Skript für Sarah Woods Film Murmuration x 10 (2015)
Ich hatte meinen Pass verloren. Heillose Panik. Ich brauchte schnell einen neuen. Also fuhr ich eines Morgens die A 14 nach Norden hinauf, an den Sexshops, den halb im Nebel versunkenen Tankstellen und den Kolonnen der Maersk Sealand Hanjin-Containerfahrzeuge vorbei, in der Tasche einen Umschlag mit zwei Fotos von mir, eines von offizieller Stelle abgezeichnet und unterschrieben, und den Angaben zu meiner Person, mit schwarzem Kugelschreiber in Großbuchstaben auf drei Seiten orangefarbenes Papier geschrieben. Um neun Uhr fünfzehn flog ein Schwarm Regenpfeifer irgendwo in der Nähe von Wisbech tief vor die Windschutzscheibe und hing dort kurz, bevor er wieder ins Nichts verschwand. Fugenloser Nebel. Weder Land noch Himmel sichtbar. Ich dachte an die leeren Luftzeitaltergloben aus den 1930er-Jahren, auf denen keinerlei Geografie verzeichnet war, die absolut weiß waren, abgesehen von den aufgedruckten Namen von Flughäfen, da wir damals alle in den Himmel sehen sollten, weil uns die Geschichte Flügel verliehen hatte und Grenzen veralteten. Die Hoffnung war ein Ding mit Federn.
Auf der Passstelle marschieren dreißig schweigsame Menschen einzeln durch die Sicherheitsröntgenkontrolle. Wir schalten unsere Telefone und Computer aus. Unsere Taschen werden auf spitze Gegenstände und Druckgasbehälter durchsucht. Dann sitzen wir, die Füße auf grauem Teppich, und warten darauf, an die Reihe zu kommen. Leises Gemurmel. Flachbildschirme. Wir sehen uns BBC-Nachrichten an, durchlaufender Text und Filmausschnitte, Unruhen und ferne Kriege und ein Parteitag am Meer.
Der Parteitag war in Brighton. Ich war in einem Winter auch einmal dort. Ich stand in der Abenddämmerung auf dem Pier und sah den Staren zu, die zum Schlafen herangeflogen kamen, Kleckse fließenden Öls über dem Meer, die in Scharen aufstiegen und sich im schmiedeeisernen Gerüst unter dem Plankensteg niederließen, und während sie sich in der Dunkelheit unter den Arkadenlampen einrichteten, begannen sie zu singen. Ihr Gesang ahmte die Jahrmarktsmusik der Buden oben nach, dieselben Noten in neuer Vogelordnung, gesplissene, verdoppelte, pfeifende Bänder, tausend Kurzwellenradios, die sich zwischen Zirkusstationen im Osten stimmten, jenseits der Ostsee, woher sie gekommen waren. Ich stand da und lauschte nachgeahmter menschlicher Musik unter dem Boden, und die See unter uns war glatt und mit winzigen Lichtern gespickt und
Ja, einen Star schaff’ ich, der nichts soll lernen
Zu schrein, als »Mortimer«, und geb’ ihm den,
Um seinen Zorn stets rege zu erhalten.
Ich sehe zu den Leuten vom Sicherheitsdienst der Passstelle, und sie sehen zu mir, und ich erinnere mich an einen britischen Offizier namens Peter Conder, der den Zweiten Weltkrieg in Gefangenenlagern in Deutschland verbrachte. Die er überlebte, indem er Vögel beobachtete. Distelfinken. Wendehälse. Zugkrähen, die im Abfall auf den gefrorenen Feldern herumpickten. Stunden, Tage, Jahre hintereinander. Als er nach Hause kam, sprach er nicht. Er wohnte bei seiner Schwester und starrte aus dem Fenster, wo die Londoner Stare in langen Reihen auf Gesimsen aus Portland-Stein schliefen. Mit kriegsmüden Augen nahm er wahr, dass sie in regelmäßigen Abständen zueinander saßen, gerade so weit auseinander, dass sie den nächsten Vogel leicht erreichen konnten, um diesem einen Schlag zu versetzen und ihn zurechtzuweisen. Schlafkojen und Lager, noch einmal abgespult in Nachkriegsornithologie. Er taufte es das Prinzip der Hackdistanz.
