Gegen neun ist die Sonne hinter dem King’s Forest untergegangen. Der Himmel ist in zartes Tiffany-Blau gehüllt, über uns ist er etwas dunkler, und es regt sich kein Lüftchen. Judith kennt sich hier hervorragend aus und führt uns durch tiefen Wald zu wenigen Hektar offenen Landes, einem Stand kopfhoher junger Kiefern zwischen Gras und Brombeergestrüpp, umgeben von Mauern ausgewachsener Bäume.
Wir warten auf etwas, das erst geschehen wird, wenn das Licht fast erloschen ist, und so schlendern wir eine Weile die sandigen Pfade entlang. Als die Nacht hereinbricht, recken sich unsere Sinne ihr entgegen. In der Ferne bellt ein Rehbock, kleine Säugetiere rascheln im Gras. Ganz leise sind auch Insekten zu hören. Der kratzige, harzige Duft von Heide wird stärker, hartnäckiger. Wir passieren Büschel von Natternköpfen und können dabei zusehen, wie die nahende Nacht ihre Blätter schwärzer färbt, ihre violetten Blüten blauer und intensiver, bis sie zu leuchten scheinen. Phosphoreszierend ziehen sich die Pfade durch die Dunkelheit. Weiße Nachtfalter fliegen in Spiralen vom Boden auf, ein Maikäfer schwirrt summend an uns vorbei, die Deckflügel aufgestellt.
Bald wird jegliche Farbe verschwunden sein. Der Gedanke ist schwer zu ertragen. In den vergangenen Wochen habe ich viel Zeit damit verbracht, Stu in einem Hospiz zu besuchen. Er und seine Partnerin Mandy gehören zu meinen teuersten, engsten Freunden. Ich begegnete Stu das erste Mal an einem rauen Dezembermorgen in den 1990er-Jahren auf einem Falkner-Feldtreffen in den East Anglian Fens. Der Baum von einem Mann hatte lockiges Haar und einen riesigen alten Habicht — eine beeindruckende und leicht furchterregende Erscheinung. Doch als ich sah, wie er mit seinem Greifvogel und seinen Hunden umging, nahm ich an ihm auch eine außerordentliche Sanftheit und Sorgfalt wahr. Ich denke so oft an diese Sanftheit, wenn ich an Stu denke: wie er seine Familie ansah, der Ausdruck seines nach oben gewandten Gesichts, als er dem Flug seiner Falken folgte, die Zärtlichkeit, mit der er ihnen zwischen Finger und Daumen den hakenförmigen Schnabel säuberte. Er war ein starker Mann, ein Mann mit starkem Willen, der sich seinen eigenen, unnachahmlichen Weg durchs Leben bahnte, und er besaß die erstaunliche Fähigkeit, die Menschen um sich herum zu beruhigen, ihnen etwas beizubringen und sie zu inspirieren.
Stu war immer bereit, den Zauber in der Welt zu sehen. Er erzählte mir einmal, wobei er voller Verwunderung den Kopf schüttelte, dass er einen weißen Hirsch gesehen hatte, der um Mitternacht über die Straße geschritten war wie eine Figur aus einer mittelalterlichen Legende. Wie sich eine Fledermaus in seiner Motorrad-Lederkombi verfangen hatte, als er mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs gewesen war; er war darüber so erstaunt und erfreut gewesen, dass er die Fledermaus in seine Tasche gesteckt und sie zu Hause erst allen gezeigt hatte, bevor er sie wieder freiließ. Und wie er, nachdem man die Krankheit diagnostiziert hatte, von der er wusste, dass sie sein Leben beenden würde, mit seiner Pointer-Hündin Cody auf den Feldern spazieren gegangen war. Wo sie dann zwei gerade geborene Hasenjunge gefunden hatte, Zwillingsbabyhasen, versteckt im Gras. Stuart war wie gesagt ein Baum von einem Mann, aber er hatte Tränen in den Augen, als er mir davon erzählte. Die Hasen waren so klein. So neu.
Nun, da um mich herum alles weniger deutlich zu erkennen ist und allmählich verschwimmt, denke ich an Stu und was mit ihm geschieht, denke an seine Familie, daran, was uns am Ende des langen Sommers unseres Lebens bevorsteht, wenn die Welt von uns weicht. Daran, dass wir alle eines Tages in die Dunkelheit gehen werden. Da hören wir plötzlich das Geräusch. Es dringt von den Bäumen hinter den Kieferschösslingen zu uns, und im Dunkel kann ich gerade noch ein Lächeln über Judiths Gesicht huschen sehen. Das Geräusch ähnelt dem einer Nähmaschine bei voller Leistung oder einer sich abspulenden Angelrolle; allerdings können diese Analogien aus dem Reich der Mechanik nicht im Geringsten die exquisite Musikalität des Geräuschs einfangen. Das satte und wunderschöne Schnurren hält vier oder fünf Sekunden an, bevor das Geschöpf, das es hervorbringt, einatmet, kurz die Tonhöhe senkt und dann von Neuem beginnt. Judith hält sich die Hände schalenförmig hinter beide Ohren und dreht den Kopf, um die Quelle zu orten. Sie zeigt auf eine Stelle vor uns und ein wenig zu unserer Linken. Irgendwo in dieser Richtung sitzt längs auf einem Ast, die Kehle gebläht, um diesen einzigartigen Gesang in die Nacht zu erheben, eine Nachtschwalbe.
