Eines Sommerabends auf der M 25 stellte ich plötzlich fest, dass ich auf die breite Säule eines gewittererleuchteten Regenbogens über Heathrow zufuhr. Der Himmel war verstopft und bläulich gequetscht, und selbst mit über hundert Stundenkilometern zerrte der Sog des Winds in Richtung Gewitter an meinem Auto. Der Wind fegte über den erhöhten Autobahnabschnitt, um das Vakuum zu füllen, das Luft hinterlassen hatte, die Tausende von Fuß hoch in den allmählich Gestalt annehmenden Scheitelpunkt der Wolke gezogen worden war. Ihre weiße, windwärts gestriegelte Oberseite konnte ich nicht sehen, dafür aber die kleinen Kreuze transatlantischer Flieger, die das Gewitter umsteuerten. Bangte halb um sie. Blitze durchzuckten das atmosphärische Massaker, daneben bildeten sich kleine, türkisfarbene Pfützen blauen Himmels. Und über eine von ihnen flog eine Schar Sittiche schnurstracks und schnell, mit abgehackten Flügelschlägen und ausgestrecktem Schwanzgefieder — ein Augenblick, aus wenigen Sekunden laufender Geschichte ausgeschnitten, der mir für immer leuchtend im Gedächtnis bleiben wird.
Mir scheint der Großteil des Sommerwetters nur die Kulisse halb erinnerter Szenen zu sein: ein ausgedörrter Rasen, neblige Morgen am Meer, Stadtstraßen im Regen. Meine deutlichsten Sommererinnerungen stammen von Gewittern. Der Nachmittag zu Beginn der 1980er-Jahre am Kennet-und-Avon-Kanal, als ich meine erste Nachtigall in elektrisch aufgeladene graue Luft singen hörte, begleitet von fernem Donner, der näherkam und eine Stimme zu sein schien, die dem Vogel antwortete. Oder die heiße Woche in Gloucestershire in den 1990er-Jahren, als es jeden Abend gewitterte und die Luft Punkt sechs sepiafarben anlief; bevor die ersten Tropfen des Gewitterregens den Pollenstaub in Wolken vom Oberlicht aufsteigen ließen, öffnete ich die Fenster und wartete auf Donner, während Steinkäuze durch die dicke Luft riefen. Am nächsten Morgen bedeckten kleine weiße Punkte vom Winde verwehter Blüten das Haus mit nasser französischer Spitze. Ich habe alle meine Sommer in ihren Gewittern gemessen.
In Amerika gibt es Menschen, die ins Auto steigen und quer über die Great Plains Gewitterwolken nachjagen. Ein Teil des Nervenkitzels britischer Sommergewitter besteht jedoch nicht darin, dass man ihnen hinterherjagt, sondern dass sie zu einem kommen, wenn die Bedingungen stimmen. Trotz der Nervosität, die sich in einem breitmacht, wenn man das elektrostatische Knistern eines Blitzes durch Stimmen im Radio hört oder den Regen frisch durchnässter Erde in einer Windböe riecht, hat die Vorhersagbarkeit eines Gewitterlebenszyklus etwas seltsam Beruhigendes. Aus der richtigen Entfernung kann man dabei zusehen, wie eine sommerliche Kumuluswolke, ein aus sonnenerwärmter Luft und Wasser geborenes Gebilde, zu etwas in der Größe eines Berges heranwächst, Hagel und gleißende Hölle entfesselt und dann wieder verschwindet. Eine Gewitterwolke braucht etwa eine Stunde, um ihren Lebenszyklus zu durchlaufen, wobei sie sich zunächst nach oben dehnt und schiebt, bis ihre Oberseite auf die Troposphäre trifft und zur Seite gedrückt sowie mit Eis bestrichen wird. Die Wassertröpfchen, die nach oben in die Wolke hineingezogen werden, gefrieren und werden schließlich zu schwer, um weiter aufsteigen zu können; und so fallen sie und stoßen dabei mit kleineren Bruchstücken zusammen, die ihrerseits auf dem Weg nach oben sind. Bei jeder dieser Kollisionen werden Elektronen übertragen, sodass sich in den unteren Teilen der Wolke eine negative Ladung ansammelt und in den oberen eine positive. Letztlich springt der Blitz über dieses Gefälle zwischen der Oberseite der Wolke, ihrer Basis und dem Boden und schleudert dabei Stoßwellen überhitzter Luft von sich, die das Geräusch des Donners erzeugen. Die zerstörerische Kraft von Gewittern zwingt uns dazu, uns an die eigene Verletzlichkeit zu erinnern, an all die Grenzen, Sicherheiten und Gewissheiten unserer alltäglichen Welt. Zieh den Stecker von Fernseher und Telefon. Steig aus der Badewanne. Dusch nicht. Geh vom Fenster weg.
Doch bestehen Gewitter aus mehr als lediglich aus Materiellem. Aus Metaphern und Erinnerung beispielsweise. Gewitter bereiteten meiner Großmutter Kummer — sie erinnerte der Donner an den Schrecken des »Blitz«, der Bombenangriffe der Luftwaffe auf britische Städte zwischen 1940 und 1941. Für mich aber birgt Donner noch immer diesen leuchtenden Augenblick, als mein Vater mir als Kind erklärte, wie Gewitter aus Sonnenlicht und heißer Erde, aus strömender Luft und Wasser entstehen und dass man durch das Zählen der Sekunden zwischen Blitz und Donner — eins Mississippi, zwei Mississippi — herausfinden kann, wie weit weg das Gewitter ist. Bei fünf Sekunden anderthalb Kilometer. Man kann sein Herannahen berechnen. Und selbst jetzt überkommt mich beim Zählen dieser Sekunden ein leises Staunen, das mit dem Vorüberziehen der Jahre ebenso verbunden ist wie mit dem Vorüberziehen einer Wolke über regendurchnässten Boden.
Sommergewitter beschwören Entfernung und Zeit herauf und all die Dinge, die auf uns zukommen und über die wir keine Kontrolle haben. Solche Gewitter haben ihren Platz in der Literatur: die zum Schneiden dicke Luft und die Stimmung unterdrückter Emotion, während sich das Gewitter zusammenbraut, die so oft für eine unausweichliche Katastrophe stehen. Einen Mord in Agatha Christies Das fehlende Glied in der Kette, Leos Entdeckung in Hartleys The Go-Between. Kein Wetter erzeugt so vollkommen das Gefühl der Vorahnung, der Spannung und des Wartens wie die gespenstische Stille, die häufig vor den ersten feisten Regentropfen herrscht, wenn Gewitterlicht Dächer und Felder leuchten und schwarze Umrisse von Bäumen am Horizont stranden lässt. Das Gewitter als Erwartung. Eine Lösung, die kurz davorsteht, sich zu bieten. Oder die Hölle, die kurz davorsteht loszubrechen. Und während sich die Wochen dieses Sommers hinziehen, muss ich unweigerlich denken, dass dies das Wetter ist, das uns jetzt alle ausmacht. Wir alle warten. Warten auf Neuigkeiten. Warten darauf, dass der Brexit uns trifft. Warten auf die nächste Enthüllung bezüglich der Trump-Regierung. Warten auf Hoffnung, gestrandet in diesem eigenartigen Licht, das unsere Herzen still werden lässt, bevor der Sturm der Geschichte losbricht.