Und davor, nachdem der Erste Weltkrieg aus den Feldern und Wäldern in Flandern gallenbittere Landkarten gemacht hatte, Niemandsland, Felder mit Minen und Stacheldraht und eingravierten Gräben voller Männer und schmutzigem Wasser, davor hatte ein Mann namens Henry Eliot Howard beschlossen, dass auch Vögel Reviere haben. Er erzählte uns, sie sängen nicht aus Liebe. Erzählte uns, Männchen sängen für andere Männchen und in jedem Ton stecke eine Warnung. Jeder Gesangstriller erhebe den kleinen Anspruch des Vogels auf einen Flecken englischen Bodens. Und die leuchtenden Farben der Vögel seien nicht dazu da, einen Partner anzulocken. Das Gefieder, das sie trugen, sei ein Abzeichen des Drohens: kleine kriegerische Uniformen.
Ich denke an Julian Huxley im Radio, damals, 1942, der erklärte, wer seine Vögel nicht kenne, könne auch sein Land nicht vollständig kennen. Der Gesang der Goldammer, so Huxley, sei die Essenz heißer Landstraßen im Juli. Das Gurren der Turteltaube das Wesen englischer Hochsommernachmittage. Vögel als »Erbe, für das wir kämpfen«. Als der Krieg ausbrach und die Marine Peter Scott zur See schickte, warf er vom Deck seines Zerstörers einen Blick zurück und wusste, wofür er kämpfte: für den Schutz der Stock- und Krickenten, die ihre Jungen im Röhricht von Slapton Ley aufzogen. Irgendwie waren sie England.
Ich halte den Zettel mit der Nummer, den ich gezogen habe, fest in meiner Hand und warte weiter darauf, an die Reihe zu kommen. Ich denke an das neue Nature Writing. An die BBC-Serie Springwatch, Migrationszählungen, Broschüren im Briefkasten. Es ist schon einmal geschehen, wenn die Dinge kollabieren, wenn Vorstellungen versagen, wenn Wirtschaften schlingern, wenn das Zeitungspapier vor Invasionsängsten und Identitätsverlustängsten raschelt. Wir markieren uns selbst auf der Karte, um unser Revier zu betrachten. Wir kontrollieren. Wir wenden uns nach innen. Suchen uns im Spiegel der Landschaft. Sehen die Natur als Zuflucht. Als die unsere. Als uns. Im Winter 1934 erfuhren Landwirte in Norfolk, dass die Lerchen auf ihren Feldern Migranten vom Kontinent waren. Sie schossen sie ab als Strafe für den Angriff auf ihren Sommerweizen. »Kein Schutz für die Feldlerche«, hieß es in den Schlagzeilen der Lokalpresse: »Lerchen, die für Nazis singen, finden hier keine Gnade.«
Eine Frau in einer blauen Jacke sitzt drei Stühle weiter. Sie hat die Augen geschlossen, ihre Knöchel treten vor dem Umschlag der Antragsformulare weiß hervor. Schläft sie? Kann man schlafen und dabei etwas so fest halten? Ich schließe ebenfalls die Augen. Einwandfreie Formulare, einwandfreie Form, fest gehalten. Formen des Mitgefühls.
Als ich klein war, hatte ich ein Buch namens Garden Bird Study, in dem vorgeschlagen wurde, ich solle eine Karte von der Umgebung meines Zuhauses anfertigen. Einzeichnen, wo die in der Gegend heimischen Vögel sangen. Bei sehr sorgfältiger Beobachtung könne man herausfinden, wo das eine Revier aufhörte und das andere begann. Ich tat wie vorgeschlagen. Ich zeichnete Linien auf meiner Karte. Markierte die Stellen, an denen sich Nester befanden. Erstellte Listen von Vögeln, Standvögel, Sommervögel, Wintervögel, Vögel, die über die Gegend hinwegflogen. Jeder verschmierte Bleistiftstrich band mich enger an die Vögel und den Garten. Und band mich gleichzeitig davon los. Es enthüllte Ebenen anderer Augen, anderer Leben, anderer Sichtweisen dessen, was die Welt sein mochte. Als wir Jahre später aus dem Haus auszogen, weinte ich der Erinnerung an all die Räume meiner Kindheit nach. Ich trauerte aber auch um die Linien, Listen und kleinen Kreuze — für das Taubennest, das Amselnest, die Rotkehlchen vor der Tür. Sie waren Teil der Natur von zu Hause geworden.
