Neue Mandanten

Auf dem Weg zur Dampferbesprechung geht mir Bretts Fall im Kopf herum. Mord. Der helle Wahnsinn. Ich hätte es nicht geglaubt, aber andererseits ist seine bloße Existenz schon kaum zu glauben. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich ihm irgendetwas von dem abkaufe, was er gesagt hat, und mein Anwaltsgehirn formuliert Fragen, die ich meinem nichtmenschlichen Klassenkameraden stellen will, während ich eigentlich über das Dampfen nachdenken sollte. Dumm! Ich habe ihm zehn Minuten lang zugehört, nicht drei, obwohl ich bei dieser Sitzung hätte sein und Bricklin hätte auffordern sollen, sich zu verziehen.

Ich zwinge mich, langsam zu gehen, damit ich nicht »hineinplatze«. Es ist wichtig, ruhig und beherrscht zu wirken, obwohl ich das Gefühl habe, dass mein Leben außer Kontrolle gerät. Der Konferenzraum ist groß und voller staubiger Gesetzestexte, die wir nicht mehr benutzt haben, seit wir juristische Recherchen im Internet anstellen können. Die Bücher machen sich in den Regalen trotzdem gut – klassisch und professionell –, im Gegensatz zu mir mit meiner Weihnachtselfenkrawatte. Die Besprechung – meine Besprechung – nähert sich dem Ende. Meine Mandanten schütteln Bricklin über den langen, schmalen Konferenztisch aus poliertem Ahorn hinweg die Hand. Die Gratisflaschen Wasser mit dem Firmenlogo sind leer. Barb, unsere pingelige Rechtsanwaltsgehilfin, sammelt Unterlagen ein. Leute schieben ihre Stühle vom Tisch zurück. Ich bin am Arsch.

Bricklin schaut mich mit einem falschen Lächeln an, dann sieht sie unnötigerweise auf die Uhr, um zu betonen, dass ich zu spät bin. »Dan, wie nett von Ihnen vorbeizukommen. Ich bin gerade fertig geworden. Randall, Beatrice, Arthur, das ist Dan Becker, der Anwalt, der ursprünglich für Ihren Fall vorgesehen war. Er trägt normalerweise ein Jackett.«

Sie deutet auf die drei Dampfermandanten. Randall ist ein ganz in Schwarz gekleideter Riese von eins achtundneunzig mit einer Reibeisenstimme vom jahrelangen Rauchen, der meint, dass Dampfen weniger schädlich und eine gute Methode für Raucher sei, damit aufzuhören. Ich beschließe, ihn Darth Vapor zu nennen. Beatrice ist eine verhutzelte alte Dame mit Haut wie Pergament und tiefen Zornesfalten – sie hat ihr Süßwarengeschäft zu einem Dampferladen umgebaut, in dem sie Dutzende von süßen Aromen und Liquids verkauft, auch bekannt als »Dampfsaft«, der besonders für Kinder attraktiv ist. Und Arthur, der irgendwie verärgert wirkt, als ich nicht daran denke, ihn »Artie« zu nennen, sieht mit seinem langen ungepflegten Haar und dem Batikshirt wie ein Hippie aus. Er ist der Typ, der Dampfsaft mit THC versetzen würde, dem psychoaktiven Bestandteil von Marihuana, und es dann als medizinisch bezeichnen würde.

Ich trete vor und falle in das Händeschüttelkarussell ein. »Hallo Randall, Beatrice, Artie. Nur damit keine Verwirrung entsteht, ich bin immer noch der Hauptanwalt Ihres Falls.«

»Natürlich«, sagt Bricklin schnell. »Ich werde Dan über alles in Kenntnis setzen, was wir besprochen haben«, verspricht sie den Mandanten und versucht, sie hinauszukomplimentieren, bevor sie mich kennenlernen können.

