Das aus den 1960er-Jahren stammende Radio im Haus meiner Kindheit bestand aus einem Gehäuse aus Mahagoniholz, Einstellrädern aus gefrästem Metall und einer Glasfront, an der man die Frequenzbereiche ablesen konnte. Um einen Sender zu finden, musste man am Einstellrad drehen und den Anzeiger durch eine ganze Skala an Kreisch- und Rauschtönen bewegen; ich fühlte mich dabei immer ein wenig wie ein Einbrecher beim Knacken eines Safes: klick, klick, haarfeine Aufmerksamkeit, Feedback zwischen den eingestanzten Wirbeln meiner Fingerkuppen und dem langsamen Takt der audiosensitiven Härchen in meinem Innenohr, das mich zur bloßen Kurzschlussbrücke zwischen ihnen machte und das Gefühl erleichterte, die Stimmen warteten nur darauf, dass ich allein sie fand. LUXEMBURG, BREMEN, STRASSBURG, so stand es auf der Anzeige in fetten Großbuchstaben, BUDAPEST, BBC LIGHT. Polkas, Walzer, Stimmen in unbekannten Sprachen. Durch dieses Radio bekam ich eine Vorstellung von Europa, ich liebte es. Doch je älter ich wurde, desto mehr ebbte meine Faszination für das Radio aus den Sechzigern ab; ich spielte immer seltener damit, bis die Faszination schließlich ganz erstarb. Das Radio endete im Bücherregal in meinem Kinderzimmer, auf beinahe ewig auf BBC Radio 4 eingestellt.
Doch plötzlich entdeckte ich an zufälligen Abenden in den frühen 1980er-Jahren etwas sehr Seltsames. Was immer auch aus dem Radio erklang — die Nachrichten, vielleicht, eine Talkshow, ein Hörspielkrimi —, hinter den Stimmen wehte beständig eine Melodie herein, so flüchtig wie Asche. Für gewöhnlich war sie nur ganz schwach hörbar, bevor sie sich wieder unter der Sendung vergrub. Doch von Zeit zu Zeit war die Musik deutlich zu hören. Zehn ungeheuer geheimnisvolle, glockenähnliche Töne, so widerhallend und unheimlich, dass ich das Radio wieder öfter einschaltete, für den Fall, dass sie auftauchen sollten. Jahrzehnte und zahlreiche Internetsitzungen, bei denen ich mich in Foren von Radioenthusiasten herumtrieb, später fand ich heraus, dass das, was ich in meinem kleinen englischen Kinderzimmer gehört hatte, das Pausenzeichen des staatlich-sowjetischen Hörfunksenders Radio Majak gewesen war. Majak ist das russische Wort für Leuchtturm, und die Melodie stammte aus dem berühmten russischen Schlager »Moskauer Nächte«: »Речка движется и не движется«, so heißt es im Text. Der Fluss fließt und fließt nicht. Und seit damals erinnern mich gewisse unvorhersehbare Dinge immer an diese Melodie aus zehn Noten: die Fotografie Tausender von Vogelbälgen in geöffneten Museumsschubladen, der staubige, verwischte Streifen der Milchstraße, die Details spritzerbedeckter Proben in Rasterelektronenmikrografen, die zarten Linien sommerlicher Meteorenschauer. Ich habe erst gestern wieder an sie gedacht, als ich mir auf dem Sofa lümmelnd Jäger des verlorenen Schatzes angesehen habe. Darin klärt der moralisch zweifelhafte Archäologe René Belloq Indiana Jones über die Natur der Bundeslade auf: »Sie ist ein Sender. Ein Radio, mit dem man zu Gott sprechen kann.« Irgendwie, ich weiß nicht, wie, ist die Pausenzeichenmelodie, die sich in die Abende meines Alltagsteenagerlebens geschlichen hat, für mich zur Musik des Göttlichen geworden.
