Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen. Damals wusste ich nicht, dass ich sie niemals wiedersehen würde. Ich nahm an, sie währten ewig, wie Pan Am und die Sowjetunion und so vieles andere auf der Welt, das es gab, als ich auf dieselbe kam. Ich ging früh an diesem Morgen aus dem Haus, die Sonne drang schwach durch Schichtwolken, und fuhr in Richtung Nordwesten, bis sich am fernen Horizont mit sirupartiger Langsamkeit Umrisse erhoben. Sie sahen aus wie Gebäude, wie Flugzeughangars oder Lagerhallen, dabei waren es Pappelhaine, die in den 1950er-Jahren von Bryant & May gepflanzt worden waren, dem Hersteller von Sicherheitszündhölzern. Einwegfeuerzeuge und billigeres Holz verwandelten die Bäume in ökonomische Relikte. Vogelbeobachter jedoch liebten die Anpflanzungen, weil sie der einzige Ort im ganzen Land waren, an dem man brütende Pirole sehen konnte. Die Vögel waren geradezu legendär, ich hatte jahrelang von ihnen gelesen. Sie sind strahlend schön — die Männchen butterblumengelb mit glänzenden schwarzen Flügeln und erdbeerrotem Schnabel, die Weibchen zart olivgrün —, wenngleich sie den Großteil ihrer Berühmtheit ihrer Seltenheit verdankten. Sollten Sie irgendwo anders als in Großbritannien leben, sehen Sie Pirole vielleicht andauernd. In Nord- und Südamerika gibt es viele der Vögel, in Ländern über die gesamte Paläarktis ist der Pirol ein häufig vorkommender Gast im Garten. Doch in Großbritannien gab es nur diesen einen winzigen Außenposten.
Ich hatte mich mit meinem Guide am Zugangsgatter verabredet. Wir kannten uns noch nicht, doch bestand kaum Zweifel, dass es der Mann mit der Wollmütze war, der mir mit einem Fernglas in der Hand zuwinkte. Peter war der Freund eines Freunds, ein Pirolexperte, und er hatte, wie sich herausstellte, die ganze Nacht hier vor Ort in seinem Auto verbracht und auf den Anbruch des Tages gewartet. Er erzählte mir, ich hätte im Morgengrauen das Dröhnen der Rohrdommeln im Schilf verpasst, wirklich seltsame Rufe, wie wenn jemand über die Öffnung einer großen, breithalsigen Flasche bläst. Aber wenigstens, fuhr er fort, sangen die Pirole noch. Und als wir den taudurchtränkten Pfad in Richtung Wald hinuntergingen, konnte ich sie hören, säuselnde, satte, melodische Phrasen, die das Rauschen der Blätter und das laute Schwatzen singender Teichrohrsänger übertönten, als wehten sie von unglaublich weit weg zu uns herüber. Von einem Ort, wurde mir plötzlich bewusst, der die Vergangenheit sein könnte, von Vögeln, die von Geschichte sprachen. Chaucer erwähnt einen Vogel namens Wodewale, den Experten verschiedentlich als Specht, Heidelerche oder Pirol identifizierten. Ich bin davon überzeugt, es war Letzterer, weil das Wort eine ganz wundervolle phonetische Annäherung an den flötenden Ruf des Pirols ist, eine Folge von Tönen wie die Kringel der abgeschnittenen Enden eines vergoldeten Banners, die sich über die Seite einer illuminierten Handschrift kräuseln.
Pirole zu hören war leicht — schwieriger war es, sie zu sehen. Die Pappelanpflanzung ähnelte irgendwie einer im Maßstab vergrößerten Tischtheaterkulisse aus Pappe, die mir alle möglichen perspektivischen Tricks und optischen Täuschungen vorgaukelte, wenn ich in sie hineinspähte. Reihen gleich großer grauer, säulenartiger Baumstämme flohen zu Fluchtpunkten in der schummrigen Ferne, und da Pappeln erst weit oben Äste ausbilden, schienen die Bogen, wo sich die Blätter zwischen den Baumreihen trafen, teils Proszenium, teils Kathedralenstrebepfeiler. Außerdem war es laut, ein beinahe unablässiges Geratter und Geklapper. Die herzförmigen Blätter der Bäume bestehen aus kleinen Fäusten langer, biegsamer Blattstiele, die sie im leisesten Windhauch wie Flaggen flattern lassen. Der ganze Wald sah aus, als sei er aus zerrissenem Papier gefertigt, und irgendwo in seinen Blättern verborgen saßen die Pirole. Sie riefen, hüpften umher. Sangen, riefen wieder, flogen ungesehen zu einem entfernten Baum, riefen erneut, einen anderen Ruf, ein scharfes, schrilles hsst!, bewegten sich wieder, riefen, sangen und bewegten sich dann noch einmal. Sie blieben in den obersten Spitzen der Baumkronen, und nach einer Weile fragte ich mich schließlich, ob sich die Vögel auf die Kunst des Bauchredens verstanden. Wir verharrten sehr lange dort, mit dem Fernglas an den Augen, der Nacken wurde allmählich steif — aber Pirole sahen wir keine. Auf der Fahrt nach Hause hielt ich die Erinnerung an ihren Gesang in meinem Herzen wie einen Kieselstein in der Hand. Mein Vormittag im Pappelwald war zwar nicht enttäuschend gewesen, doch wusste ich, dass ich zurückkommen und es noch einmal versuchen musste.