Ihre Versprechen sind für mich keinen verschimmelten Käse wert. Ich glaube nicht, dass sie mich korrekt informieren wird. Stattdessen werde ich mit Pingel-Barb sprechen, die sich ausgezeichnete Notizen macht. Es gelingt mir, ein paar einleitende Worte zu sagen, bevor meine gestohlenen Mandanten zur Tür gehen. Niemand spricht gern länger als nötig mit Anwälten, und die Dampferleute haben genug. Ich verteile meine Karten, und meine Hände zittern noch immer von der Begegnung mit Brett. Ich verspreche, ihre Anrufe jederzeit entgegenzunehmen, Tag und Nacht. Ich entschuldige mich für meine Verspätung, aber ich kann ihnen den wahren Grund dafür nicht nennen. Ich kann ihnen nicht sagen, dass ein anderer Mandant für mich Vorrang hatte, von dem ich mir immer noch nicht sicher bin, ob er überhaupt echt ist. Oder gar ein Mandant. Das Fußballspiel meiner Tochter ist keine gute Entschuldigung. Es interessiert kein Schwein, wie sehr man sein Kind liebt, wenn man einen Anwalt braucht. Der Autounfall ist die beste Lösung.

»Ich hatte einen kleinen Unfall, aber es ist nur ein Blechschaden«, sage ich. Sie erkundigen sich höflich, ob ich verletzt sei. Ich antworte mit einem Scherz. »Nur ein kleines Schädel-Hirn-Trauma, kein Grund zur Beunruhigung.«

Sie starren mich an, ohne zu lachen. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass der Scherz angesichts der Verletzungen in ihrem Fall höchst unangebracht war. Zweien der Kläger, von denen sie verklagt werden, wurde von ihren Produkten das Gesicht weggerissen. Scheiße! Mein Verstand arbeitet im Moment nur auf Sparflamme. Vielleicht habe ich wirklich was am Kopf abbekommen. Wahrscheinlicher ist, dass ich einfach in Gedanken unendlich weit weg bin.

Sie gehen und bedanken sich auf dem Weg nach draußen bei Bricklin, aber nicht bei mir. Kein Dank dafür, zu spät gekommen zu sein und einen schlechten Witz gemacht zu haben. Barb ergreift die Flucht, weil sie spürt, dass ich mit ihr reden will, und plötzlich bin ich mit meiner Elfenkrawatte allein im Raum. Ich lebe jetzt schon eine ganze Weile allein, aber so allein habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Es ist die Art von Alleinsein, bei der man nicht freiwillig allein ist, sondern weil niemand mit einem zusammen sein will. Es ist eine tiefere Einsamkeit, emotional wie physisch. Eine der Wasserflaschen ist noch halb voll. Es ist mir egal, wer daraus getrunken hat oder welchen Erreger der diesjährigen Grippe er womöglich trägt. Ich kippe das Wasser hinunter und eile zurück in mein Büro.

Phil steht vor meiner Tür stramm wie ein Beefeater, der den Tower von London bewacht. Er ist umgeben von Kartons, die sich bis zu seinen Knien stapeln.

»Barb hat die Dampferakten gebracht. Sie wollte sie ins Büro stellen, aber ich habe ihr gesagt, die Tür sei kaputt.«

»Du entwickelst dich zu einem geschickten Lügner.«

»Das ist eine Menge Lesestoff. Soll ich gleich loslegen?«

Ich denke darüber nach. Er hat recht – wir sollten mit dem größten Fall meiner Karriere in die Gänge kommen. Unerklärlicherweise schüttele ich den Kopf. »Nein. Für dich habe ich ein Sonderprojekt.«

Beim Wort »Sonderprojekt« eigens für ihn leuchtet Phils Gesicht auf. »Wirklich? Worum geht es?«

»Ich möchte, dass du einige sehr alte historische Texte recherchierst, vielleicht sogar Schriftrollen. Die Sache ist streng geheim, also kein Wort zu Bricklin oder Rhino oder sonst wem. Geh ins Internet, aber du wirst vielleicht auch in die Handschriftenabteilung der öffentlichen Bibliothek müssen. Ich werde dir eine erste Liste und einige Stichworte geben. Oh, und gab es hier in letzter Zeit Tötungsdelikte, bei denen das Opfer noch nicht volljährig war?«