Stellen Sie sich einen schlanken Vogel vor, so lang wie Ihre Hand vom Handgelenk zur Fingerspitze und mit riesig großen, tintenschwarzen Anime-Augen. Sein Gefieder ist in einem Konglomerat aus den Dingen des Waldes gemustert: Rinde, morsches Holz, die Spitzen welker Farnwedel, Spinnweben, die hellen Enden abgebrochener Zweige, lichtgesprenkelte Schatten, Laub. Nachtschwalben, auch als Ziegenmelker bekannt, sind kryptische Wesen, für die diese Feinheiten Sicherheit bedeuten. Tagsüber ruhen und nisten sie am Boden, der so vollkommen auf ihr Gefieder abgestimmt ist, dass man sie fast nicht sehen kann, auch nicht aus sehr geringer Entfernung. Der elegante Schnabel wirkt ganz normal, doch wehe, sie öffnen ihn: Dann blickt man in einen gewaltigen, rosafarbenen Schlund, wie auch Frösche ihn haben, umgeben von borstenähnlichen Federn, die den Vögeln beim Fangen ihrer fliegenden Beute — Motten, Käfer und andere Insekten — helfen. Der Vogel, den wir gerade hören, hat den Winter in Afrika verbracht; danach ist er hierhergekommen, um sich zu paaren und seine Jungen in dieser schachbrettartigen Landschaft aus Nadelwald und Heide aufzuziehen, bevor er im späten August oder September wieder gen Süden fliegt. Ein weiteres Schnurren beginnt, dann noch eines. Fünf Vögel, sechs? Das lässt sich schwer sagen, jedenfalls rufen sie überall um uns herum. Eine erlesene Musik, doch ich hoffe noch auf etwas anderes.
Ich hoffe nicht umsonst. Jetzt hören wir einen leisen Ruf, ein anderes Geräusch, das, das die Vögel im Flug machen. Ich pfeife etwas Ähnliches in die Dunkelheit zurück. Der Ruf erklingt erneut, näher diesmal, und während ich in die geräuschvolle Schwärze starre, ahne ich die Andeutung eines Vogels, der auf mich zufliegt, die Flügel schmale, schwankende Linien, die zwischen dem Ruf und meinem nach oben gewandten Gesicht auftauchen und wieder verschwinden. Und dann segelt dicht über unsere Köpfe hinweg eine Nachtschwalbe, ihr Umriss dunkel vor dem Hintergrund des Himmels. Ein wirklich seltsamer Vogel, wie ein spindeldürrer Falke, dem die Art, wie er fliegt, aber irgendwie die Gestalt eines Papierfliegers verleiht. Er ist so leicht in der Luft, dass er rein gar nichts zu wiegen scheint, außerdem hat er etwas Mottenähnliches. Ich kann gerade einmal die Bänderung an der Unterseite seiner Flügel ausmachen, das fehlende Weiß um die Flügelspitzen — es ist ein Weibchen; wir sehen zu, wie sie im Flug den Kopf einzieht, sich nach links hinabrollt und kurz in der Luft schwebt. Ein Männchen mit verschwimmenden weißen Flügelbinden gesellt sich zu ihr. Gemeinsam kreisen sie einige Sekunden lang, bevor sie sich trennen und in die Dunkelheit abtauchen. Wir hören ein rasches, flaches, klatschendes Geräusch, als das Männchen die Flügeloberseiten beim Fliegen zusammenschlägt. Es klingt wie ruhiger Applaus, und dann sind sie fort, zurückgeschlüpft ins Nichts, das uns umgibt.
Jahrelang wachte ich immer wieder im Dunklen auf, schreiend, in Angst und Schrecken versetzt durch die unerträgliche Tatsache des Todes. Sie war verantwortlich für ein Entsetzen, das mich lang in seinen Klauen hielt und lähmte, doch war es Stu, der mich davon befreite. Im Hospiz sah er mir in die Augen, sehr ernst, sehr ruhig, und sagte, das, was gerade mit ihm geschehe, sei okay. Es ist okay. Ich wusste, dass es das nicht war, dass er mich nur beruhigen wollte — in einem Akt von solcher Großmütigkeit, dass ich eine Weile lang nichts in mir finden konnte, das stark genug gewesen wäre, als dass ich es hätte erwidern können. Es ist okay, sagte er. Es ist nicht schlimm. An diese Worte erinnere ich mich, während wir weitergehen, während die Minuten verstreichen, bis sich die Nacht vollständig verdichtet. Da ist Sternenlicht und Staub und das Gefühl von Sand unter den Füßen. Es ist jetzt so dunkel, dass ich mich selbst nicht mehr sehen kann. Doch der Gesang hält an, und die Luft um uns herum ist voller unsichtbarer Flügel.