An einem nebligen Morgen vor langer Zeit ging ich mit meinem Bruder und meiner damals noch sehr kleinen Nichte in einem von Großbritanniens ältesten Naturschutzgebieten spazieren. Wicken Fen ist ein winziges Fragment des untergegangenen Marschlandökosystems, das einst sechseinhalbtausend Quadratkilometer Fläche von Ostengland bedeckte. Wir verbrachten einige Stunden in dem Mosaik aus Grasland und Seggen, schlenderten durch feuchte Felder voller Schilfschatten und Wasser. Es war Frühling, und überall explodierte das Leben geradezu: singende Nachtigallen, Schnepfen, die über uns wummerten und meckerten, Kuckucke, die sich von Weidenspitzen neigten, Wasserrallen, die im Ried quiekten und grunzten. Als wir eine der uralten Fahrrinnen des Marschlands überquerten, segelte eine Schleiereule an uns vorbei, auf mottenartigen Schwingen, die im teilchenförmigen Nebel aufleuchteten; zu unseren Füßen schob sich eine Grasgluckenraupe zentimeterweise und pelzig über den Pfad, wie ein vorsichtig wandelnder Schnurrbart. Wir knieten uns hin, um der Raupe bei ihrem Vorwärtsrobben zuzusehen. Dann drehte sich meine Nichte zu mir und fragte neugierig: »Tante Helen, als sie diesen Ort gemacht haben, woher hatten sie da die Tiere?«
Ich verstand zuerst nicht.
»Was meinst du?«
»Es gibt so viele Tiere hier. Kommen die aus einem Zoo?«
Da wurde mir klar, dass ihre Frage absolut Sinn ergab, weil die ländlichen Gegenden, die meine Nichte kannte, zum Großteil grüne Wüsten waren.
»Sie waren schon immer hier«, antwortete ich sanft. »Das ganze Land war mal wie das hier. Jetzt gibt es nur noch kleine Stückchen davon.« Es brach mir das Herz, wie sie daraufhin die Stirn runzelte.
Ich besuche Wicken seit vielen Jahren regelmäßig, da mich seine Fremdartigkeit und Schönheit immer wieder aufs Neue verzaubern. Heute bin ich erneut hier, spaziere auf seinen Pfaden unter fahlem Wolkengestöber, noch immer verfolgt von der vernünftigen Unfähigkeit meiner Nichte zu verstehen, dass das Leben an diesem Ort einst überall war. Deshalb waren wir ja überhaupt erst hierhergekommen. Naturschutzgebiete sind Orte, an denen wir die Vergangenheit erleben können — der britische Umweltschützer Max Nicholson bezeichnete sie einmal als lebendige Freilichtmuseen. Marsche sind instabile Landschaften, in denen die vertrauten Kategorien Wasser und Land auf beunruhigende Weise durcheinandergeraten, und sie wirken auch zeitlich instabil, vom Gefühl ihrer vielen Altersschichten durchdrungen. In ihnen spazieren zu gehen ist ein Akt der virtuellen Zeitreise.
Im Naturreichtum der Marsche des elften Jahrhunderts gab es Fische und Federwild in einer solch erstaunlichen Fülle, dass die Menschen dort ihre Schulden mit Aalen — sogenanntem Fischsilber — beglichen und sich die angelsächsischen Heeresführer in den Sümpfen vor den normannischen Eindringlingen versteckten. Ich denke auch an die Dorfbewohner des siebzehnten Jahrhunderts, die in den Marschen zu Hause waren, die Seggen und Ried zum Decken ihrer Dächer schnitten und Torf stachen, um ihre Behausungen zu beheizen. Im neunzehnten Jahrhundert kamen Naturforscher auf der Suche nach Insekten in Scharen nach Wicken. So viele von ihnen brachten Lampen mit, um nachts Motten anzulocken, dass sich die Leute schon beschwerten, der Sumpf sähe aus wie von Straßenlaternen beleuchtet. Charles Darwin sammelte seltene Käfer von Gräsern aus Wicken, die man per Boot nach Cambridge geschickt hatte, um damit Universitätsfeuer anzuzünden, und in Zuckerwasser getauchte Holzstangen, die Amateurentomologen in den Boden gesteckt hatten, um mit der Süße Nachtfalter zu ködern, schlugen Wurzeln und wuchsen zu den Weiden heran, die heute ausgedehnte Flächen bedecken. Ich komme an einer Wegbiegung an einem dieser Bäume vorbei; er ist vor noch gar nicht langer Zeit umgestürzt, aus seinem geborstenen Stamm quellen alte Bienenwaben. Der Baum ist von einem Besucher des Marschlands gepflanzt worden, dessen Beziehung zur Natur sich erheblich von der meiner Nichte unterschied. Für ihn war die Natur etwas zum Sammeln, Bestimmen und Katalogisieren. Für meine Nichte ist sie etwas von uns Getrenntes, etwas, das man bewundern und aus der Ferne beobachten kann.