1933 entstand der British Trust for Ornithology. Diese neue Organisation kümmerte sich nicht um den Vogelschutz. Sie studierte Vögel und warb die britische Öffentlichkeit an, ihr bei ihren groß angelegten Erhebungen zu helfen. Nun sollte man Vögeln nicht mehr einfach nur zusehen. Sie sollten beobachtet werden von einer Freiwilligenarmee aus scharfsichtigen Bürger-Wissenschaftlern. Ausgebildete Beobachter auf Fahrrädern, die den Bewegungen der Mauersegler folgten. Sie füllten Karteikarten und Fragebogen aus, schrieben Berichte. Sie hatten ihre Befehle: den Kauf »einer amtlich topografischen Karte im Maßstab 1 : 63.360 des gesamten Bezirks, einer Karte im Maßstab 1 : 10.560 der weiteren Umgebung und einer Karte im Maßstab 1 : 2534 der unmittelbaren Umgebung«, auf denen sie die Verteilung der Vögel markieren konnten. »Verwendet diese Karten«, sagte man ihnen, »und scheut euch nicht, etwas darauf einzuzeichnen.« Tausende neuer Beobachter, durch Akte des Hinsehens, Akte des Gehens, Akte des Zählens, Auszählens, Dokumentierens an die Vorstellung einer Nation gebunden. Was sie machten, war Kriegsarbeit.
Vielleicht auch Weissagungen. Niemand wusste das. Seltsame Vorkommnisse in Zeiten der Angst vor der Invasion. Vögel, die in Häuser eindrangen. Spatzen, die Tapeten abrissen. Blaumeisen, die Sahne aus Milchflaschen mit Pappdeckeln stibitzten. Haben Sie Daphne du Mauriers Die Vögel gelesen? Ich meine nicht den Film, ich meine die Kurzgeschichte. Eine englische Geschichte, die Fabel einer großen Veränderung, die Vögel in Feinde verwandelt hat. Sie versammeln sich massenweise auf den Feldern und dem Meer, bevor sie landeinwärts fliegen, um die Menschheit anzugreifen. Was er zunächst für die weißen Schaumkappen der Wellen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Möwen. Hunderte von ihnen, Tausende, Zigtausende … Sie hoben und senkten sich in den Wellentälern der Meere, die Köpfe in Richtung Wind, wie eine gewaltige Flotte vor Anker, und warteten auf die Flut. Irgendjemand sollte davon wissen. Irgendjemandem sollte man es sagen.
Für Großbritanniens Vogelbeobachter Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aber konnte es keine Zeichen und Wunder geben. Irrationalismus und Aberglaube gehörten der Vergangenheit an. Sentimentalität sollte durch Wissenschaft ersetzt werden, poetische Vagheit durch bewusste Kontrolle, durch konstruktives kritisches Denken. Dennoch entwickelte sich etwas mehr als Wissenschaftliches aus Klein-England und all seinen Puppenklippen. Weiße Kreide. Chain Home — Frühwarnradarstationen an der Küste. Jeder beobachtete jetzt. Alles wurde beobachtet. Das Royal Observer Corps schickte Berichte über Flugzeugbewegungen, während andere Observierer Berichte über Vögel schickten. James Fishers Eissturmvogelbesessenheit nahm zu, geisterhafte, onyxäugige Seevögel, die ihr Verbreitungsgebiet an den britischen Küsten entlang ausdehnten. Von Lundy aus bis nach Land’s End und Tintagel; von Land’s End aus bis zu den Scilly-Inseln und zur Halbinsel Lizard; von Lizard aus bis nach Start Point; von Start Point aus nach Swanage; von Swanage aus bis zu den Seven Sisters; von den Seven Sisters aus bis nach Hastings … Vor Kurzem hat man Eissturmvögel an den Klippen von Broadstairs und Margate gesichtet, schrieb er. Ich weiß nicht, wohin das noch führen wird. Er besetzte Coastal-Command-Stationen, um nach Eissturmvögeln ebenso wie nach feindlichen Flugzeugen Ausschau zu halten. Er arrangierte RAF-Erkundungsflüge, um die Brutstätten der Vögel zu fotografieren. Ein Durcheinander von Flügeln und Augen. Die ganze Welt im Kriegszustand.
Mittlerweile gibt es an den wichtigsten Zugroutenpunkten entlang der gesamten britischen Küste Vogelwarten. Bardsey. Calf of Man. Cape Clear. Dungeness. Flamborough. Gibraltar Point. Portland Bill. Auf der Isle of May. Ihre große Blüte erlebten sie nach dem Krieg. Stellen Sie sich vor: Sie sind Gefangener in Deutschland. Sie haben eine Armeenummer, Sie haben eine Kriegsgefangenennummer. Nachdem Sie befreit wurden, kommen Sie nach Hause. Sie sind aber nicht ganz frei, denn Sie müssen es wieder tun, und wieder, und wieder. Ein Teil von Ihnen steckt in den vergangenen Abläufen von Truppenbewegungen und Karten und Grenzen und Flucht und Hoffnung und Heimat fest. Wenn Sie George Waterston sind, gründen Sie eine Vogelwarte, und zwar in ehemaligen Militärgebäuden am entlegenen Rand Großbritanniens, auf der abgeschiedenen Fair Isle. Und dort fangen Sie und Ihre Kollegen verirrte Vögel und Zugvögel in Netzen und Käfigen und versehen sie mit nummerierten Ringen, bevor Sie sie wieder freilassen. Sie hoffen, dass jemand sie finden wird, sodass Sie Karten zeichnen können, die die unsichtbaren Bewegungen der Vögel um den Globus herum sichtbar machen. Sie lassen sie ziehen, doch ein Teil von Ihnen zieht mit ihnen. Ihre Vögel sind gefiederte Stellvertreter jenseits menschlicher Grenzen. Sie beneiden sie.