Ich bin in keinem speziellen Glauben erzogen worden. Ich war das Kind, das immer überrascht war, wenn im Haus seiner Freunde vor dem Essen ein Tischgebet gesprochen wurde. Die großen Autoritäten meiner Kindheit waren die Zeitschriften National Geographic und New Scientist, wenngleich ich auch der Bibel nicht unkundig war. Meine Großmutter, eine hochgewachsene, aparte Frau mit rabenschwarzen Locken und modischen Crimplene-Blusen, hatte mir, noch bevor ich lesen konnte, zu Weihnachten eine Kinderbibel geschenkt. Sie war mit Szenen illustriert, die im Malstil den ästhetischen Konventionen von Technicolor-Hollywood-Epen aus den Fünfzigern folgten. Die dargestellte Landschaft ähnelte weitestgehend den Hügeln im südlichen Kalifornien. Ich erinnere mich an Szenen, in denen es auf sterbendes Vieh herabhagelte, Männer Frösche zusammenfegten, ein Engel einem Gideon mit nacktem Oberkörper schöne Augen machte und Elija — das war meine Lieblingsszene, weil ich den Vogel darin noch nie gesehen hatte — von einem Raben mit Fleischstückchen gefüttert wurde. Die Offenbarung des Johannes stellte die Künstler vor gewisse Herausforderungen; angesichts der traumatisch endzeitlichen Natur dieses Teils der Bibel entschieden sie sich für Abstraktion in Blautönen.
Das Aufwachsen auf einem Grundstück, das der Theosophischen Gesellschaft gehörte, brachte mich auch nicht direkt zum Glauben, erweiterte aber mein Verständnis dessen, was Glaube sein könnte. Unsere Nachbarn glaubten an Reinkarnation, Okkultismus und Geheimnisse im Herzen aller religiösen Schriften der Welt, und wenn ich auf dem Weg in den Wald, wo ich Vögel beobachten wollte, an der offenen Tür der Liberal-Katholischen Kirche vorbeikam, blieb ich manchmal stehen, um tief den süßen Geruch des Weihrauchs einzuatmen. Daran, dass ich mich jemals hineingewagt hätte, kann ich mich jedoch nicht erinnern.
In den Jahren als Teenager habe ich nicht viel über Religion nachgedacht, abgesehen davon, dass ich überzeugt davon war, nicht religiös zu sein, Religion nicht zu brauchen und dass Menschen, die sie brauchten, bemitleidenswert waren — eine unkritische Verachtung, die vielleicht nichts anderes als fehlgeleiteter Neid bei dem Gedanken daran war, dass es manchen Menschen offenbar so leichtfiel, sich bedingungslos geliebt zu wissen. Doch etwa zu dieser Zeit träumte ich von Gott. Das geschah genau ein Mal, und es stand außer Frage, was ich da träumte. Es — denn es war kein Er — war groß, besaß grob die Gestalt eines Menschen, allerdings ohne Augen oder irgendeine andere Art von Gesichtszügen, und Seine Außenhülle reflektierte haargenau alles um Es herum. Ein sich langsam bewegender, zielgerichteter Spiegel, der Dinge sprach, die keine Worte waren und die ich nicht hören, sondern unterschallartig in meinen Knochen spüren konnte. Es brannte unerträglich heiß und unerträglich kalt zugleich. Ich glaube, Es schenkte mir keine besondere Beachtung, und ich weiß nicht mehr, warum Es in meinem Traum vorkam, aber andererseits sollte ich das wahrscheinlich auch nicht, und genau darum ging es vielleicht. Der Traum führte mich ebenfalls nicht zum Glauben, ebenso wenig wie irgendetwas anderes seither. Seit einiger Zeit aber denke ich wieder vermehrt über Religion nach.
Was mich dazu gebracht hat, ist in erster Linie eine handwerkliche Angelegenheit. Als ich das Buch über den Tod meines Vaters schrieb, darüber, wie ich durch das Abtragen eines Greifvogels mit der Trauer umgehen lernte, versuchte ich ständig, die richtigen Wörter zu finden, um bestimmte Erfahrungen zu beschreiben, und scheiterte immer wieder. Mein säkularer Wortschatz konnte sie einfach nicht wiedergeben. Möglicherweise haben auch Sie solche Erfahrungen gemacht, haben Zeiten erlebt, in denen die Welt ruckartig zum Stehen kommt, eine Kehrtwendung macht und sich mit unerwarteter Bedeutung füllt. Wenn Verzückung einen Moment an sich reißt und ihn verklärt. Die tiefe Stille vor einem heraufziehenden Gewitter; das Klatschen von Flügeln, wenn eine Schar Tauben aufsteigt und vor der tief stehenden Sonne kreist; die raureifüberzogenen Stängel eines Dornenstrauchs, die in der Sonne glitzern. Liebe, Schönheit, Mysterium. Epiphanien, nehme ich an. Gelegenheiten, bei denen sich Gnade offenbart.
