Vor etwa zehn Jahren lief im Fernsehen eine Realityshow namens Victorian Farm, die ich voller nostalgischer Erinnerungen an den Winter 1997 verfolgte. Das waren vielleicht Zeiten. Mittags ging ich den Hügel hinauf zum Haus, sah nach den Schafen, brachte ihnen Heu, fütterte die Hühner, zerschlug die Eisschicht auf den Wassertrögen und Trinknäpfen, füllte den Kohleneimer im Schuppen, schleppte die Kohlen ins Haus, um den gusseisernen Rayburn-Herd damit zu beladen, und ging dann auf einer von erneut gefrorenem Schnee zerfurchten Landstraße wieder zum Büro hinunter.
Es war das Zeitalter von Akte X und Friends, von Beck und The Prodigy, von Dolly dem Schaf und Dianas Tod. Ich hatte gerade meinen Abschluss an der Universität gemacht und die Nase so ziemlich voll von Bibliotheken, von der diffusen Beleuchtung in der Mensa und von Studentenkneipen, in denen sich Möchtegerndichter tummelten. Ich war jung, unglaublich von mir überzeugt und fast ausschließlich mit mir selbst beschäftigt. Ich wollte leben, einen echten Job in der echten Welt, mit echten und vernünftigen Leuten zusammenarbeiten. Als ich also die Zusage von einer Falkenerhaltungszuchtfarm im ländlichen Wales bekam, war ich mir sicher, die für mich perfekte berufliche Laufbahn gefunden zu haben.
Ich denke nicht oft an diese Zeiten zurück, allerdings immer dann, wenn ich mir einen Science-Fiction-Film ansehe, in dem eine unklug zusammengewürfelte Crew mit verschiedenen Persönlichkeitsproblemen auf einem Raumschiff außerhalb unseres Sonnensystems festsitzt und nirgendwo hinkann. Denn genau so war es, nur dass wir uns hin und wieder alle gemeinsam ins Auto schmissen und zum Shoppen nach Swansea fuhren. Wir arbeiteten sieben Tage die Woche, was unserer geistigen Gesundheit nicht unbedingt zuträglich war, aber wenigstens liebten wir die Arbeit, so sagte ich mir damals, manchmal auch laut, wie ein Mantra, beispielsweise nachdem ich den örtlichen Bauunternehmer vor unserer Küchentür »Sie sollten es abreißen, das Haus ist eine Bruchbude« murmeln gehört hatte.
Das Anwesen gehörte unserem Chef und seiner Frau. Das Haus, eine kieselbestreute Kiste, auf der hervorragend Grünalgen gediehen, war mit einer kiefergetäfelten Küche und einem niedrigen Wohnzimmer ausgestattet, in dem der Rayburn und ein braunes Vinylsofa standen; außerdem war es mit psychedelisch gemusterten Teppichen aus den Siebzigern ausgelegt, die Böses mit einem machten, wenn man betrunken war. Ich mochte das Haus, weil es ein Zuhause war, auch wenn gegen Ende meines Aufenthalts dort Perlenvorhänge aus Wasser munter von der Decke auf den Teppich plätscherten, wenn es regnete, und ich einmal sprachlos war, als jemand die Ofentür öffnete und eine Ratte daraus davonrannte. Im Sommer konnte es sehr idyllisch sein, denn dann schwatzten Schwalben draußen und putzten sich auf der Telefonleitung vor meinem Schlafzimmerfenster. Im Winter aber war es manchmal so kalt, dass ich mir einen laufenden Föhn unter die Bettdecke stecken musste, damit ich überhaupt schlafen konnte. Und das Haus war nicht trocken. Ich durfte keine Falken dorthin bringen, sagte der Chef mir, weil es unwahrscheinlich war, dass die empfindlichen Atemwege der Vögel mit dem Klima zurechtkommen würden, in dem die Angestellten lebten.
