Weißhaarig, mit weichen Gesichtszügen und leicht aristokratischem Glamour — das war Mrs Leslie-Smith, die allein in einem Holzbungalow voller Bücher und Zimmerpflanzen nur ein paar Türen weiter vom Haus meiner Eltern lebte. An einem lauen Herbstabend vor mehr als dreißig Jahren lud sie meine Mutter und mich ein, an ihrem nächtlichen Ritual teilzuhaben. Sie bat uns, auf Stühlen vor einer Glastür, die zu ihrem Garten führte, Platz zu nehmen, nahm eine Keksdose zur Hand, öffnete sie unter einiger Anstrengung, ging nach draußen und verteilte zerkrümelte Kekse auf den Fliesen ihrer Terrasse, wo sie im Licht der Außenbeleuchtung staubig schimmerten. Dann kam sie ins dunkle Zimmer zurück, setzte sich und wartete. Ebenso wie wir. Keiner sagte ein Wort — es war alles so still und feierlich wie im Zuschauerraum eines Theaters. Plötzlich tauchte vom Rand des Rasens aus ein schwarz-weiß gestreiftes Gesicht auf, das sich sofort wieder in die Dunkelheit zurückzog. Bald darauf trollten sich zwei Dachse aus der Nacht heraus über das Gras, um die Kekse geräuschvoll aufzuknabbern; sie waren so nah, dass wir ihre elfenbeinfarbenen Zähne und die gemusterte Haut ihrer Nase sehen konnten. Sie waren nicht zahm — hätten wir das Licht angemacht, wären sie davongestürzt —, aber eben so nah, dass ich den Drang verspürte, meine Hände an die Fensterscheibe zu drücken, damit auch sie mich wahrnahmen. Der Raum zwischen uns im Haus und den wilden Geschöpfen im Garten war mit reiner Magie angefüllt.
Dachse haben wir in meiner Kindheit im Garten nicht gefüttert, dafür aber Vögel. Das tut insgesamt ein Fünftel bis ein Drittel aller Haushalte in Australien, Europa und den Vereinigten Staaten. Die Amerikaner geben mehr als drei Milliarden Dollar jährlich für Vogelfutter aus, das von Erdnüssen bis zu speziellen Samenmischungen, Talgknödeln, Kolibrinektar und gefriergetrockneten Mehlwürmern reicht. Wir wissen noch immer nicht genau, wie sich das Füttern auf die Vogelpopulationen auswirkt; es gibt jedoch Belege dafür, dass sein enormer Zuwachs an Beliebtheit im Laufe des vergangenen Jahrhunderts bei einigen Arten zu einem veränderten Verhalten und einem veränderten Verbreitungsgebiet geführt hat. Zahlreiche deutsche Mönchsgrasmücken beispielsweise, hellgraue Zugvögel, fliegen mittlerweile nach Nordwesten, um den Winter in futterreichen, zunehmend gemäßigten britischen Gärten zu verbringen, statt nach Südwesten ans Mittelmeer zu fliegen, wie es ihre Vorfahren taten. Auch die nordwärtige Ausbreitung des Rotkardinals und Goldzeisigs ist möglicherweise dem vermehrten Füttern der Tiere durch den Menschen geschuldet.
Vögel im eigenen Garten zu füttern kann Beutegreifer anlocken, und durch kontaminierte Futterstellen können sich ansteckende Krankheiten wie Trichomonadeninfektionen und Vogelpocken verbreiten. Während sich das Füttern also nicht immer positiv auf die Tiere auswirkt, so ist es doch positiv für uns. Wir füttern wilde Tiere aus dem Wunsch heraus, ihnen zu helfen: Wir legen auf dem verschneiten Rasen aufgeschnittene Äpfel für Amseln aus, hängen Futterstellen für Finken auf. Der Autor Mark Cocker behauptet, »der simple Franz-von-Assisi-Akt des Vogelfütterns« wecke unsere Lebensfreude und erlöse uns »auf eine fundamentale Art und Weise«. Dieses Gefühl der Erlösung ist eng mit der Geschichte des Vogelfütterns verknüpft: Die Praktik entstand aus der humanitären Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts heraus, für die das Mitgefühl mit Bedürftigen als Anzeichen des aufgeklärten Individuums galt.