Eine ganze Weile lang habe ich versucht, mittels Anleihen aus der umfangreichen Literatur zum philosophischen Konzept des Erhabenen über solche Dinge zu schreiben. Das hat mich zwar weitergebracht, aber nie weit genug. Die Sprache, die mir fehlte, entdeckte ich erst vor Kurzem: in Schriften über verschiedene Formen der religiösen Erfahrung. In Büchern von Verfassern wie William James und Rudolf Otto, Bücher, die der Natur unserer Ahnungen vom Heiligen nachgehen. Die Erfahrung des Numinosen beschreibt Otto als Erleben eines Mysteriums außerhalb des Selbst, eines Geheimnisses, das schrecklich und fesselnd zugleich ist; in der göttlichen Gegenwart dieses Mysteriums erschauert die angesichts solchen Erlebens sprachlose Seele innerlich bis in die letzte Faser ihres Seins hinein. Wahrscheinlich bekommt jeder Theologiestudent diese Texte am ersten Tag des ersten Proseminars ausgehändigt, doch mir waren sie neu. Der Versuch, zu denken und zu schreiben, nachdem man sie gelesen hat, fühlt sich ein bisschen an, als versuche man, sich selbst die Glasbläserei beizubringen. Die Vorstellungen darin sind heiß, biegsam, weiß glühend und irgendwie gefährlich, und da ich mit ihnen für mich absolutes Neuland betrete, wird das, was ich aus ihnen mache, bei Expertinnen und Experten auf dem Gebiet sicherlich Mitleid und Heiterkeit hervorrufen. Ich bin Schriftstellerin und Historikerin, keine Theologin oder Metaphysikerin. Dennoch fühle ich mich vom Inhalt der Texte angezogen: Ich denke über ihn nach und versuche, ihn in all seinem Brennen, all seinem Glühen und all seiner stofflichen Eigenheit zu formen.
Für mich ist die Natur kein Gewebe aus Dingen, in dem sich ein einzigartiger Schöpfergott strahlend offenbart. Die Augenblicke in der Natur, die in mir das Gefühl des Göttlichen heraufbeschwören, sind die Augenblicke, in denen meine Aufmerksamkeit unerklärlicherweise an etwas Kleinem und Vergänglichem hängen geblieben ist — am Muster von Hagelkörnern auf der dunklen Erde zu meinen Füßen, an einem bestimmten Lichteinfall auf einem Hang durch eine Lücke in den Wolken, am Gesicht einer Waldohreule, die aus einem Weißdornstrauch zu mir heraufspäht. Diese Dinge geben mir durch ihre flüchtigen Umstände das überwältigende Gefühl, wie unwahrscheinlich es doch ist, dass ich mich innerhalb meiner kurzen Lebensspanne zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufhalte und dann auch noch ausreichend Aufmerksamkeit aufbringe, dass ich sie überhaupt sehe. Wenn sie geschehen — und das tun sie nicht oft —, eröffnen mir diese Momente einen kurzen, schwindelerregenden Einblick in die nichtmenschlichen Wirkungsweisen der Welt, die in zu kleinem, zu großem, zu komplexem Ausmaß operieren, als dass wir sie begreifen könnten. Was ich dann fühle, sind mit Sicherheit der geheimnisvolle Schrecken und die Ehrfurcht von Ottos numinosem Bewusstsein, das Gefühl von etwas radikal anderem, das mich atemlos und zitternd zurücklässt — und von etwas noch anderem, das die folgenden vier Zeilen aus William Blakes epischem Gedicht Milton einfangen:
In jedem Tag steckt ein Moment, den Satan nicht entdeckt,
auch seine bösen Wachen nicht; die Tüchtigen aber — sie finden
den Moment & seiner viele. & ist er erst gefunden,
erneuert er, richtig gesetzt, alle Momente des Tages.
Ich bin alles andere als eine tüchtige Seele, abgesehen von meiner Fähigkeit vielleicht, Dingen besondere Aufmerksamkeit schenken zu können. Die oben zitierten Worte aber geben genau das wieder, was ich in solchen Augenblicken empfinde. Sie erneuern nicht nur alle anderen Augenblicke des Tages, sondern vervielfältigen sich auch zu allem, was ist und sein wird. Sie brechen die Zeit selbst auf.