Das Haus stand auf einer unebenen Weide über einem steilen Schlammsteintal. Dahinter erstreckten sich dunkle Wälder und horstbewachsene Felder, auf denen der Chef eine kleine Herde Mischlingsrinder hielt, die im Laufe der Monate immer wilder wurden. Die haben wir manchmal verloren. Verloren in dem Sinn, dass sie buchstäblich durch Lücken in den Hecken verschwanden. Wir waren keine Farmer, aber wir taten, was wir konnten. Am Abend begaben wir uns auf die lange Wanderung zum Pub, um dort ein Bier zu trinken und Poolbillard zu spielen, und kamen erst in den frühen Morgenstunden zurück — bis der Vermieter uns einsperrte, so wie er jeden eingesperrt hatte, der je dort gewohnt hatte, und der Pub dichtmachte. Zumindest glaube ich, dass es das war, was passiert ist. Vieles von dem, was damals passiert ist, mutet heute wie ein Märchen an.
In den vier Jahren, die ich dort gearbeitet habe, kamen greifvogelbesessene Freiwillige jeden Sommer in Scharen zu uns, darunter ein mexikanischer Student der Veterinärmedizin aus sehr gutem Hause, ein Kickboxingchampion aus Kirgisistan und ein Typ, der dermaßen viel Zeit damit verbrachte, sich im Badezimmer einen runterzuholen, dass wir regelmäßig an die Tür hämmerten und ihn anschrien, er solle endlich damit aufhören. Alle diese Freiwilligen waren Männer. Und abgesehen von einer Biologin, die wenige Monate nach meiner Ankunft ging, waren auch alle anderen Mitarbeiter männlichen Geschlechts. Im Büro mit mir saß ein schlaksiges, dunkelhaariges Nordlicht, das an seiner berufsbegleitenden Promotion arbeitete und in einer Beziehung mit mir endete. Alle anderen waren draußen bei den Vögeln: der begeisterte Geordie, der mir verriet, die korrekte Gesinnung beim Stürmen eines Rugbyfelds sei: Lasst uns Arme brechen!; der drahtige Ex-Marine, der das Zuchtprogramm leitete und zwar Experte hinsichtlich der wirklich nicht einfachen künstlichen Befruchtung und Bebrütung von Falken, dafür aber wiederholt ungemein bestürzt über die eigene Unfähigkeit war, Reis zu kochen, der anschließend nicht zusammenklebte; und ein mageres Kerlchen, das auf einem Campingplatz aufgewachsen war und seine Tage bei uns damit verbrachte, scheißebespritzte Volieren zu kärchern — resigniert, aber immer gut gelaunt. Er hat mir einmal anvertraut, was er sich kaufen würde, würde er je im Lotto gewinnen: einen brandneuen Ford Fiesta. Dann gab es noch den aufgeweckten Sohn eines weißen Tabakfarmers aus Simbabwe, der grundsätzlich in Gummistiefeln und Shorts herumlief und gern seiner Ansicht Ausdruck verlieh, eine Gesellschaft, die Homosexuelle akzeptiere, sei nicht nur dekadent, sondern auch dem Untergang geweiht. Ach ja, und der ruhige Südafrikaner, der uns Bobotie — einen südafrikanischen Hackbraten — kochte und ein Fan ungarischer Volksmusik war. Er erneuerte die Feldsteinmauern, päppelte ein paar Rollertauben hoch und akklimatisierte sich schließlich doch in unserem spartanischen Leben, auch wenn er sich in seiner ersten Nacht bei uns wortwörtlich an den Rayburn klammerte, um nicht zu erfrieren. Das war also die echte Welt, das waren die vernünftigen Leute, für die ich dem Elfenbeinturm den Rücken gekehrt hatte.
Einmal, es war richtig kalt — der Schnee türmte sich hoch an den Hecken auf, und die Felder waren von geschwächten, abgemagerten Wanderlaubsängern übersät —, drehte ich vor glühendem Zorn durch, oder wie auch immer die Metapher lauten mag, wenn es einem einfach zu kalt ist, um klar denken zu können. Ich stopfte den Herd mit Kohlen zu, mit beiden Händen schaufelte ich sie hinein, bis nichts mehr ging; dann öffnete ich alle Entlüftungsschlitze, so weit ich nur konnte, und ging an die Arbeit zurück. Ein Teil von mir wusste, dass das nicht besonders klug war, und das war es auch nicht. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war das Haus voller Rauch: Die Tapete um das Ofenrohr herum hatte Feuer gefangen. Trotzdem war der Rayburn unser Freund. Er erhitzte unser Wasser auf Temperaturen, die der Venus alle Ehre machten, und rettete uns, wenn der Strom ausfiel, was er von Zeit zu Zeit tat, und wir kochten Hähnchen in ihm, oft die eigenen, junge, schlecht gerupfte, knorpelige Tiere, die vor Fadenfedern starrten, stoisch mitgekaut bei Kerzenlicht.