Das war vor dreizehn Jahren, 2006, und schon da stand die kleine Population kurz vor dem Verschwinden. Zu diesem Zeitpunkt betrug das Alter des Außenpostens nur rund vierzig Jahre: Seine ersten Besiedler waren in den 1960er-Jahren aus den Niederlanden hierhergekommen, wo sie genau wie unsere in Bäumen in den Poldern nisteten. Sie müssen die Nordsee überquert und sich an einem Ort wiedergefunden haben, wo es sich für sie wie zu Hause anfühlte. Sie gediehen in aller Stille. In den 1980er-Jahren gab es etwa dreißig Paare; allerdings machte man sich da bereits Sorgen um ihre Zukunft, weil viele der ausgedehntesten Pappelhaine in der Gegend gefällt werden sollten. Die Menschen schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, die es sich zum Ziel setzte, die Vögel zu studieren, Erhebungen über sie anzustellen und zu ihrem Schutz beizutragen. Darüber hinaus pflanzte man einige neue Pappelgürtel, in der Hoffnung einer zukünftigen Besiedelung. Der größte Bestand wurde trotzdem gefällt, und damit sank auch der Vogelbestand drastisch. Dies wiederum fiel zufällig mit einem breiteren Niedergang der Pirolpopulationen in ihrem gesamten nördlichen Verbreitungsgebiet in den Niederlanden, in Dänemark und in Finnland zusammen. Möglicherweise lag das an Umweltveränderungen im Kongo, wo Pirole den Winter verbringen, oder vielleicht auch daran, dass zunehmend frühe Frühlinge in Europa das Timing durcheinanderbrachten: Vielleicht tauchten die Insekten, von denen die Vögel sich ernähren, nicht mehr zu der Zeit auf, zu der sie am meisten gebraucht werden, nämlich dann, wenn die Jungen gefüttert werden müssen. In Großbritannien ließ das Ende der Vögel nicht lange auf sich warten. Drei Jahre nach meinem Besuch im Pappelhain gab es dort nur noch ein einziges Pirolnest und danach gar keine in Großbritannien geschlüpften Pirole mehr. Sie waren eine geisterhafte Erscheinung gewesen, hatten in einer kleinen Nische ökonomischer Geschichte gelebt, sich auf papierenen Ästen niederlassendes Gold, und sie hatten den Sumpfgebieten durch ihren Gesang einen indirekten Glanz verliehen. Wir haben die Vögel nie als Zuwanderer gesehen, dies war keine Verlorene Kolonie. Wir sahen sie als zurückkehrende Einheimische und schätzten es, dass sie in unserer Zeit Fuß gefasst hatten.
Ich kehrte eine Woche später in den Pappelhain zurück, in der heißen, gewitterschwülen Dunkelheit kurz vor Sonnenaufgang. Ein paar Jahre zuvor war das Gelände zum Vogelschutzgebiet erklärt und die Rübenäcker um die Pappelwäldchen herum waren geflutet und mit Schilfrohr bepflanzt worden. Mein Spaziergang zu meinem Treffpunkt mit Peter führte mich durch dieses Röhricht, an Stellen stumpfen, nicht spiegelnden Wassers vorbei, flachen Teichen, deren Oberfläche matt von milchigem Pollenstaub war, winzigen Fröschlein, die vor meinen Füßen davonkrabbelten, Gras, in dem sich unzählige eilige Miniaturamphibien tummelten. Das Röhricht ist zwar schön, doch irgendwie auch ein unheimlicher Ort. Im Gegensatz zu Wüsten und offenen Gewässern sind Röhrichte nicht grundsätzlich abgeneigt, menschliches Leben zu tragen — außer im wirklich wortwörtlichen Sinn. Wüsten tragen den Menschen, er kann Schritt für Schritt über sie gehen. Auf Wasser kann man das ganz sicher nicht tun. Und auf Röhrichten? Wer weiß. Ihr Bewuchs ist stachelig und weich zugleich, und mancherorts wird ein Schilfbett auch zur Insel, etwa im Donaudelta, die davonsegelt, als verfilzte Arche aus Fäulnis und Leben. Röhrichte sind empfindliche, andersartige und leicht gefährliche Orte. Unterschätzen wir niemals die seltsame Wirkung, die es auf die menschliche Psyche hat, wenn man nicht weiß, ob der Boden unter den eigenen Füßen überhaupt Boden ist. Für denjenigen, der sich in ihnen nicht auskennt, können Röhrichte so abweisend und tödlich wie Berge sein.