Es ist schön, sich vorzustellen, dass man an einem Ort wie diesem mit der Vergangenheit kommunizieren kann. Doch hat es Folgen, sich diesem Gefühl hinzugeben. Wenn wir anfangen, ökologisch reiche Lebensräume als zeitlich von uns getrennt zu sehen, scheint das Fehlen natürlichen Lebens in modernen Landschaften nicht weiter schlimm. Warum sich die Mühe machen, den Pestizidgebrauch auf Bauernhöfen zu reduzieren oder die weitere Bebauung am Rand einer Stadt zu verhindern, wenn es ein paar Kilometer weiter ein Naturschutzgebiet gibt? Es mag tröstlich sein, lebendige Museen zu besuchen; das Problem dabei ist nur, dass sie niemals wirklich von der Gegenwart abgeschottet werden können. Der Dammbau in der Nähe des McCloud River Preserve in Kalifornien beispielsweise führte zum Aussterben der im Fluss heimischen Stierforelle. Im Charcoal Tank Nature Reserve im australischen New South Wales verschwanden zahlreiche Spezies aufgrund der Verschmutzung ihres Lebensraums und eingeführter Fressfeinde wie Füchse und Katzen. Sind sie erst einmal verschwunden, können sich diese Arten nicht wieder neu ansiedeln, da das kleine Schutzgebiet jetzt eine abgeschiedene Insel inmitten eines Ozeans verarmten Habitats ist.
Die Tiere und Pflanzen hier um mich herum sind keine eingefrorenen Überbleibsel einer anderen Zeit, sondern Dinge mit eigener Geschichte, die sich in Reaktion auf die Umgebungsbedingungen unablässig bewegen und verlagern und die fähig sind, an Orte zurückzukehren, von denen wir sie für verschwunden hielten. Der Mensch hat dieses Marschland seit Jahrhunderten geprägt, seine natürlichen Prozesse der ökologischen Abfolge angehalten und das empfindliche und komplexe Leben darin aufrechterhalten. Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte haben die Wächter von Wicken Fen ein ehrgeiziges, auf hundert Jahre angelegtes Renaturierungsprojekt angestoßen, bei dem man das Schutzgebiet vergrößern will, indem über fünftausend Hektar Fläche allmählich wieder in ihren einstigen Zustand als Feuchtgebiet zurückverwandelt werden sollen. Das Projekt spult bereits die Zeit zurück: Allein in den Jahren, seit ich das erste Mal hier war, habe ich Äcker gesehen, die wieder zu Auen und Wiesen wurden. Es spult die Zeit aber auch vorwärts. Mittlerweile leben Herden von Schottischen Hochlandrindern und polnischen Konik-Ponys im Marschland; ihr vegetationsformendes Grasen ist Teil einer Bewirtschaftungsregelung, die darauf abzielt, sich das Land mit der Zeit wieder selbst entwickeln zu lassen. Man kann unmöglich im Einzelnen vorhersagen, welche Richtung dieses Renaturierungsprojekt nehmen wird, doch besteht seine Grundvoraussetzung darin, dass es von uns getrennt ist. Die intensiven Eingriffe Einheimischer, die das Marschland einst gestalteten, wird es nicht mehr geben. Die renaturierte Landschaft wird ein Ort sein, den Menschen besuchen können, aber keiner mehr zum Leben und Arbeiten.