Im Büro standen ein paar klobige, graue PCs, darüber hinaus verfügte es über eine Internetverbindung, die so leistungsschwach war, dass es drei Tage dauerte, bis man eine Audiodatei heruntergeladen hatte. Die Arbeit, der wir uns verschrieben hatten, war faszinierend und ernüchternd zugleich. Der noch nicht lange zurückliegende Zusammenbruch der Sowjetunion hatte das Brutgebiet der Sakerfalken organisierten Banden von Fallenstellern und Schmugglern zugänglich gemacht, die Falkenpopulationen befanden sich im freien Fall. Wir schickten Feldmannschaften ins gesamte Verbreitungsgebiet, um uns einen Überblick über die so rasch abnehmenden Bestände zu verschaffen, hielten Kurse über Nachhaltigkeit ab und versuchten, den traditionellen Markt für in der Natur gefangene Beizvögel in den Golfstaaten zu unterbieten, indem wir in jedem Herbst Hunderte selbst gezüchteter Falken hinausschickten. Ich begleitete sie. Ich weiß noch, wie ich im nachtbeleuchteten Cockpit einer 747 neben einem Piloten saß, der mir eine pinkfarbene Rose schenkte, während er mir erklärte, dass Flugzeuge einander in der Dunkelheit grüßen, indem sie die Lichter aufblitzen lassen. Er ließ mich die Schalter dafür bedienen, und ich war hingerissen, als aus der Ferne tatsächlich eine Antwort kam. Abu Dhabi selbst war blass und staubig, seine Transformation von Wüstenstadt an der Küste zu science-fiction-hafter Wolkenkratzermetropolis in vollem Gange. Von meiner Unterkunft an der Corniche aus hatte ich einen Blick auf eines der ältesten Gebäude der Stadt: den niedrigen Betonklotz der 1972 errichteten britischen Botschaft.
Ich denke sehr gern an die Zeit zurück, die ich in den Vereinigten Arabischen Emiraten verbracht habe, in der ich mich mit einheimischen Falknern über Greifvögel und kulturelles Erbe austauschte. Doch war die Gelegenheit, die Golfstaaten zu bereisen, nicht der Grund, warum ich auf der Farm blieb. Der Grund dafür waren die Vögel. Sie waren für alle der Grund. Wie Rennpferdtrainier genau wissen, arrangieren sich junge Leute mit fast allem, wenn sie die Chance haben, mit den Objekten ihrer Leidenschaft zu arbeiten. Jedes Jahr zogen wir einige der Falken von Hand im Büro auf. Ich fand Jungvögel fest schlafend auf meiner Tastatur vor, die gereizt fiepsten und Federstaub in die Luft schüttelten, wenn ich sie sanft wachstupste und sie bat, sich etwas zu bewegen, damit ich tippen konnte. Manchmal ließ ich Kugeln zusammengeknüllten Papiers übers Laminat zu ihnen rollen, und dann liefen sie ihnen hinterher, plump, wackelig, mit halb geöffneten Schwingen, und griffen nach ihren rollenden Zielen, mit Füßen, die noch nicht ganz koordiniert waren. Und dabei zwitscherten sie geradezu vor allerhöchster Aufregung. Sie machten das Büro zu einem viel besseren Ort. Allerdings war die Brutsaison für die Leute, die sich um die Vögel kümmerten, wirklich brutal. Sie wechselten sich mit dem Schlafen ab, um die Schlüpflinge auch nachts zu füttern, und waren nach einigen Wochen immer so erschöpft, dass sie beim Mittagessen einschliefen, den Kopf auf verschränkten Armen, oder auf dem Sofa wegdämmerten und stumm in die Kissen sabberten. Das ganze Frühjahr hindurch ernährten sie sich von literweise Instantkaffee und Junkfood, während sie gefrorene Wachteln fein hackten, Papiertücher wechselten, die Temperatur in den Brutgeräten prüften und wieder und wieder kleine Falkenschnäbel stopften, die um Futter bettelten.