Im Jahr 1895 gab die beliebte schottische Naturforscherin und Schriftstellerin Eliza Brightwen Empfehlungen, wie man wilde Eichhörnchen füttern und zähmen könne, damit sie »aus freien Stücken zu Haustieren« würden. In Großbritannien hat die Gründung der Dicky Bird Society das Füttern von Vögeln im eigenen Garten populär gemacht; der Kinderverein aus dem späten neunzehnten Jahrhundert verlangte seinen Mitgliedern das Ehrenwort ab, immer gut zu allen Lebewesen zu sein und im Winter die Vögel zu füttern. Der Verein hatte großen Einfluss und erhielt sogar Briefe von Kindern aus Armenhäusern, in denen sie erklärten, dass sie sich Krümel vom Munde absparten, um sie den Vögeln draußen zu geben.
In den Vereinigten Staaten galt der preußische Adlige Hans Freiherr von Berlepsch als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der neuen Bewegung. In seinem Buch Der gesamte Vogelschutz legte er in allen Einzelheiten seine einfallsreichen Methoden zur Fütterung von Vögeln dar und beschrieb etwa, wie man zerlassenes Fett mit Samen, Ameiseneiern, gedörrtem Fleisch und Brot mischen und diese Mischung auf Nadelbaumäste auftragen könne, damit die Vögel im Winter nicht verhungerten. Großherzige Menschen, schrieb er, haben sich schon immer unserer gefiederten Wintergäste erbarmt. Im Ersten Weltkrieg war es beinahe schon patriotische Pflicht, amerikanische Vögel zu füttern: So konnten sie den Winter überleben und weiter Insekten fressen, die die landwirtschaftliche Produktion gefährdeten. Um 1919, so der Ornithologe Frank Chapman, sollten die Gartenvögel der Nation »nicht nur als willkommene Gäste, sondern auch als persönliche Freunde« betrachtet werden.
Heute ist das Gegenteil der Fall: Ein enger und inniger Kontakt mit Tieren wird immer seltener. Wir gestatten es nur einigen wenigen Arten von Tieren, das Haus mit uns zu teilen, und Interaktionen mit Wildtieren sind in der Regel auf Experten wie Biologinnen oder Ranger beschränkt. Gärten aber sind spezielle Handelszonen, die die imaginären Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen privatem und öffentlichem Raum überbrücken. Sie sind gemeinsames Territorium, Orte, die sowohl von Menschen als auch von Tieren als Zuhause erachtet werden. Dennoch: Füttern wir Tiere, dann zu unseren Bedingungen, nicht zu ihren. Wir erwarten von ihnen, dass sie ihren Platz in einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Ordnung akzeptieren. Vertraut uns ein vorsichtiges Eichhörnchen oder ein wachsamer Vogel genug, um uns aus der Hand zu fressen, ist das etwas zutiefst Befriedigendes und Besonderes, ein Hinübergreifen über die Grenze zwischen uns und ihnen, zwischen wild und zahm. Läuft dasselbe Eichhörnchen aber unaufgefordert unseren Arm hinauf und verlangt nach Futter oder schnappt uns eine Möwe unser Sandwich vor der Nase weg, sind wir darüber beinahe empört. Die frühen Anhänger des Vogelfütterns mussten gegen die Überzeugung ankämpfen, die Tiere würden dadurch »verwöhnt« und hätten bald keine Lust mehr, »ihre Arbeit im Haushalt der Natur zu erledigen«. Selbst heute noch ist es schwierig, Artikel mit Ratschlägen zur Wildtierfütterung zu lesen, ohne dass einen dabei das Gefühl beschleicht, in ihnen drehe es sich um etwas ganz anderes. Man rät uns beispielsweise, Füchse nur sporadisch zu füttern, um keine Abhängigkeit zu erzeugen, und warnt uns davor, dass die Tiere durch das Füttern ihren »natürlichen Respekt« vor uns verlieren könnten.