Ein Teil der Numinosität solchen Naturerlebens besteht in seiner Unvorhersagbarkeit. Es ist sinnlos, nach solchen Augenblicken zu suchen. Meiner Erfahrung nach wird man beim Suchen nach Offenbarungen in der Natur nur nass geregnet. Doch wie die Melodie von Radio Majak mir gezeigt hat, konnte ich der Numinosität im Laufe der Jahre auf andere Weise leichter begegnen: in den Augenblicken nämlich, in denen das Geheimnisvolle aus dem Aufeinandertreffen von menschlichem Können und unvorhersehbarem natürlichem Phänomen heraus entsteht. Das Geschenk der Radio-Majak-Pausenmusik bestand darin, wie die Melodie mich erreichte. Sie wurde auf Radiowellen an mein Ohr getragen, Radiowellen, die über die sogenannte Sprungentfernung von der Ionosphäre zurückgeworfen wurden. Von Moskau aus war das Pausenzeichen hoch in die Atmosphäre aufgestiegen, wo es auf eine Schicht elektrisch geladener Teilchen getroffen und zu mir zurück katapultiert worden war. Ich konnte nie vorhersagen, wann die Melodie klar zu hören sein würde, weil die Ionosphäre immer im Fluss ist: Ihre Bedingungen verändern sich je nach Tageszeit, Jahreszeit, ja sogar je nach Stadium des elfjährigen Sonnenfleckenzyklus, und jede Veränderung hat Einfluss darauf, wie stark das Signal zurückgeworfen wird. Das Gefühl des Numinosen, das das Pausenzeichen mir vermittelte, entstand aus der Wechselwirkung unzähliger Ereignisse, von denen einige zufällig stattfanden und andere physikalischen Gesetzen unterworfen waren. Denke ich heute an die Melodie, sind in ihr für mich das Weltraumwetter an sich, Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten in der Gestalt der Welt, die Gesetze der Elektromagnetik sowie die Hoffnung mir unbekannter Mitarbeiter eines fernen sowjetischen Radiosenders auf Zuhörer enthalten, auf den Geist von Menschen, der sich dem, was sie in den Äther geschickt hatten, vielleicht widmete.
Der numinoseste Alltagsgegenstand, den ich besitze, ist ein Sony-BHF90-Eisenoxidkassettenband. Sein schwarzes Plastikgehäuse ist voller Dellen, der in die Jahre gekommene grüne Aufkleber darauf zerkratzt und abgewetzt. Spiele ich die Kassette ab, schleift und rattert sie. Ich besitze sie nun schon seit annähernd dreißig Jahren, und in meinen Besitz gelangt ist sie auf mysteriöse Weise; damals verbrachte ich als Studentin der Literatur viel Zeit mit Freunden in einer Uniunterkunft in Cambridge. Einer dieser Freunde war ein großer Mann, der sich durch eine Art grüblerische Sanftheit auszeichnete, beispielsweise eine gedämpfte Stimme, bei der man sich nah heranlehnt und sich plötzlich überraschend nah wiederfindet. Sein bester Freund im Haus hatte vor Kurzem der Männlichkeit abgeschworen — nicht weil er das Gefühl hatte, sie passe nicht zu seiner Genderidentität, sondern eher weil er gerade herausgefunden hatte, dass die Taten von Männern meist furchtbar waren. Er hatte es mehr mit Virginia Woolf, rauchte Selbstgedrehte und trug sein dichtes Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Gemeinsam lasen die beiden Freunde Pasternak und ergingen sich in bizarren Akten grundloser Gewalt gegen das Haus: Sie zerschlugen Stühle zum Klang von Bartóks Streichquartetten und steckten Besteck in die Gipsdecke der Küche, wo sie es auch ließen, weil es so schön gruslig aussah. Dennoch fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft immer wie in einem sicheren Hafen. Was ich von vielem anderen nicht sagen konnte. Ich hatte mein Studium eine Zeit lang unterbrochen, weil ich mich in einen verheirateten Uniprofessor verliebt hatte, die Art von verheiratetem Uniprofessor, der viel später Leuten erzählte, ich hätte unsere Affäre von Anfang bis Ende erfunden. Es war ein nebliger Sommer voller hinterlassener Spuren und Kondensstreifen, in dem die Heuschrecken in den dichten Gräsern am Rand der Wege in den Stadtparks zirpten, wo ich stundenlang ohne bestimmtes Ziel spazieren ging. Ich fühlte mich sehr verloren, als die Kassette auftauchte.