Ich habe viel auf der Farm gelernt. Ganz sicher viel über Greifvogelbiologie und Falkenzucht, aber auch über das Arbeiten in einem Team auf engem Raum und wie man den Spaß daran nicht verliert und dass es sehr lustig sein kann, sich Meisterschaftsfußballspiele im Pub anzusehen und dabei noch einmal genau erklärt zu bekommen, was Abseits denn nun eigentlich ist. Ich lernte, dass Schafezählen schwieriger ist, als man gemeinhin denkt, und dass manche Schafe tatsächlich hübscher sind als andere. Dass das feuchte Gras unten am Feld gegenüber vom Haus der Ort war, an dem sich die Schnepfen aufhielten, und dass im tiefen Winter Waldschnepfen, deren Rücken das Muster von Daumenabdrücken und Farnwedeln besaß, in die Talwälder schneiten. Ich wusste, dass ich die Farm eines Tages verlassen würde, lange Zeit aber war dieser Gedanke ebenso vage und unreflektiert wie der, eines Tages zu heiraten oder Kinder zu haben. Klarere Gestalt nahm er nicht an, weil ich des Lebens dort überdrüssig geworden wäre, sondern durch den furchtbaren Vorfall mit dem Strauß.
Denn es gab dort auch Strauße. Zwar würde man in den feuchten Tälern von Westwales nicht als Erstes nach ihnen suchen, doch hatten der Chef und seine Frau einen Teil ihres Weidelands einem neuen Zweck zugeführt: dem einer Straußenfarm. Es war damals die Zeit der Großen Britischen Straußenblase, als Straußensteaks als Health Food der Zukunft angepriesen wurden und befruchtete Straußeneier für einhundert Pfund — pro Ei, wohlgemerkt — den Besitzer wechselten. Schon bald jedoch war der Zuchtmarkt gesättigt, und die Preise kollabierten, zusammen mit den meisten der Straußenfarmen. Die Katastrophe lag bereits in der Luft: Mit Schaudern denke ich an eine Veranstaltung der walisischen Straußenfarmer zurück, an der wir eines Abends teilnahmen und bei der ganze Tische voller ehemaliger Schafzüchter traurig auf Straußensteaks herumkauten und zwischendurch Herzpillen einwarfen, während ein Mann in einem Straßenanzug Unterhaltungsmusik auf einem Casio-Keyboard mit Orgeleinstellung spielte.
Strauße sind insofern anders als Falken, als dass sie wirklich gefährlich sind, weshalb der hohe Drahtzaun, der ihr Gehege umgab, nicht ganz bis zum Boden reichte, damit man sich darunter hindurchrollen konnte, wenn man von ihnen gejagt wurde. Ich hatte mit den Straußen so wenig zu tun wie möglich, wurde gelegentlich jedoch gebeten, besagten Zaun zu kontrollieren — mir steigt heute noch die Schamesröte ins Gesicht, aber ich muss zugeben, ich tat dabei so, als kontrollierte ich den Elektrozaun der Dinosaurier in Jurassic Park, um den Job wenigstens ein bisschen interessant zu machen. Jedenfalls war ich eines Morgens mit der Frau vom Chef unterwegs, um den Zaun zu checken, als es geschah. Etwas weiter oben am Hügel sahen wir ein Bündel liegen, das sich im Näherkommen als weiblicher Strauß entpuppte, der in einer Lache aus niedergetrampeltem, blutdurchtränktem Schlamm lag. Der arme Vogel war irgendwann in der Nacht zuvor mit einem Bein in den Zaun geraten und hatte panisch versucht, sich zu befreien. Dabei muss sich die Straußenhenne das Bein gebrochen haben. Sie war noch am Leben und schaffte es irgendwie, den Kopf anzuheben, obwohl der Großteil ihres Halses im Schlamm lag. Der komplizierte Schienbein-Fußwurzel-Bruch war so grauenhaft anzusehen — ein Chaos aus zerfetzten roten Muskeln und gesplitterten weißen Knochen —, dass ich sofort in den absoluten Notfallmodus schaltete. Hektisch durchsuchte ich meine Taschen und fand ein Minitaschenmesser mit dem Logo eines örtlichen Fotogeschäfts. Ich klappte es auf, nahm einen großen Stein zur Hand, schlug die Straußenhenne damit bewusstlos, kniete mich neben sie und schnitt ihr die Kehle durch, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Werbetaschenmesser für den Schlüsselanhänger sind nicht besonders scharf, es dauerte also eine Weile. Man tut so etwas, wenn nichts anderes mehr getan werden kann. Ich stand auf und sah zu, wie der Vogel mit dem unverletzten Bein um sich trat, bis er still wurde. In mir wich die Leere der schieren Notwendigkeit allmählich dem Gefühl schlichter, überwältigender Traurigkeit. Das hier war so sinnlos. Es hätte unmöglich sein sollen, dass sich die Straußenhenne das Bein brach. Sie hätte nicht die ganze Nacht so leiden dürfen. Sie dürfte überhaupt nicht hier sein. Ich sah zu, wie meine Hände beim Abwischen blutig-schlammige Streifen auf der Vorderseite meiner Jeans hinterließen, blickte auf und direkt ins entsetzte Gesicht der Frau meines Chefs. Ich hatte völlig vergessen, dass sie da war.