Als ich meinen Blick über das Schilf schweifen ließ, hörte ich ein schwirrendes Geräusch, dann flogen vier oder fünf kleine, langschwänzige Vögel legato über das Wasser und landeten direkt vor mir, wo sie sich wie kugelförmige Kletten im Ried verfingen. Es waren Bartmeisen, Vögel, die vollständig auf Schilfrohr wie dieses angewiesen sind. Die adulten Tiere ziehen ein paar Mal im Jahr Junge auf, und hier hatte ich es mit einer Brut Jugendlicher zu tun, die man auf das Röhricht losgelassen hatte. Die ausgewachsenen männlichen Bartmeisen sind mit ihren grauen Hauben und langen, schwarzen, namengebenden Schnurrbärten absolut bezaubernd, die Vögel vor mir allerdings trugen ihr Erwachsenenkleid noch nicht. Sie waren beigebraun und glänzten seidig, als bestünden sie aus sehr teurem Kaschmir und hätten lange, schwarze Abendhandschuhe aus Samt an. Ihre winzigen, wächsernen Schnäbel erinnerten an die Köpfe von Sturmstreichhölzern, und inmitten eines verwischten Lidstrichs rußigen Kajals saßen eigenartige, helle Augen, die seltsam das Licht fingen, während die Vögel im Ried herumkletterten. Ihre Bewegungen waren betörend, Bartmeisen sind wie geschaffen für eine Welt der Vertikalen. Sie besitzen lange, schwarze Beine, die wie Obsidian schimmern, und riesige Cartoon-Vogelfüße. Kein Gedanke mehr an Pirole, ich stand einfach da und sah zu, wie die Kaschmirbällchen im Schilf auf und ab hüpften, und war entzückt, wenn einer der Vögel von einem Stängel auf zwei hinübersprang — was ziemlich häufig vorkam — und dann je einen mit den Füßen umklammerte, bevor er im Spagat glücklich und zufrieden Schilfsamen aus dem nächstgelegenen überhängenden Wedel pickte.
Dieses Mal war Peter technisch voll ausgerüstet: Er hatte ein Teleskop an der Böschung aufgestellt und es bereits auf das Nest gerichtet. Letzteres klebte am Baum, wie die pergamentenen Kokons des Widderchens, eines Schmetterlings, an Grashalmen haften. Es hatte die Form einer halben Kokosnuss und war sorgfältig aus dünnem Gras geflochten und dann wie eine Hängematte zwischen zwei elastischen Ästen in knapp zwanzig Metern Höhe aufgehängt worden. Ein ähnliches Nest hatte ich noch nie gesehen, wenngleich ich es eine ganze Weile lang überhaupt nicht sehen konnte. Das Teleskop bekam kaum genügend Umgebungslicht, als dass sich Tiefe und Dreidimensionalität hätten einstellen können; je höher die Sonne aber stieg, desto mehr ergab sich der Eindruck eines Bildes aus der Buchreihe Das magische Auge. Ich sah einen Kreis und darin tausend verwinkelte Stängel, Blätter und Schattenfetzen in verschiedenen Entfernungen, und jeder echte Stängel oder Ast wurde vom Wind abwechselnd sicht- und unsichtbar gemacht. Beim Betrachten dieses Chaos fühlte ich mich allmählich ein wenig seekrank, doch ebenso magisch, wie ein Stereogramm plötzlich einen nicht sehr akkuraten 3D-Dinosaurier enthüllt, löste sich der verschwommene Fleck knapp außerhalb der Mitte des Teleskopausschnitts auf einmal zu einem Nest auf.
Gleich darauf bemühte ich mich krampfhaft, es nicht sofort wieder aus den Augen zu verlieren. Das Teleskop war nicht ganz richtig auf meine kurzsichtigen Augen eingestellt, weshalb es mich körperliche Anstrengung kostete, das, was ich sah, davon abzuhalten, sich wieder zu Unsinn zu verfremden. Ich wünschte mir sehr, ein adulter Pirol spränge auf das Nest, um es real zu machen, oder aufgesperrte Schnäbel bettelnder Küken reckten sich daraus empor, auch das Flattern junger Federn hätte mir genügt. Doch nichts von alledem geschah.