Es gibt akzeptable Tiere, und es gibt inakzeptable Tiere, ebenso wie es verdient und unverdient in Not geratene Menschen gibt, und die Grenzen der Respektabilität werden auf die gewohnte Art und Weise gezogen: durch das Heraufbeschwören von Ängsten — vor dem feindlichen Eindringen, vor der Fremdheit, vor Gewalt und Krankheit. Wie üblich spiegeln sich in den Tieren unsere eigenen Annahmen bezüglich der natürlichen Ordnung der Welt. »Dass man Füchse füttert, gehört zu den Dingen, über die man nicht spricht«, gestand eine Bloggerin online, die sich Sorgen darüber machte, dass ihre Nachbarn es herausfinden könnten. Absichtlich die falschen Tiere zu füttern — Spatzen, Tauben, Ratten, Waschbären, Füchse — ist ein Akt des gesellschaftlichen Verstoßes, der mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu führen kann, dass man von Whistleblowern angezeigt wird, von Whistleblowern, die sich ihrerseits Sorgen machen, um den Dreck oder die Gesundheit oder den Lärm, oder die sich einfach nur gern aufregen. Mit ausreichendem gesellschaftlichem Kapital kommt man natürlich mit allem ungeschoren davon. Die Schauspielerin Joanna Lumley etwa füttert zahme Wildfüchse in ihrem Londoner Garten nicht nur, sie lässt sie auch in ihr Haus; in Zeitungen erschienen Fotos von einem dieser Füchse, der es sich auf den Kissen ihres Wohnzimmersofas gemütlich gemacht hatte und fest eingeschlafen war.
Tiere zu füttern kann ein ungeheurer Trost für diejenigen sein, die es aus Gründen der sozialen oder persönlichen Umstände schwierig oder unmöglich finden, Kontakt mit anderen Menschen herzustellen. Menschen, die Stadttauben füttern, sind oft einsam und leben am Rand der Gesellschaft: ältere Menschen, obdachlose Menschen. Der Soziologe Colin Jerolmack hat solche Begegnungen mit Tauben denkwürdig als vorübergehende Auflösung der Einsamkeit beschrieben, und einige der traurigsten Tierberichte in den Medien drehen sich um Menschen, die zu einer Geld- oder sogar Gefängnisstrafe verurteilt wurden, weil sie sich weigern, mit dem Füttern der Vögel im Garten aufzuhören. »Sie sind mein Leben, weil all meine Verwandten inzwischen verstorben sind«, erzählte Cecil Pitts, ein fünfundsechzigjähriger Mann, der ein Bußgeld von fünfhundert Dollar zahlen musste, weil er 2008 wiederholt große Scharen von Tauben an seinem Haus in Ozone Park, Queens, gefüttert hatte. Er ist einer von vielen, die begonnen haben, sich mit den ungeliebten Bewohnern ihres Viertels zu identifizieren, mit Geschöpfen, die ignoriert oder verachtet werden, die hinter den sichtbaren Mechanismen der modernen Stadt leben.
Mit Futterhäuschen vor dem Fenster aufzuwachsen hat mich eine Menge über das Verhalten von Tieren gelehrt — das aggressive Zucken eines Eichhörnchenschwanzes, die genaue Haltung eines balzenden Rotkehlchens —, es hat mich aber auch die seltsame Verschmelzung von Vertrautheit und Andersartigkeit gelehrt, die wir in Wildtieren sehen. Tiere sind keine Menschen, uns jedoch ähnlich genug, um uns ein merkwürdiges und starkes Gefühl der Verwandtschaft zu vergönnen. Mrs Leslie-Smiths Dachse bescherten ihr die Gesellschaft vieler Gäste, die begierig darauf waren, die seltenen Tiere aus nächster Nähe zu sehen; sie bescherten ihr aber auch die Gesellschaft wilder Tiere, die sich entschlossen hatten, Zeit am Haus der alten Dame zu verbringen. Heute Morgen, als ich die Futterstellen in meinem Garten aufgefüllt habe, hüpfte eine Schar kleiner Sperlingsvögel in den Hecken herum, während drei Dohlen erwartungsvoll auf der Dachtraufe saßen. Eine sah zu mir herunter, schüttelte ihr dunkles Gefieder und gähnte — woraufhin ich ebenfalls gähnen musste, in einem Augenblick der ansteckenden Kameradschaft. Die Vögel, die sich entschlossen haben, meinen Garten zu besuchen, machen mein Haus zu einem weniger einsamen Ort. Und aus diesem Grund füttern viele Menschen Tiere: nicht nur weil uns das Gefühl, ihnen geholfen zu haben, zufrieden macht, sondern auch weil es uns mit Wesen umgibt, die uns kennen, die fähig sind, Bande mit uns zu schmieden, die begonnen haben, uns als Teil ihrer Welt zu betrachten.