Oh, dachte ich.
Die Befehlskette war gerissen und durch das grell aufflammende, heftige Gefühl persönlicher Handlungsfähigkeit ersetzt worden, ganz plötzlich aus der grimmigsten Notwendigkeit heraus geboren. Der Vorfall hatte mir gewissermaßen den Kopf aus dem Sand gezogen, er hatte mir die Augen geöffnet. Wir gingen zurück, schweigend. Danach war die Farm für mich nicht mehr dasselbe: Ein Teil meines Herzens flackerte, schlug, trommelte mit dem Bedürfnis zu fliehen, wie das eines Vogels, der in einer Scheune festsitzt. Wenige Monate später reichte ich meine Kündigung ein. Vielleicht kam der Zeitpunkt meiner Abreise auch schneller, weil mein Chef mir irgendwann erzählte, er wolle mich an einem Institut im Ort für einen Sekretärinnenkurs anmelden. Was mich letztendlich aber zum Abreisen bewog, waren die Rinder auf dem Hügel.
Es war an einem stinknormalen Sommerabend. Die anderen waren auf ein paar Drinks in der Stadt. Ich hatte nicht mitkommen wollen; zu Hause rumsitzen wollte ich andererseits aber auch nicht, und so beschloss ich, in den Wäldern hinter der Farm spazieren zu gehen. Ich war von meinem Leben gelangweilt. Ich war so gelangweilt, dass ich nicht einmal wusste, dass ich gelangweilt war. Ich musste irgendetwas tun. Dann sah ich die Ochsenherde auf der Leeseite eines Hangs in der Ferne. Man hatte die Ochsen dort so lange schon in Ruhe gelassen, dass sie mittlerweile fast vollständig verwildert waren, und da fasste ich plötzlich den Plan. Oder besser: Der Plan fasste mich. Ich stellte im Geiste einige Berechnungen an. Das Tal war dunkel. Auf die Schultern des Hügels hatten sich hell die Strahlen der tief stehenden Sonne gelegt. Der Wind kam von vorn. Es gab ausreichend Deckung, um es zu tun. Würde ich es tun? Ich würde.
Ich schlüpfte tiefer ins Birkendickicht und schlich mich langsam an die Herde an. Etwas später griff ich nach ein paar Farnwedeln, zog und zerrte an ihnen, bis die Erde sie freigab, und steckte sie mir so ins T-Shirt, dass mein Kopf halb verdeckt war. Meine Hände troffen von Farnsaft. Anschließend beschmierte ich mein Gesicht mit einer Handvoll Schlamm. Und kam mir vollends vor wie Captain Willard aus Apocalypse Now.
