Adriaan Dokter, Ökologe mit Hintergrund als Physiker, bediente sich des Doppler-Wetterradars, um mehr über das Phänomen herauszufinden. Er und seine Mitarbeiter schrieben, dass die Mauersegler bei ihrem Aufstieg möglicherweise eine Art Profil der Luft erstellen, also Informationen zur Lufttemperatur sowie zur Geschwindigkeit und Richtung des Winds sammeln. Ihre Steigflüge führen sie ganz oben in die sogenannte konvektive Grenzschicht hinauf, in den feuchten, dunstigen Teil der Atmosphäre, wo die Erwärmung des Bodens durch die Sonneneinstrahlung aufsteigende und sinkende Konvektionsströmungen hervorruft, wabernde Thermiken heißer Luft; es ist dies der Bereich von Schönwetter-Kumuluswolken und der alltägliche Aufenthaltsort von Mauerseglern. Befinden sich die Vögel ganz oben auf dieser Schicht, sind sie einem Luftstrom ausgesetzt, auf den die Landschaft unten keinen Einfluss hat und der stattdessen von den Bewegungen großflächiger Wettersysteme bestimmt wird. Durch das Fliegen in solche Höhen können Mauersegler nicht nur die weit entfernten Wolken heraufziehender Frontensysteme am dämmrigen Horizont sehen, sondern den Wind selbst dazu nutzen, die möglichen Verläufe dieser Systeme einzuschätzen. Sie tun also im Grunde nichts anderes, als das Wetter vorherzusagen.
Und das ist noch nicht alles. Dokter schreibt weiter, dass sich Zugvögel mittels eines Komplexes an interagierenden Kompassmechanismen orientieren. Während ihrer Steigflüge haben Mauersegler Zugriff auf all diese Mechanismen. In solch panoptischer Höhe können die Vögel die versprengten Konstellationen der Sterne über sich sehen und gleichzeitig ihren magnetischen Kompass kalibrieren sowie ihre Peilung anhand der am dämmrigen Himmel stärksten und klarsten Lichtpolarisationsmuster vornehmen. Sterne, Wind, polarisiertes Licht, magnetische Signale, ferne Wolkenhaufen, hundertsechzig Kilometer weit weg, klare, kalte Luft und unter ihnen die Stille einer Welt, die sich zum Schlaf neigt oder zum Morgengrauen erwacht. Mauersegler fliegen so hoch, dass sie genau bestimmen können, wo sie sind, um zu entscheiden, was sie als Nächstes tun sollten. Sie orientieren sich — ruhig, perfekt.
Cecilia Nilsson vom Cornell Laboratory of Ornithology und ihr Team haben herausgefunden, dass Mauersegler ihre Steigflüge nicht allein unternehmen. Abends steigen sie gemeinsam als Schwarm auf und sinken einzeln wieder hinab, während sie morgens allein aufsteigen und später zusammen mit ihren Artgenossen in Richtung Boden zurückkehren. Um sich korrekt orientieren zu können, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können, müssen sie nicht nur darauf achten, was um sie herum geschieht, sondern auch aufeinander. Nilsson schreibt, wahrscheinlich handelten Mauersegler auf ihren Steigflügen gemäß dem sogenannten many-wrongs principle, dem Prinzip der vielen Irrtümer: Sie ermitteln aus der Gesamtheit ihrer individuellen Einschätzungen den Durchschnitt, auf dessen Basis sie anschließend zur besten Navigationsentscheidung gelangen. In einem Schwarm kann man die Entscheidungen bezüglich dessen, was als Nächstes zu tun ist, verbessern, wenn man sich mit seinen Nachbarn austauscht. Die Menschen können miteinander sprechen. Mauersegler können das nicht, doch was sie können, ist, dem, was die anderen tun, Aufmerksamkeit zu schenken. Und alles in allem kann das schlicht auf Folgendes hinauslaufen: Sie folgen einander.
Mein eigenes Leben spielt sich im Bereich des Alltäglichen ab, dort, wo ich schlafe und esse und arbeite und nachdenke. An einem Ort des Aufsteigens und Fallens — von Hoffnungen und Sorgen, Kosten und Nutzen, Plänen und Ablenkungen. Ein Ort, an dem ich gebeutelt und abgetrieben werden kann, ebenso wie Mauersegler durch starken Wind und Regen vom Kurs abkommen können. Ein unwirtlicher Ort manchmal, aber ein Zuhause.
Die Mauersegler haben mich dazu gebracht, sorgfältiger darüber nachzudenken, wie ich mit Schwierigkeiten umgehe. Als ich klein war, tröstete ich mich mit Gedanken an Schichten aufsteigender Luft; später versteckte ich mich im Geflüster aufgenommener Fiktion. Wir haben alle unsere Verteidigungsstrategien. Einige davon funktionieren nicht, andere hingegen bieten Anlass zur Freude: die Selbstvergessenheit beim Ausüben eines Hobbys, das Schreiben eines Gedichts, das Dahinbrausen auf einer Harley, das langsame Wachsen einer Schallplatten- oder Muschelsammlung. »Das beste Mittel gegen Traurigkeit«, sagt T. H. Whites Merlin, »ist es, etwas zu lernen.« Wir alle müssen unser Leben im Großen und Ganzen innerhalb der schützenden Strukturen leben, die wir uns aufgebaut haben; kein Mensch kann zu viel Realität ertragen. Wir brauchen unsere Bücher, unsere Bastelprojekte, unsere Hunde und das Strickzeug, unsere Filme, Gärten und kleinen Aufgaben. Sie machen uns aus. Wir werden zusammengehalten von unserem Leben, unseren Interessen und den Tröstungen, die wir uns aussuchen. Doch das darf nicht alles sein, denn dann können wir nicht herausfinden, in welche Richtung wir uns bewegen sollen.
Mauersegler steigen nicht immer in die schwindelerregenden Höhen der atmosphärischen Grenzschicht auf — die meiste Zeit über leben sie in der dicken, schweren Luft darunter. Dort suchen sie nach Nahrung, dort paaren sie sich, dort baden und trinken und sind sie. Doch um Näheres über die wichtigen Dinge zu erfahren, die Einfluss auf ihr Leben haben, müssen sie höher steigen, das breitere Bild im Blick haben und mit anderen über die größeren Kräfte kommunizieren, die auf ihr Reich treffen. Deshalb sehe ich Mauersegler allmählich anders, nicht als Engel oder Aliens, sondern als absolut lehrreiche Geschöpfe. Nicht alle von uns müssen diesen Aufstieg machen, ebenso wie auch viele Mauersegler den Steigflug auslassen, weil sie mit Brüten oder ihren Jungen beschäftigt sind. Als Teil einer Gemeinschaft aber sind einige von uns zum Zwecke des gedeihenden Lebens und des Wohls aller sicherlich aufgefordert, einen genauen Blick auf das zu werfen, was nur allzu leicht durch den Alltag verdeckt wird. Das, worauf wir zusteuern oder dem wir ausweichen müssen. Das, worüber wir nachdenken müssen, um zu wissen, was wir als Nächstes tun sollten. Für mich sind Mauersegler wie Gleichnisse für die Gemeinschaft: Sie lehren uns, wie man angesichts aufziehenden schlechten Wetters, angesichts von Wolken, die sich wie dunkle Trümmer an unserem eigenen Horizont auftürmen, die richtigen Entscheidungen trifft.