In der Kabine hält der Passbeamte mein Bild an den Bildschirm und kneift die Augen zusammen. Hier gibt es nirgendwo Schatten, das Licht ist absolut gleichmäßig verteilt. Ja, das sind Sie, sagt er. Ich bin erleichtert. Er wendet sich meinen Formularen auf seinem Schreibtisch zu und kritzelt eine Reihe von Zahlen darauf. In der hellen, glasklaren Stille denke ich: Was bedeuten sie? Zweifel kreisen und schwärmen aus. Unbedeutende Fakten.
Ein Mann namens David Lack. Er arbeitete während des Krieges in der Frühwarnkette der Küstenbeobachtungsradarstationen. Als sich die Länge ihrer übermittelten Radarwellen auf zehn Zentimeter verkürzte, begannen die Mitarbeiter, Echos draußen auf dem Meer zu melden. Das waren weder Schiffe noch Flugzeuge. Es waren Geister. Sie bewegten sich mit einer Geschwindigkeit von dreißig Knoten, was zu Luftangriffswarnungen führte. Man stellte Flugzeuge zusammen. Die nichts fanden. Lack und seine Kollegen legten sich darauf fest, dass es sich um Radarrückstrahlungen von Seevögeln handelte. Doch das war noch nicht alles. Als man das Hochleistungsradar erfunden hatte, tauchten weitere Geister auf. Die Betreiber der Stationen nannten sie Engel. Am häufigsten erschienen sie im Frühjahr und im Herbst. Sie trieben nicht mit dem Wind. Sie irritierten diejenigen, die sie sahen. In Marconis Forschungslabor schrieben Wissenschaftler über Reihen von Engeln, die an der Küste entlangzogen. In der stärksten Phase lösten sich einzelne schillernde Engel aus der Reihe, sagten sie. Und man konnte dabei zusehen, wie sich ein deutlicher Strom anhaltender Engelechos die Themsemündung hinauf bewegte. Diese Engel waren Stare, die sich in pulsierenden Kreisen von ihren Schlafplätzen erhoben, Kiebitze, die an Wetterfronten entlang nordwärts zogen, angetrieben von heftigen Schneefällen. Der ganze Himmel bläulich radiert von Flugzeugen und den Reflexen schlagender Flügel. Das war etwas Neues. Wissenschaft in Romantik verwandelt. Die partikelförmige Schönheit ungeahnter Scharen nicht menschlichen Lebens, Minute für Minute über den Himmel verfolgt und aus dem Mysterium aufgestiegen. Eine Musik, verständlich gemacht durch den Krieg, doch sind die Lieder, die die Vögel singen, Hymnen langsam strömenden Lichts.
Ich verlasse das Gebäude mit dem Versprechen, einen neuen Pass zu bekommen, ebenso wie die Frau mit der blauen Jacke und der Mann mit der Einkaufstüte und das ältere Paar, das unterwegs ist, um sich das erste Mal mit seinem Enkel in Australien zu treffen, und der Teenager, der mit seinen Kumpels nach Ibiza fliegen will, und auf dem Weg zu meinem Auto muss ich an das denken, was mir ein Vogelberinger über das Fangen von Schwanzmeisen in Japannetzen erzählt hat. Da die mausgroßen Vögel in Familienverbänden nach Nahrung suchen, verfangen sie sich alle auf einmal in den Netzen. Anschließend werden sie nacheinander aus den Netzen befreit und einzeln in Beutel gesteckt, die an Haken im Beringungsschuppen hängen, wo die Vögel dann gewogen, vermessen und beringt werden. In dieser furchtbaren Einsamkeit rufen sie einander, ununterbrochen, eindringlich, und versichern sich gegenseitig, dass sie noch immer zusammen sind, alle eins. Haben sich die Ringe um ihre Beine geschlossen, werden sie freigelassen, alle auf einmal, um ihr Leben wieder aufzunehmen, in dem sie fortan ihre winzigen Nummern beim Fliegen bei sich tragen.