Das Anschleichen dauerte ewig. Deckung, Verstecken, Tarnung. Keine plötzlichen Bewegungen, alles zu Sicherheit verlangsamt. Als ich noch etwa dreihundert Meter von meinem Angriffsziel entfernt war, kroch ich auf allen vieren weiter. Noch näher, und ich legte mich auf den Bauch. Lange Zeit lag ich da, absolut bewegungslos, weil das Stillhalten über einen längeren Zeitraum ein entscheidender Teil des Manövers war. Ich hatte erwartet, dass das Anschleichen Spaß machen würde. Ich hatte nicht erwartet, dass es auch eine wahrhaft bewusstseinsverändernde Erfahrung sein würde. Jedes Mal, wenn ich aufhörte, mich zu bewegen, tauchte auch die Welt um mich herum ab, schwang sich in die und hielt sich in der Schwebe. Ich fühlte mich dann irgendwie lose verstreut, kaum als singuläres Wesen, nur wie ein Ding aus Blättern und Dreck und Steinen. Ich muss es unwahrscheinlich unbequem gehabt haben, auch wenn ich es nicht spürte, denn später entdeckte ich Blut an einem Arm von einem Schnitt — wovon genau, weiß ich nicht —, und mein rechtes Knie tat mir noch Wochen danach weh. Aber ich hielt durch. Ich schlich mich ganz nah an die Herde heran, beinahe schon in die Herde hinein. Die Ochsen lagen im disteligen Gras, schlugen mit dem Schwanz auf die mit getrocknetem Schlamm bedeckten Flanken, käuten wieder, wackelten mit den Ohren. Es roch satt nach Kuh — ich war unterwegs durch weiß Gott wie viele Kuhfladen gerobbt —, und ich war so nah an ihnen dran, dass ich Fliegen und Wimpern sehen konnte.
Und dann tat ich es. Ich sprang vom Boden auf, fuchtelte mit den Armen und schrie. Unter dem tiefen walisischen Himmel, vor einer Herde überraschter Rinder, war ich eine hausgemacht Ghillie-gekleidete, tanzende, dreckbeschmierte monströse Erscheinung aus dem Nichts. Die Herde sprang ebenfalls auf, muhte in absolut verständlichem Schrecken und suchte in wilder Panik das Weite. Die Erde zitterte unter den dicht aufeinanderfolgenden Hufen. Es war perfekt! Ich schrie und schrie hinter den Tieren her, als sie sich Hals über Kopf mit vollem Karacho den Hügel hinauf und über ihn hinweg warfen, bis sie alle verschwunden waren. Und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass das, ich schwöre es, das Befriedigendste war, das ich jemals im Leben getan hatte. Voller Distelstacheln und Adrenalin hinkte ich zur Farm zurück, der Mund tat mir vom vielen Grinsen weh, und legte mich in die Badewanne, um den getrockneten Schlamm aufzuweichen. Und als das Adrenalin allmählich abebbte, wurde mir bewusst, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, warum ich das getan hatte.
Im Laufe der Zeit habe ich einigen wenigen Menschen davon erzählt, wie ich mich einmal mit Schlamm und Blättern bedeckte und an eine Rinderherde auf einem Hügel anschlich. Ich klinge jetzt, als sei ich ein wenig unausgeglichen, doch andererseits war Ausgeglichenheit nie meine Stärke, und was ich damals empfand, war sicherlich die isolierende Leere, die bestimmte Formen der langfristigen Depression begleitet. Die Geschichte von der Straußenhenne erzähle ich fast nie. Ein Freund hat mir einmal gesagt, sie lasse mich wie eine Psychopathin wirken. »Nein«, erwiderte ich, getroffen, »der Sinn der Geschichte ist genau das Gegenteil: Sie zeigt, dass heute niemand mehr daran gewöhnt ist, den Tod zu sehen, ganz zu schweigen davon, selbst … Na ja, darum geht es auch nicht wirklich. Der Punkt ist: Egal wer wir sind, jeder von uns kann Dinge tun, von denen er glaubt, er könne sie nicht tun, wirklich schwere Dinge, wenn er muss.«
Augenbrauen heben sich. »Wie einen Strauß mit einem Stein und einem Werbetaschenmesser töten?«
Ich versuchte zu erklären, dass man, wenn sich alle Optionen zu einem Muss verengt haben, an einen Punkt kommt, an dem man noch nicht einmal mehr über Alternativen nachdenken kann. »Ja«, bekam ich zögernd zur Antwort, »aber jetzt klingst du noch schlimmer.«
Es stimmt, dass die meisten Menschen heutzutage kaum je ein Tier getötet haben, das größer war als eine Fliege, obwohl der Mensch heute mehr Tiere tötet als jemals zuvor — fünfundsechzig Milliarden Hühner pro Jahr beispielsweise. Und es stimmt auch, dass wir alle die Fähigkeit haben, Dinge zu tun, die wir für unvorstellbar halten, bis zu dem Augenblick, in dem sie es nicht mehr sind. Aber darum geht es in der Geschichte auch nicht.
