Auf einer kleinen Plinthe in einem Universitätsmuseum der Stadt Rostock ruht ein berüchtigt grausiges Ausstellungsstück: ein ausgestopfter Weißstorch, dessen gewundener Hals von einem hölzernen Speer mit Eisenspitze aus Zentralafrika durchbohrt ist. Der unglückliche Vogel überlebte den Angriff und flog zurück nach Deutschland — nur um dann dort im Frühling des Jahres 1822 von einem Jäger abgeschossen zu werden. In Zeitungsberichten offenbarte sich der ferne Ursprung des Speers, und das alsbald Pfeilstorch getaufte Tier ging als wichtiges Teil in dem Puzzle, wo deutsche Störche den Winter verbringen, in die Geschichte ein.
Auch im achtzehnten Jahrhundert noch vertraten zahlreiche Experten Aristoteles’ Ansicht, Vögel hielten in den kalten Monaten Winterschlaf, und glaubten den Behauptungen von Fischern, man könne ganze Bündel lebender Schwalben aus dem Wasser unter dem Eis zugefrorener Winterteiche ziehen. Erst im neunzehnten Jahrhundert begannen europäische Naturkundler mit der ausgiebigen Erforschung des Vogelzugs, indem sie die Beine der Tiere mit nummerierten Metallringen versahen und sorgfältig die Orte verzeichneten, wo man die entsprechenden Nummern später wiederfand. Der Rostocker Pfeilstorch ist ein frühes, makabres Beispiel dafür, wie die Wissenschaft der Tierwanderungen funktioniert. Seien es nun ungewollt überbrachte Speere, GPS-Geräte oder Satellitensender: Wenn man die Bewegungen von Tieren verfolgen will, muss man Letztere dazu unweigerlich mit menschlicher Technologie ausstatten.
Heute tragen viele Tausende von Vögeln und anderen Tieren solche Sender. Sie werden mit wassertauglichem Epoxidharz auf den Panzer von Meeresschildkröten geklebt und von Booten aus auf den Speck vorbeischwimmender Wale abgefeuert. Schwäne und Bären tragen den Sender an Halsbändern, und kleineren Vögeln wird eine Art Geschirr umgeschnallt, das den solarbetriebenen Sender am Rücken der Tiere befestigt. Jeder einzelne Sender kommuniziert mit einem Netzwerk an Satelliten und übermittelt so die jeweilige Position des Tiers.
Kennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Routen der Tiere auf ihren Wanderungen, können sie die Gefahren, denen die Tiere dort ausgesetzt sind, besser einschätzen, etwa in Regionen, die vom Schwinden des Lebensraums oder von Aktivitäten von Jägern betroffen sind. Allerdings folgen mittlerweile nicht nur die Augen von Experten den Bewegungen der mit Sendern versehenen Tiere. Auch für den Rest der Menschheit machen die zunehmend zur Verfügung stehenden Bilder ihrer Reisen die Welt zu einem komplexeren und staunenswerteren Ort. Ich kann heute am Computer sitzen und dabei zusehen, wie Weiße Haie, die man in kalifornischen Küstengewässern mit Sendern ausgestattet hat, mehr als tausendsechshundert Kilometer weit schwimmen, um in einem abgeschiedenen Teil des Pazifiks, bekannt als White Shark Café, zu überwintern. Kann lesen, wie Amurfalken auf ihrer Reise über den Ozean zwischen Indien und Afrika überleben — indem sie nämlich Schwärmen von Libellen folgen, die dieselbe Reise machen, und sich im Flug von ihnen ernähren.