Auf der Kassette ist nur ein Titel: eine Aufnahme von Sibelius’ siebter Sinfonie, dirigiert von Leonard Bernstein. Die Einführung des Ansagers lässt darauf schließen, dass die Aufnahme aus einer japanischen Radiosendung stammt. Nachdem das Band in meinen Besitz gelangt war, hörte ich mir die Aufnahme an, spulte das Band zurück und hörte sie mir noch einmal an. Hunderte von Malen habe ich sie mir angehört. Sie tröstete mich nicht. Die Musik legte den Finger genau in die Wunde in meinem Herzen; sie fühlte sich an bestimmten Stellen immer zu schnell und an anderen viel zu langsam an, und irgendwie erinnerte mich die Art, wie sie vom einen zum anderen floss, an die Art, wie der menschliche Geist mit dem Vorwissen des Todes umgeht. Die Musik befand sich im Einklang mit jeder Emotion, die ich je verdrängt und geleugnet hatte. Doch das war nur ein Teil der Macht, die die Aufnahme über mich besaß. Die Qualität des Bands war nicht besonders gut, das Signal-Rausch-Verhältnis schlecht. Es stand damals schon dafür, wie Alter und Entfernung zersetzen können. Kosmische Strahlen, die sich in Gewölben voller Wasser vergraben. Rost auf unseren Fingerspitzen.
Doch das allein machte die Aufnahme noch nicht numinos. Ihre Numinosität verdankte sie einem Zufall: Sie war während eines Gewitters entstanden. Der Himmel, durch den das Signal auf seinem Weg zum Radio gereist war, war mit Potenzialität aufgeladen gewesen, immer wieder auftretende Frequenzüberlastungen knisterten und fauchten und unterbrachen die Ausstrahlung mit Salven weißen Rauschens. Zu Beginn der Sinfonie waren die Blitzeinschläge nur hin und wieder zu hören, gegen Ende aber kamen sie so oft, dass man kaum noch Musik erkennen konnte, nur ein sengendes Knirschen, das weiter und weiter wütete, mit schwachen Streichern im Hintergrund, wie Gegenströme auf dem Meer. Jedes Mal, wenn der Blitz die Musik auslöschte, war das Geräusch so laut, dass es wie Stille war. Als hätte Gott seinen Fingerabdruck auf dem Band hinterlassen.
Ich wusste, dass ich es hier mit einem unwiederholbaren Ereignis zu tun hatte, für immer auf Kassette gebannt, sodass es wieder und wieder abgespielt werden konnte. Das hatte etwas derart Anstößiges, dass das Band anzuhören sich wie Ketzerei anfühlte. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie viel von meinem Verlangen nach dem Band die Suche nach Zuflucht und wie viel der Wunsch nach Auslöschung war. Ich muss dabei immer an den Sohn einer Freundin meiner Mutter denken, der als Kind eine krankhafte Obsession für C. S. Lewis’ Die Reise auf der Morgenröte entwickelte, und keiner wusste, warum. Später stellte sich heraus, dass er ein großes Familiengeheimnis erfahren hatte, eines, über das nie gesprochen werden durfte, und so klammerte er sich an das Buch über das Ende der Welt, das von einem Jungen handelte, dem die Sünden wie Haut vom Leib geschnitten werden konnten. Vielleicht war das Band so etwas Ähnliches für mich. Etwas unerträglich Schweres, das mich in seinem Bann hielt, ein Stück vom Göttlichen, das nicht gut für meine Seele war, etwas, das nie auf Band fixiert hätte werden dürfen, um wiederholt angehört werden zu können, etwas, das zwischen mir und dem Verraten von Geheimnissen stand. Das ging monatelang so weiter, bis ich eines Tages ziemlich plötzlich beschloss, dass ich es nicht mehr hören wollte. Heute liegt das Band irgendwo in meinem Haus in einer Schachtel; es brennt noch immer von der Bedeutung, die es damals für mich hatte, und ich habe es ein paar Mal in die Hand genommen und gehalten, überrascht von seiner Leichtigkeit und wie schwer es mir auch heute noch fällt, es zu halten. Es ist das Relikt einer bestimmten Zeit, einer längst vergangenen Zeit, ein Überbleibsel des Menschen, der ich einst war, und mittlerweile liegt seine Macht in eben dem Wissen, dass ich es nie wieder abspielen werde.