Es geht darum, dass ich ohne die Straußenhenne und die Ochsen nie von der Farm geflohen wäre.
Auf meinen Reisen habe ich mit vielen Fremden über Trauer und Vögel und Liebe und Tod gesprochen. Und viele von ihnen haben mir ihrerseits großzügig von einer bedeutungsvollen Begegnung mit einem Tier erzählt. Mit Raben oder Eulen oder Greifvögeln oder Bären, mit Reihern, Katzen, Füchsen, sogar Schmetterlingen. Jede dieser Begegnungen kündete von einer subtilen, aber grundlegenden Veränderung der betreffenden Person in ihrer Beziehung zur Welt; häufig tauchten die Tiere dabei zu einer Zeit großen Kummers auf und an Orten, an denen sie eigentlich nicht sein sollten. Eine Frau erzählte mir, dass sie nach dem Tod eines geliebten Elternteils, der in einem Stadtkrankenhaus gestorben war, eine einsame Wildgans hörte, die in dem kleinen Hof hinter dem Krankenhaus verzweifelt nach dem Rest ihrer Schar rief, bevor sie abhob und über den Dächern der Stadt verschwand. Ein Mann erzählte mir von einer Elster, die mitten in einer Beerdigung auf den Sarg herabflog, wo sie dann lange saß und die Trauernden direkt ansah. Ein altgedienter Helikopterpilot, dem man die Fluglizenz entzogen hatte, bekam danach täglich Besuche von einem wilden Krabbenbussard.
Ich habe lange geglaubt, solcherlei bedeutungsvolle Begegnungen seien Beispiele für den aus der Psychologie bekannten sogenannten Bestätigungsfehler. Geschieht etwas, das uns im Innersten trifft, suchen wir in den Dingen um uns herum nach dem Sinn des Geschehenen und sehen dann manchmal Tiere, die zwar schon immer da waren, von uns aber nicht bemerkt wurden. Je mehr solche Geschichten ich jedoch hörte, desto unbehaglicher wurde mir diese Erklärung; ich wollte sorgfältiger darüber nachdenken, was Tiere bedeuten können. Ich bin mir sicher, dass die Schleiereule, die sich umdrehte und dem trauernden Sohn ins Gesicht blickte, nur kurz überrascht war, bevor sie weiterflog. Und trotzdem war dieser Austausch mehr als lediglich Mensch und Tier, die einander ansahen.
Wir haben die Bedeutungen von Tieren mittlerweile ungeheuer eng eingezäunt, haben sie getrennten Erkenntnistheorien zugeordnet, die einander nicht berühren sollen. Man kann den Europäischen Wolf als im Rudel lebenden Hundeartigen sehen oder als Archetypen mit tiefer spiritueller Bedeutung. Allerdings sprechen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Allgemeinen nicht von Magie, und umgekehrt setzen sich New-Age-Anhänger in der Regel nicht mit kontinuierlichen Forschungen zur Tierphysiologie oder zum Tierverhalten auseinander. Natürlich brauchen wir die Wissenschaft, um die Komplexität der veränderlichen Welt zu begreifen und damit sie uns bei der Entscheidung hilft, wie wir das, was noch übrig ist, am besten erhalten können. Aber das ist nicht alles. Vielleicht sollten wir mehr über einen ganz bestimmten Aspekt des sechzehnten Jahrhunderts nachdenken: die letzte große Blüte einer Form von emblematischer Naturgeschichte, in der Tiere als viel mehr als lediglich als Kreaturen galten, in der jede Spezies im Zentrum eines reichen Assoziationsgefüges stand, das alles, was man über die Spezies wusste, mit all ihren Bedeutungen für den Menschen verband, seien diese nun allegorischer, religiöser, sprichwörtlicher oder persönlicher Natur.