»Wie bitte?«

»Morde an Kindern.«

Phil ist verwirrt, aber pflichtbewusst. »Soweit ich weiß, gab es nur einen, aber der war heftig. Das Mädchen in Queen Anne.«

»Das Mädchen?«

»Haben Sie im Aufzug die Nachrichten nicht gelesen?«

Ich übergehe seine Bemerkung. »Ist sie in ihrem Zimmer ermordet worden?«

»Also haben Sie doch davon gehört. Ja, es ist in ihrem Zimmer geschehen, aber die Polizei hat noch keine Einzelheiten bekannt gegeben. Es muss ziemlich übel gewesen sein. Angeblich war es ein Ritualmord, möglicherweise ein Kult.« Er verzieht angewidert das Gesicht.

Ich schaudere. Das muss das Opfer sein, von dem Brett gesprochen hat. »Wie lautet die Adresse?«

»Sie wurde in den Nachrichten nicht genannt, aber ich kann …«

»… nachforschen und es herausfinden.«

»Das kann ich gut.«

»Ich weiß. Kümmere dich darum. Ich werde die Dampferakten übernehmen.«

Ich schicke ihn weg, und er springt davon wie ein eifriger Bluthund. Dann öffne ich die Tür. Die Nemesis meiner Kindheit sitzt in Menschengestalt auf meinem Ballstuhl und rollt durch mein Büro. Bei Tageslicht gar nicht so gruselig. Ich schließe die Tür hinter mir.

»Okay, Brett, du hast fünfzehn Minuten Zeit, die Sache zu erklären. Dann schmeiße ich dich raus, damit ich mich wieder an meine richtige Arbeit machen kann.«

Phil liefert mir die Adresse des toten Mädchens um fünf Uhr, und um fünf Uhr dreißig fahre ich mit dem spiegellosen schwarzen Escalade den Queen Ann Hill hinauf. Warum? Ich weiß es nicht. Ich sollte die Scheiß-Dampferakten lesen. Ich habe Stunden mit dem Versuch verbracht, mich darauf zu konzentrieren, doch ich war mit dem Kopf nicht bei der Sache. Egal, ob es die eidesstattliche Erklärung eines Zeugen oder eine Zusammenfassung der Fakten war – bevor ich die Seite zu Ende gelesen hatte, ertappte ich mich dabei, dass meine Gedanken zu Bretts Fall zurückgewandert waren, und dann musste ich die ganze Seite noch mal lesen. Normalerweise habe ich kein Problem damit, mich in eine Akte zu vertiefen, aber Atemwegserkrankungen der Lunge sind verglichen mit den Fakten meines »anderen« neuen Falls schnarchlangweilig. Ich kann immer noch nicht fassen, was Brett mir erzählt hat. Wenn er halbwegs ehrlich war – und da bin ich mir nicht so sicher –, dann gehen unter der nieselnassen Oberfläche des entspannten Seattle echt abgedrehte Sachen vor.

Die Häuser auf dem Queen Anne Hill stammen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ich fahre durch die engen, zugeparkten Straßen und achte dabei auf Seitenspiegel. Dies ist das alte Seattle, ein Stadtteil, der von dem großen Feuer von 1889 unberührt geblieben ist. Von hier aus hat man einen Blick aufs Stadtzentrum, die Space Needle, auf die Elliot Bay und, dahinter, Bainbridge Island.