Am Sedge Fen verengt sich der Pfad zwischen hoch aufragenden Schilfwänden, an seiner Oberfläche sammeln sich Pfützen teefarbenen Wassers, in dem sich vor meinen Füßen Stückchen für Stückchen der Himmel spiegelt. Bei jedem Schritt schwankt der Boden. Als ich mit einem gestiefelten Bein bis zur Wade in schwarzen Schlamm sinke, bin ich gezwungen umzukehren. Orte wie dieser verweigern sich unseren modernen Annahmen, alles sei sichtbar und zugänglich. Als ich vor Jahren das erste Mal hierhergekommen bin, fand ich es frustrierend und manchmal sogar langweilig. Das Röhricht bot sich als flache Weite undurchdringlicher Vegetation dar und wogte im Wind wie das Meer. Wie beim Meer konnte ich nicht in das Röhricht hineinsehen. Konnte ich nicht darin umherlaufen. Und wie beim Meer wimmelte es von unsichtbarem Leben: Rohrsänger, Rohrdommeln, Tüpfelsumpfhühner, Otter, Schermäuse und Marschlandinsekten wie der Rohrbohrer.
Zuerst sah ich die Wassergräben und Triften, die das Schilf durchschnitten, wie Straßen zwischen Wolkenkratzern und wartete darauf, dass Tiere auftauchten. Dann erkannte ich meinen Irrtum. Ich lernte, nicht mehr absichtlich etwas sehen zu wollen. Ich lernte zuzuhören, mich auf Geräusche einzustimmen und sie meine Augen führen zu lassen. Ich hörte das leiseste Knarren oder Spritzen oder Rufen und richtete meinen Blick auf die Stelle, von der es gekommen war. Manchmal saß ich minutenlang da und sah gar nichts. Doch manchmal tauchte tatsächlich etwas auf. Meistens sah ich es nur für den Bruchteil einer Sekunde: ein braunes Aufblitzen zwischen den Stängeln, das vielleicht ein Teichrohrsänger, ein Schilfrohrsänger, ein Seidensänger gewesen sein mochte. Das klitzekleine mahlende Geräusch, das vielleicht eine Krickente war, die in einem durch das Riedgras verborgenen Stück Wasser nach Nahrung suchte. Eine kaum wahrnehmbare Unruhe, die sich langsam durch das Röhricht bewegte — ein Otter, vielleicht, eine Rohrdommel oder eine Schlange.
Wicken Fen hat mich nicht nur gelehrt, dass ich nicht immer die Tiere sehen werde, von denen ich weiß, dass sie dort leben, sondern auch, dass das Wissen, wo ein Tier ist, und das gleichzeitige Nichtwissen, was es ist, manchmal besser sein können, als das Tier tatsächlich zu sehen. Ich habe gelernt, Vögel anhand von Stückchen zu bestimmen, anhand von Farb- sowie Formfetzen, die ich im Dickicht erspähe: ein Augenbrauenstreifen, eine Flügelbänderung, ein aufgestelltes Schwanzgefieder. Mittlerweile kenne ich die Bewohner dieses Ortes durch eine lange Reihe kurzer, partieller Begegnungen, bei denen das jeweilige Tier mit der Zeit immer markanter wurde — und nicht auch nur ein einziges Mal seinem zweidimensionalen Porträt im Bestimmungsbuch ähnelte.
Wicken gestattet es mir, die Vergangenheit zu besuchen, aber nicht die Vergangenheit eines angelsächsischen Kriegsherren, eines viktorianischen Naturforschers oder einer imaginären unbefleckten Wildnis. Diese Vergangenheit ist eine ältere Art und Weise, Tiere zu beobachten, sie unterscheidet sich von der, wie Tiere heute für gewöhnlich gesehen werden: durch Ferngläser, aus Verstecken oder von hinter den Jalousien oder in Nahaufnahmen im Fernsehen. Sie ist nicht wie ein Besuch in einem lebendigen Museum oder in einem Zoo. Diese Art, Tiere zu beobachten, ist voller Schwierigkeiten und Rätsel, und sie macht die Landschaft zu dem, was auch die in ihr lebenden Geschöpfe sind: Dinge im gegenwärtigen Augenblick, faszinierend, komplex und immer neu.