Die Straußenhenne und die Ochsen waren lebendige Tiere mit ihren eigenen Lebenswelten, und sie hatten ihre eigenen Geschichten verdient. Für mich waren sie jedoch auch Embleme, Zeichen, die mein Unterbewusstsein so las, dass sie mich aus dem durch miserable Umstände geförderten, alltäglichen Nichtbegreifen hinauskatapultierten. Die beiden Begegnungen stellten sich für mich als persönliche Wahrheiten heraus. Als ganz spezielle persönliche Wahrheiten. Keine Wahrheiten, die man sich durch den therapeutischen Dialog hart erarbeitet. Auch keine Offenbarungen der göttlichen Absicht. Diese Wahrheiten ähnelten, so denke ich, am ehesten denen, die sich durch Tarotkarten enthüllen.
Wie das I Ging nimmt auch das Tarot eine ausgesprochen sonderbare soziokulturelle Stellung ein. Ich habe schon viele angesehene Menschen getroffen — Wissenschaftler, Schriftstellerinnen, Rechtsanwälte —, die sich regelmäßig an die Karten wenden, darüber allerdings nicht sprechen, weil das Legen von Tarotkarten als zu esoterisch-gaga für die höfliche Konversation gilt. Auch ich habe schon Tarotkarten gelegt. Nicht oft, aber oft genug, um zu wissen, wie wenig die Karten beim Vorhersagen der Zukunft nützen — und oft genug, um zu erkennen, wie unfehlbar die Karten meine innersten Seinszustände widerspiegeln, Emotionen widerspiegeln, die ich mir zum jeweiligen Zeitpunkt weder zu- noch eingestanden hätte. Ich weiß nicht, welcher Mechanismus dies möglich machen könnte; dennoch neige ich dazu zu glauben, dass das Tarot auf eine Weise zu uns sprechen kann, der wir die sorgfältigste Aufmerksamkeit schenken sollten.
Begegnen wir einem Lebewesen, begegnen wir immer einem realen Lebewesen. Und trotzdem setzen sich diese Begegnungen immer auch aus all den mit ihnen verknüpften Geschichten und Assoziationen zusammen, mit denen wir im Laufe unseres Lebens in Berührung gekommen sind. Die Lebewesen sind immer bereits emblematisch. Und während wir ihre gelebte Realität zwar ehren und auf die Wissenschaft vertrauen sollten, frage ich mich dennoch, ob wir nicht vielleicht etwas bereitwilliger auch das akzeptieren sollten, was das emblematische Selbst eines Tiers uns mitzuteilen versucht.
Manchmal sind die Antworten einfach. Was die Straußenhenne mir sagen wollte, habe ich fast auf Anhieb verstanden — bei den Rindern habe ich dafür Jahre gebraucht. Eines Nachmittags überholte ich einen Tiertransporter auf der Autobahn und sah zufällig die feuchte, rosafarbene Nase einer Kuh durch die Lüftungsöffnungen an der Seite des Lastwagens. Ich fühlte Mitleid, Schuld, Verantwortung, Traurigkeit. Ich dachte an die Erbarmungslosigkeit des Systems, in dem sich diese Kreatur verfangen hatte. Und dann dachte ich an den Tag zurück, an dem ich mich an die Ochsen auf dem Hügel angeschlichen hatte, und plötzlich war mir alles klar. Ich hatte mich selbst als eines dieser Rinder gesehen, als eines der Mitglieder einer verwilderten, vernachlässigten Herde; ich freute mich mitten in der Walachei meines Lebens, scherte mich nicht um die Zukunft, machte mir ihretwegen nicht wirklich Sorgen und wusste doch tief im Innersten, dass ich eines Tages würde zum Schlachthof müssen. Es würde keine sichere Küste geben, an die ich mich aus der Tiefsee würde retten können. Und mein Anschleichen und Schreien war alles andere als hirnlos gewesen. Es war der unausgereifte Versuch gewesen, die Tiere aus ihrer zufriedenen Gelassenheit zu reißen. Eine Warnung, um Himmels willen zu machen, dass sie fortkamen, weil das Tal, in dem wir alle steckten, dunkel und abgründig war und zu nichts Gutem führen konnte.