Ich halte vor dem Haus. Auf einem Metallschild an der Tür steht das Baujahr: 1905. Mir ist klar, dass ich keine Befugnis habe, mit den Eltern des Mordopfers zu sprechen oder mir den Tatort anzusehen. Mein schwarzer Wagen und mein Geschäftsanzug verleihen mir jedoch den Anschein eines Regierungsbeamten – die Weihnachtselfenkrawatte nehme ich ab und stopfe sie ins Handschuhfach. Aber ich habe kein Abzeichen, keinen Ausweis, nichts. Ich werde die Leute irgendwie überreden müssen, mich reinzulassen. Ich bin in Eile – ich muss diese Sache aus dem Kopf kriegen und mich wieder dem Dampfen widmen –, und während ich den geschwungenen Zementweg zu der großen, überdachten Veranda hinaufgehe, übe ich, was ich sagen will. Ein Glück, dass Anwälte gute Redner sind. Wir »verbiegen« Worte und Sätze zu unserem Vorteil. Wir können das Gewöhnliche wichtig klingen lassen und das Wichtige gewöhnlich. Heute muss ich wichtig klingen.

Oben sitzen Krähen aufgereiht auf einem Fensterbrett, ich zähle acht Stück. Sie hocken dem Fenster zugewandt da wie ungebetene Zuschauer einer Tragödie. Dunkle kleine Aasgeier. Sie bringen Pech, pflegte mein Vater zu sagen. Ich hebe einen Stein auf, besinne mich dann eines Besseren und greife stattdessen nach einem Kiefernzapfen – schließlich ist hinter ihnen ein Fenster. Ich werfe den Kiefernzapfen nach den Krähen. In der Highschool habe ich Baseball gespielt, daher ist es ein schneller, gut gezielter Wurf. Der Kiefernzapfen fliegt in hohem Bogen aufs Haus zu, landet genau zwischen den fiesen Viechern und knallt einem gegen den kleinen schwarzen Kopf. Bingo! Die Krähen erheben sich wie eine dunkle Wolke, krächzen aber in einer Kakofonie heiserer Einzelstimmen. Sie sind sauer auf mich. Sie flattern zu der nahen Kiefer, die mich mit Munition versorgt hat, und nehmen auf einem langen, krummen Ast wieder ihre Achterreihe ein. Sie setzen sich in genau derselben Anordnung hin, soweit ich das erkennen kann, und funkeln mich an, als prägten sie sich mein Gesicht in ihr kollektives Gedächtnis ein.

Die alte Türklingel ist übermalt worden und funktioniert nicht. Stattdessen klopfe ich an und spähe durch den dekorativen Glaseinsatz in der Tür. Das hohle Klopfgeräusch hallt durch die verlassene Diele. Hier ist eine Leere, ein fehlendes Leben. Es dauert, bis die Mutter im Flur erscheint und auf mich zuschlurft. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Das wird hart. Phil hat ihren Namen herausgefunden – Beverly Reed, Mutter von Samantha Reed, dem siebzehnjährigen Opfer. Witwe eines Computerprogrammierers namens Gary Reed. Gary starb vor zwei Jahren an Krebs. Die Recherchen meines Praktikanten sind gründlich, und mein Handy vibriert immer noch alle paar Minuten mit Updates, wenn er etwas Neues hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt mehr wissen will. Bev ist Ärztin, aber kein medizinisches Wunder kann ihre Tochter mehr retten. Die junge Samantha war tot, als man sie fand. Bev steht jetzt an der Tür. Sie sieht schrecklich aus – dunkle Ringe unter den Augen, plattes braunes Haar, wahllose Kleidung. Ich sehe ihr den Verlust an. Für ihren Mann konnte sie vor zwei Jahren nichts mehr tun, und das konnte sie auch jetzt nicht. Diese Machtlosigkeit muss schmerzhaft für eine Ärztin sein, für eine kluge Frau wie Bev, die die medizinische Hochschule absolviert hat, die immer erfolgreich war, die zu den besten fünf Prozent gehört, die anderen Menschen hilft, der eigenen Tochter aber nicht helfen konnte. Sie öffnet die Tür mit schlaffen Händen.

»Ja?« Mehr bringt sie nicht heraus.

»Es tut mir leid, aber wir müssen uns noch einmal umsehen«, sage ich.