Es gibt viele Webseiten, auf denen man mit Sendern versehenen Tieren einen Namen geben, für sie spenden und ihnen folgen kann. Ich besuche regelmäßig eine vom British Trust for Ornithology, die sich den jährlichen Reisen einzelner Kuckucke zwischen Großbritannien und Afrika widmet; dies ist Teil eines größeren Projekts, das dem rapiden Populationsniedergang der Spezies in Großbritannien auf den Grund gehen soll. Seit den 1980er-Jahren ist der Kuckuckbestand um mehr als die Hälfte zurückgegangen, und die Gründe dafür sind noch immer unklar. Heute hat mich das Internet darüber informiert, dass ein Kuckuck namens David in seine Heimat in Wales zurückgekehrt ist — wenngleich man kaum weiß, was »Heimat« für einen Kuckuck bedeutet. Denn das Projekt hat gezeigt, dass einige der Vögel nur fünfzehn Prozent ihres Lebens in ihren Herkunftsländern verbringen. Ich klicke Davids Bild an und dann die von sechzehn weiteren besenderten Kuckucken — ängstliche, goldäugige Bündel grauer Federn in den Händen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern —, die sich so sehr von den schnell fliegenden Silhouetten mit spitzen Flügeln unterscheiden, die im Frühjahr zwischen den Bäumen in der Nähe meines Hauses umherflackern. Die aktuelle Position jedes einzelnen Kuckucks ist durch ein anklickbares Symbol auf einer Google-Earth-Karte auf dem Bildschirm dargestellt. Farbige Linien zeichnen ihre Flugrouten von England über Europa, Nordafrika und die Sahara bis zu der Feuchtwaldzone nach, in der die Vögel überwintern. Die Standard-Satellitenansicht auf der Webseite verfügt über keinerlei Einblendungen, die Städte oder Länder anzeigen würden. Das regt mich dazu an, die Welt mit den Augen eines Tiers zu sehen: als einen Ort ohne Politik oder Grenzen, überhaupt ohne Menschen, sondern als bloße klimatische Abfolge von Habitaten, die sich von den kühlen nördlichen Gebirgen bis zu den dichten Regenwäldern Angolas und des Kongos erstreckt.
Projekte wie dieses gewähren uns einfallsreichen Zugang zum Leben wilder Tiere — die verästelten, holprigen Pfade der echten Tiere einfangen können sie nicht. Stattdessen lassen sie uns virtuellen Tieren bei ihrer Reise durch eine Welt des ewigen Tageslichts zusehen, die sich aus einem Flickenteppich übereinandergeschichteter Satellitenbilder und Luftaufnahmen zusammensetzt, eine zweidimensionale, statische Landschaft frei von Zufällen. In dieser Welt gibt es keine eisigen Winde über hoch gelegenen Bergpässen, keine heftigen Regenfälle, keine kreisenden Greifvögel, keine reifende Ernte und keine gerade überstandenen Dürren. Und trotz dieser Simplifizierung kann das Verfolgen eines Tiers mit Sender auf einer Karte süchtig machen. Es ist schwer, nicht an seinem Schicksal teilzuhaben. Der Vogel kann sterben, der Sender versagen. Man weiß nie, wohin er als Nächstes fliegen wird. Der Vogel ist sich der Augen, die sein Fortkommen beobachten, nicht bewusst, und man selbst schwankt zwischen dem Gefühl der Macht — die Überwachung aus der Ferne — und dem Wissen, dass man gleichzeitig machtlos ist, dass man das weitere Geschehen nicht beeinflussen kann.
Je mehr man zusieht, desto mehr hat man das Gefühl, dass man die Reise des Kuckucks irgendwie auch selbst macht, dass man virtuell die Welt erkundet. Die Fantasie einer Welt ohne Grenzen wird rasch durch die Vision einer heroischen Entdeckungsreise ersetzt. Man nimmt die Rolle des einsamen Reisenden an, unterwegs in mühseliger Mission, Länder zu durchqueren und weiße Flecken auf der Landkarte zu erobern. Da die Verfolgung via Satellitensender sehr kostspielig ist, können wir nur mit einigen wenigen mit Namen bedachten Tieren reisen. Und im Laufe ihres erstaunlichen Fortkommens wachsen diese uns immer mehr ans Herz. Junge Kuckucke, die ohne die Hilfe der Eltern ihren Weg nach Afrika finden; Unechte Karettschildkröten, die zwölftausend Kilometer weit von ihren Nahrungsgründen vor Mexiko bis an die Strände Japans schwimmen; Streifengänse, die über den Himalaja ziehen und dabei solch extremen und plötzlichen Höhenveränderungen ausgesetzt sind, dass ein Mensch sie wahrscheinlich nicht überleben würde. Man kann über die Pfuhlschnepfen staunen, die in neun Tagen nonstop elftausend Kilometer weit von Alaska über den Pazifik nach Neuseeland fliegen. In unseren Augen sind dies bemerkenswerte Akte körperlichen Durchhaltevermögens. Wir können nicht anders, als die Fähigkeiten dieser Tiere am Maß unserer eigenen zu messen.
Gegen die unbewusste Sehnsucht, uns selbst in diesen Tieren zu sehen, sind auch die an solchen Projekten beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht gefeit: Sie betrachten die mit Sendern versehenen Tiere häufig als Kollegen und Mitarbeiter. Tom Maechtle, Biologe und Umweltgutachter, der an der University of Maryland zum Thema der Greifvogelwanderung gearbeitet hat, sprach davon, dass die Satellitenüberwachung von Tieren das jeweilige Tier »zum Partner des Forschers« macht; man könne mit Sendern ausgestattete Falken durchaus als Biologen sehen, die »ausgesandt wurden, um andere Vögel aufzuspüren und Proben von ihnen zu nehmen«.