Wären Vögel im Nest, stünden sie zu dieser Zeit des Jahres kurz davor, flügge zu werden und das Nest zu verlassen, dachte ich, warum also konnte ich sich nichts darin bewegen sehen? Zu dieser Tageszeit wären die Jungen doch sicherlich unruhig? Ich übergab das Teleskop wieder an Peter, gemeinsam mit meinen Bedenken, breitete meine Jacke auf dem Boden aus und setzte mich. Unsere Stimmung wurde immer düsterer, als wir vermuteten, dann glaubten und schließlich wussten, dass sich im Nest nichts bewegte, weil nichts im Nest war. Am Vortag war es außergewöhnlich windig gewesen, und so fragten wir uns, ob die Jungen vielleicht aus dem Nest gefallen waren. Und nachdem wir das gedacht hatten, war es keine Frage mehr: Wir mussten in den Wald gehen und nach den Küken suchen, die möglicherweise am Fuß des Baums saßen.
Ich schlüpfte wieder in meine Jacke. Im Wald standen die Brennnesseln mindestens anderthalb Meter hoch. Ich bin beim Vogelbeobachten, Spazierengehen und als Falknerin schon oft in Brennnesseln unterwegs gewesen und weiß, dass die richtige Art, mit Böschungen voller hoher Brennnesseln umzugehen, die ist, halbwegs dicke Kleidung zu tragen und sich ansonsten einen feuchten Kehricht um die Pflanzen zu scheren. Augen zu und durch. Mit Brennnesseln ist es wie mit dem Wunder vom Roten Meer: Hat man den rechten Glauben, teilen sie sich harmlos vor einem. Keine Erfahrung jedoch hatte ich mit Brennnesseln, die in einem Sumpf wachsen. Wir kämpften uns durch Schilf, das blass und lang aus nassem, schwarzem Schlamm spross, und über Stellen, an denen der Boden so gesättigt war, dass es dort gar keine Vegetation, sondern nur so etwas wie Treibtorf gab. Doch meistens kämpften wir uns durch Brennnesseln, die so dicht standen, dass weder Peter noch ich auch nur annähernd eine Ahnung hatten, was sich darunter befand. Die Pappeläste hier hingen tief, was uns lediglich einen schmalen freien Tunnel zwischen den Spitzen der Brennnesseln und dem Dach aus Zweigen und Blättern verschaffte. Wir fühlten uns wie beim Flusshöhlenwandern, das Kinn zu den fünfundvierzig Zentimetern Luft zwischen Wasser und Felsen gereckt. Eine klaustrophobische, intensive Erfahrung in üppigen, dunklen Grüntönen, die irgendwie nicht richtig zu England passte. Eher zu Louisiana. Mücken stürzten sich auf uns, ganze Schwärme großer Anopheles- oder Malariamücken, deren zarte Streifen und lange Rüssel absichtsvoll auf unsere Gesichter gerichtet waren. Am Baum mit dem Nest hielten wir an und traten vorsichtig die Pflanzen um seinen Stamm beiseite. Nichts — nur wieder Brennnesseln. Ich schlug eine Mücke nach der anderen weg und sah, dass meine Hände voller Blut waren.
Dann hörten wir plötzlich einen Pirol. Nicht seinen überirdischen Gesang, sondern eine Reihe kurzer, heiserer Rufe. Und darauf, ganz leise aus dem diffusen, papierenen Grün, ein weiches huut, huut, huut zurück, der Kontaktruf eines Kükens. Und schließlich das herrliche trillernde Flöten von einem der Elternvögel, der aus dem Nichts heranschwirrte, um die Jungen zu füttern. Da habe ich ihn gesehen. Da habe ich endlich meinen Pirol gesehen. Ein leuchtendes, goldenes Männchen. Es war eine zusammengesetzte Freude, da ich den Vogel nur in ausgestanzten Stückchen sah, kleinen Puzzleteilen, die sich aber bewegten, animierte Mutoskopbilder. Schnellende Flügel, das Fragment eines Schwanzes, einmal nur ein kurzer Blick auf den Kopf allein durch einen Vorhang aus Blättern. Ich war wie gebannt. Was ich nicht erwartet hatte, waren die freudigen, überschwänglichen Hüpfer in die Luft, die der Vogel zwischen den Fütterungen machte, die ungeheuer entschlossenen Bewegungen, jedes Mal, und die kleinen Punkte, wie Sterne, die am Rand seines aufgespreizten Schwanzes aufblitzten. Es ist kaum zu begreifen, dass der Vogel bei all den Blicken durch mein Fernglas nie größer als ein auf Armeslänge weggehaltener Fingernagel gewesen ist. Andererseits ist ein auf Armeslänge weggehaltener Fingernagel, schätze ich, genauso groß wie die Sonne, wie wir sie von der Erde aus sehen.