Während der letzten zwei Tage wird ein Dutzend anonymer Cops hier ein und aus gegangen sein. Wenn ich mich wie ein Polizist verhalte, wird sie annehmen, dass ich zur Polizei gehöre, und mit deren Vorgehensweise kenne ich mich aus. Anwälte sind Meister darin, unehrlich zu sein, ohne zu lügen. Ich heuchle Vertrautheit und benutze meine Gerichtsstimme – amtlich, laut und deutlich und eine Oktave tiefer als sonst. Die gleiche Technik wenden Polizisten an, wenn sie sich Gehör verschaffen wollen.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal stören muss, Bev. Es könnte sein, dass unserem Fotografen ein Beweisstück entgangen ist, das man auch nicht auf dem Video erkennen kann. Ich verspreche, ich werde mich beeilen.«

Ohne ein weiteres Wort lässt sie mich herein. Sie scheint sich mit den Störungen ihrer Trauer abgefunden zu haben, und sie will Gerechtigkeit. Sie wird die Polizei ihre Arbeit machen lassen. Sie ist erschöpft und hat keinen Widerstand mehr in sich. Es ist traurig, eine starke Frau so geschwächt zu sehen. Plötzlich wünsche ich mir verzweifelt, ihr zu helfen, sie zu retten. Aber wenn sie kein besonders heikles juristisches Problem hat oder ein Knöllchen loswerden will, kann ich nichts für sie tun. Außerdem bin ich nicht ihretwegen hier, sondern wegen des Verdächtigen, dem man vorwirft, ihre Tochter getötet zu haben.

Ich sollte wissen, welches das richtige Zimmer ist, aber ich weiß es nicht. Ich schätze, es ist oben, und gehe zur Treppe.

»Warten Sie«, sagt Bev.

Ich erstarre, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich habe einen Fehler gemacht , denke ich. Sie wird um meinen Ausweis bitten, und schon wird der Besuch zu Ende sein.

»Ja?«

»Mein Sohn ist oben. Schließen Sie bitte die Tür, damit er nicht in ihr Zimmer sehen kann.«

»Natürlich.« Ich will mehr sagen. Ich will ihr mitteilen, wie großartig sie ist, dass sie in einer solchen Zeit, in der sie völlig am Ende ist, auch gleich an ihren Sohn denkt. Stattdessen stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus und eile die Treppe hoch.

Mir fällt auf, dass anders als in den meisten alten Häusern die Stufen nicht knarren. Lose Nägel in Dielenbrettern werden bei einer hochwertigen Renovierung, wie eine Ärztin und ein Programmierer sie sich leisten können, oft neu vernagelt. Dieses Haus aus dem Jahr 1905 ist gründlich modernisiert worden – Gipskarton hat die alten Putzträger ersetzt, und die Fenster wurden mit zwölf Zentimeter breiten lackierten Holzrahmen verkleidet. Auf einem antiken Tisch im Flur steht ein altes Telefon mit Wählscheibe, hinter dem ein modernes Handyladegerät hervorlugt. Bev hat den ursprünglichen Charakter ihres Hauses bewahrt, und sie hat wirklich Geschmack.

Am Ende der Treppe folgt ein Flur. Es ist klar, welches Zimmer Samanthas ist: das mit dem gelben Absperrband vor der Tür. Ein weiterer tiefer Atemzug, dann gehe ich hinein.

Es ist schrecklich. Das Zimmer wurde aufgeräumt, aber es ist trotzdem schrecklich. Um ein Haar hätte ich das Licht wieder ausgemacht, um die Horrorshow zu beenden, die sich mir seit dem Einschalten bietet. Stattdessen stehe ich in der Tür und frage mich, was zum Teufel ich hier mache. Ich sollte zu Hause sein und Texte über explodierende E-Zigaretten und Lungenkrankheiten lesen, anstatt mich an den Tatort eines Mordes zu schleichen. Zum ersten Mal frage ich mich, was passieren würde, wenn man mich erwischt. Begehe ich ein Verbrechen? Gut möglich .