Immer mehr gelten Tiere nicht nur als Stellvertreter wissenschaftlich Forschender, sondern auch als Rüstzeug der wissenschaftlichen Forschung, als wissenschaftliche Geräte wie Sender oder Sonden. Bei einem Projekt beispielsweise, das sich dem Klimawandel in Westantarktika widmet, sammeln und übermitteln See-Elefanten, denen man Sender auf die Stirn geklebt hat, Daten zur elektrischen Leitfähigkeit, zur Temperatur und zur Tiefe des Ozeans; diese Daten wiederum werden für Wetterprognosen und die Klimaforschung verwendet. Das Bild autonomer Geräte zum Sammeln biologischer Proben verwischt die Grenzen zwischen Technologie und lebendem Organismus und negiert heimlich, still und leise die Handlungsmacht des betreffenden Tiers.
Mit Sendern ausgestattete Tiere sind nicht nur Träger menschlicher Technologie, sie sind auch Träger menschlicher Sichtweisen der Welt. Die Mischwesen passen perfekt zu unserer modernen Vorstellung von unserem Planeten als unter konstanter Beobachtung stehender Umgebung, in der Augen am Himmel Tierbewegungen von einem Land zum anderen verfolgen und in der diese Bewegungen anschließend auf Karten verzeichnet werden, ebenso wie sich bewegende Schiffe und Flugzeuge verzeichnet werden. Eine Welt, in der Forscher des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten an selbst fliegenden Robotern arbeiten, die den Flug von Greifvögeln und Insekten nachahmen, eine Welt, in der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Goliathkäfer mit elektronischen Rucksäcken ausstatten, mithilfe derer sie die Tiere per Fernbedienung fliegen oder steuern können.
Frühe Vorreiter auf dem Gebiet der Tierverfolgung aus der Ferne bemühten sich beim Militär um finanzielle Unterstützung für ihre Arbeit, mit dem Argument, Vogelzugstudien könnten dazu verwendet werden, Navigations- und Raketenlenkungssysteme zu verbessern. Die Entwicklung von Technologien zur Überwachung von Tieren hatte ihren Ursprung in einer Mikroelektronikindustrie mit anfänglich sehr engen Verbindungen zum Militär. In unserem Zeitalter der Drohnenkriegführung ist es schwierig, die auf der Karte nachverfolgten Tiere nicht als Sinnbild für die Ausweitung der technologischen Überlegenheit und globalen Überwachung zu sehen.
Wenn der ausgestopfte Pfeilstorch in dem Rostocker Museum als Symbol für die Anfänge der Tierwanderungswissenschaft steht, könnte sein heutiges Äquivalent ein weiterer Storch sein, ein junger Vogel namens Ménes, der 2013 in Ungarn mit einem Peilsender versehen wurde, und zwar im Rahmen eines grenzübergreifenden Vogelzugprojekts, das gemeinschaftlich europäisch gesponsert wird. Nachdem er das Nest verlassen hatte, flog Ménes über Rumänien, Bulgarien, Griechenland, die Türkei, Syrien, Jordanien und Israel nach Süden und landete im Niltal in Ägypten, wo er von einem Fischer eingefangen und in Polizeigewahrsam genommen wurde — der Storch, der »ein suspektes elektronisches Gerät« trug, geriet in den Verdacht, ein Spion zu sein.
Ich habe mir oft und lange Fotos von Ménes hinter Gittern angesehen, wie er da stand, halb im Schatten, den Schnabel gesenkt, die Zehen auf Beton ausgebreitet, das traurige Opfer eines Landes im Würgegriff tief verwurzelter politischer Spannungen. Sicherheitsexperten befreiten Ménes vom Verdacht der Spionage, und so wurde er freigelassen — nur um wenig später tot auf einer Insel in der Nähe von Assuan aufgefunden zu werden, der schlammbeschmutzte Leichnam eines Storchen, der zur schmerzlichen Inkarnation menschlicher Ängste und Konflikte geworden war. Die Medienberichte über sein Schicksal machten seine Geschichte zu der eines schon beinahe komischen Verfolgungswahns. Doch obwohl der Storch unschuldig war — eine ahnungslose Figur im geopolitischen Spiel von Überwachung und Spionage —, war es das aus Vogel und technischem Gerät geschaffene Mischwesen weit weniger offensichtlich nicht.