Vorsichtig betrete ich den Raum. Die Wände sind butterblumengelb mit roten Spritzern. Der Teppich ist hellblau mit einem dunklen Muster. Samanthas Sachen sind alle an ihrem Platz – Schulbücher, Fotos von ihr auf einem Pferd, vielleicht ihrem eigenen, und ihre Fußballmedaillen. Mir wird flau, denn ich kenne sie – sie stammen von Turnieren, an denen auch Lucy teilgenommen hat. Verflucht. Doch das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist das Blut.

Samantha ist in ihrem Bett getötet worden. Die Matratze und das Bettzeug sind weg und befinden sich ganz sicher in einem Polizeilabor. Aber es sind trotzdem noch Blutflecken zu sehen. Ich schaue mir die gelben Wände genauer an. »Blutmuster« heißt es im Polizeijargon, doch das rote Muster auf dem Gelb stammt nicht von einem einzigen, heftigen Spritzer – an jeder Wand sind drei Gruppen von roten Sprenkeln zu sehen, als wäre absichtlich rote Farbe an eine Wand nach der anderen geschleudert worden, wie abstrakte Kunst.

Ich stehe auf dem Teppich und werfe jetzt auch darauf einen genaueren Blick. Er ist gar kein zweifarbiger Berber, wie ich zuerst gedacht habe; er ist voller Flecken. Blutflecken. Wie die Wände. Vor dem Kopfende des leeren Bettgestells ist ein besonders großer Schmierfleck – hier wurde sie aus dem Bett auf den Boden gezerrt. Ich knie mich hin und sehe jetzt, dass das Wirbelmuster auf dem Teppich aus getrocknetem Blut besteht – lange Schlaufen in einem großen Oval. In der Mitte dieses roten Rings sind drei einfache Strichmännchengesichter, wie Höhlenmalerei-Emojis. Da ich nun genau über ihnen stehe, kann ich sie erkennen: Mund nach oben, Mund nach unten, ein rundes o, und darüber die aufgerissenen starren Augen, die in Comics für Überraschung stehen. Irgendjemand hat mit dem Blut des jungen Mädchens Gesichter gemalt. Und so viel Blut  – der Teppich ist damit getränkt. Ich kämpfe gegen den Drang, mich zu übergeben, während ich mein Handy aus der Tasche ziehe und Fotos mache.

Hat Brett diese schreckliche Tat begangen? Natürlich hat er das , denkt ein Teil von mir, während ich die Kamera einstelle und an die Tür trete, um eine Gesamtaufnahme des Zimmers zu machen. Ist doch logisch – er ist ein Monster. Doch ein anderer Teil von mir denkt, dass er es nicht getan haben kann. Ich kenne diesen Idioten schon mein ganzes Leben in menschlicher Gestalt, und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass er … das hier getan hat. Alle Mörder von Kindern sind Arschlöcher, aber nicht alle Arschlöcher ermorden Kinder. Das klingt verrückt, selbst in meinen Ohren, vor allem weil Brett nebenbei als Kreatur herumgeistert, von der ich immer dachte, dass sie mich töten würde. Doch das hat er nicht getan, und er hat felsenfest beteuert, dass er so etwas nie tun würde. Andererseits beteuern schuldige Menschen immer ihre Unschuld. Warum sollte ein Wesen, das halb Mensch, halb Bestie ist, da anders sein?

Ich spüre, dass noch jemand da ist, bevor ich das Zupfen an meinem Hemd fühle. Ich mache einen Satz. »Aargh!«

Einen panischen Moment lang frage ich mich, ob Brett mir gefolgt ist, ob er mich stalkt, damit er mich an dem schrecklichsten Ort umbringen kann, der überhaupt denkbar ist. Aber als ich herumwirbele und das Einzige schwinge, was ich griffbereit habe – mein Fotohandy –, ist es nur ein Junge. Bevs Junge. Nachdem ich ein nutzloses Foto von seinem überraschten Gesicht geschossen habe, lege ich die Hand auf den Knauf, um die Tür zu schließen, damit er nicht in den Raum blicken kann.

»Ich habe es schon gesehen«, sagt er scharfsinnig. »Ich bin reingeschlichen, nachdem das Zimmer versiegelt wurde, als die Polizei Pause gemacht hat. Ich musste das hier holen, bevor sie sie weggebracht haben.«

Er hält ein Freundschaftsarmband hoch. Ich schätze, dass er es für seine Schwester gemacht hat. Es ist pink und weiß. Und rot. Ein Schauer überläuft mich bei der Vorstellung, wie er es der toten Samantha heimlich abgenommen hat.

»Sind Sie ein Cop?«, fragt er.

»Nein«, antworte ich. Ich belüge Kinder nicht gern. »Aber sag es nicht deiner Mom. Sie macht eine schwere Zeit durch und würde beunruhigt sein.«

»Reporter?« Jetzt klingt er misstrauisch. Er streicht sich eine blonde Locke aus den Augen und starrt mich wütend an. Mit zehn weiß er bereits, dass man der Presse nicht trauen kann. Kluges Kind.

»Nein. Ich bin Anwalt.«

»Oh, okay.« Er nickt. Irgendwie kann er damit leben, dass ich Anwalt bin. Vielleicht hält er mich für einen Staatsanwalt, der sich darauf vorbereitet, Anklage gegen den Bösewicht zu erheben, obwohl er noch zu jung ist, um diese Rolle zu verstehen. Vielleicht hat sein Dad in der Computerbranche mit Anwälten zusammengearbeitet. So, wie er zu mir aufschaut … erweckt er kurz den Eindruck, als könnte er einen Dad gebrauchen.

»Kommst du klar …?«

»… Jeremy.«

»Geht es dir gut, Jeremy?«

»Ich habe Angst.«

»Ich weiß. Als ich so alt war wie du, hatte ich ein Monster, das nachts in mein Zimmer gekommen ist.«

»Ich auch.«

Das lässt mich stutzen. »Wirklich? Hast du ihn der Polizei beschrieben?«

»Es ist kein Er, es ist ein Es.«

»Kannst du es mir beschreiben?«

»Es hat Fell. Große Zähne. Krallen. Es versteckt sich in meinem Kleiderschrank oder unter dem Bett.«

»Moment mal, flüstert es deinen Namen so leise, dass du es kaum hören kannst?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

Brett! Der Mistkerl war also doch hier. Das ändert alles!

»Ich werde dafür sorgen, dass es aufhört, dir Angst zu machen«, schwöre ich, obwohl ich nicht weiß, ob ich in Bezug auf Brett recht habe oder ob ich dieses Versprechen halten kann. Aber es ist keine Lüge, denn ich habe die volle Absicht, Brett die Hölle heißzumachen, wenn er auch nur daran denkt, noch mal hierherzukommen.

Jeremy nickt langsam, dankbar, aber unsicher.

»Vertrau mir, ich bin Anwalt.«

»Hat das Monster meine Schwester geholt?«

Ich möchte ihm eine definitive Antwort geben, aber das ist die entscheidende Frage, nicht wahr? Und wie ich schon sagte, ich will ein Kind nicht belügen. »Um das herauszufinden, bin ich hier. Versteckst du dich unter der Decke?«

»Ja.«

»Gut. Da bist du sicher.«

»Sam war es nicht.«

Scheiße … er hat recht.

Ich möchte mich von Bev verabschieden und ihr sagen, was für ein großartiger Junge Jeremy ist. Sie sitzt in dem geschmackvoll restaurierten Wohnzimmer. Als ich gerade den Kopf durch die Tür stecken will, höre ich aus dem Flur, wie sie schluchzt. Sie weint, daher störe ich sie lieber nicht. Ich verlasse das Haus und nehme meine schauerlichen, unrechtmäßig erworbenen Bilder mit.

Am Straßenrand begrüßt mich ein weiterer scheußlicher Anblick. Der schwarze Escalade ist weiß mit Vogelscheiße gesprenkelt, sodass er aussieht wie ein Experiment in Vogelkot-Pointillismus. Die Krähen. Mann, Victor wird echt sauer sein.