Ab jetzt geht’s bergab

Es ist eine Riesenerleichterung, als das Laub sich teilt. Mir war nicht bewusst gewesen, welche Angst ich hatte. Es war wie damals an der juristischen Fakultät, als ich zum ersten Mal vor den Seminarteilnehmern ein Argument darlegen musste und meine Professorin sich Notizen gemacht und mich über den Brillenrand angesehen hatte, nur dass diesmal ein Leben auf dem Spiel stand und keine Zensur. Jetzt, da wir den Mount Si hinunterwandern, ist das Urteil »nicht schuldig« endlich bei mir angekommen. Ich habe gerade Gerechtigkeit für meinen Mandanten erstritten. Ich bin bester Stimmung und könnte platzen vor Stolz. Mein Puls rast immer noch, als hätte ich bei den Olympischen Spielen gerade den 800-Meter-Lauf absolviert. Außerdem staune ich über die Effizienz des Ein-Gott-Justizsystems. Es gab keine zähen, jahrelangen Verhandlungen, keine quälende Befragung von Zeugen, keine Verzögerungen durch Anträge. Es war alles mit ein paar Ermittlungstagen und einer halbstündigen Anhörung erledigt. Das nenn ich mal eine schnelle Verhandlung! Ein übernatürliches Mitternachtsgericht hat eindeutig seine Vorteile.

Ich atme wieder normal, und Brett springt während des Abstiegs auf dem Pfad hin und her und redet auf mich ein.

»Ich kann dir gar nicht genug danken, Mann. Du warst unglaublich! Abgesehen davon, dass ich keine Kinder mehr erschrecken darf. Das ist scheiße. Aber sonst warst du toll. Du solltest das beruflich machen!«

»Ich mache das beruflich, Brett. Ich bin Rechtsanwalt.«

»Aber nicht diese Art von Rechtsanwalt.«

»Welche Art?«

»Ein Anwalt für Bestien wie mich. Für übernatürliche Wesen. Ein Überanwalt.«

»Ich habe einen richtigen Job.«

»Das hier war richtig. Wir haben auf dem Block gestanden. Richtiger kann es nicht werden.«

»Ich meine, mit einem richtigen Gehalt. Wirst du mir sechsstellige Summen dafür bezahlen, dass ich dein Auge gerettet habe?«

Brett schaut zu Boden. »So viel Geld habe ich nicht, aber ich könnte in Raten zahlen.«

Ich habe ihn beschämt und kriege sofort ein schlechtes Gewissen. »Vergiss es. Betrachte es als Geschenk. Wir haben das Richtige getan. Du warst unschuldig. Außerdem musste ich ein paar Dämonen aus meiner Vergangenheit vertreiben: Ich bin gegen dich aufgestanden. Das ist alles, was ich an Entschädigung brauche.«

»Ich glaube, du meinst, du bist für mich eingetreten. Danke, Kumpel.«

»Jaja, schon gut. Und ich bin nicht dein Kumpel. Nur um das klarzustellen.«

»Okay. Aber ich will sagen, dass es mutig von dir war, dich für mich auf den Block zu stellen.«

Die letzten Worte sagt er mit einer seltsamen Aufrichtigkeit. Tatsächlich ist er so aufrichtig, dass ich mitten auf dem Weg stehen bleibe. »Warte mal. Was meinst du damit, ich habe mich für dich auf den Block gestellt?«

»Wir sollten weitergehen. Nicht alle Kreaturen, die die Gerichtsverhandlung verfolgt haben, waren freundlich gesinnt.«

Ich bleibe hart. »Nein. Du hast das so komisch gesagt. Ich will wissen, was du meinst.«

»Na gut. Es ist so: Wer mit auf dem Block steht, erhält die gleiche Strafe wie der Angeklagte.«

Mir rutscht der Magen in die Kniekehle. »Willst du damit sagen, dass man mich auch auseinandergerissen hätte, wenn du für schuldig befunden worden wärst?«

»Oder man hätte dich in eine Flasche gestopft. Aber hoffentlich in eine andere Flasche, denn in derselben wäre es echt eng geworden, schlimmer als dein Boot.«

Mir schwirrt der Kopf. Ich habe gerade mein Leben meinen Anwaltstalenten anvertraut. Und Brett. Ich taumele unter der Last dieser Erkenntnis und lehne mich an einen Baum. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Ich wusste ja nicht, dass du zu mir heraufklettern würdest. Aber ich bin froh, dass du es getan hast. Und es ist schließlich alles gut gegangen, nicht wahr? Wir sollten weiterlaufen.«

Heilige Scheiße. Ich hatte nicht vorgehabt, mein Leben für diesen Kerl zu riskieren. Dann wäre ich doch nie auf den Stumpf gestiegen! Wenn ich nicht so sprachlos wäre, wäre ich stinksauer auf ihn. Er hat mich angelogen. Gut, vermutlich hat er nicht direkt gelogen, aber irgendwie muss er mich ausgetrickst haben. Er hat mich in die ganze Sache reingezogen, weil er sich dem Gericht nicht allein stellen wollte. Verdammter Feigling. Ich stehe da, gehe im Geiste noch einmal die Ereignisse der Nacht durch und weiß nicht, ob ich Brett oder mir oder den Launen des Schicksals die Schuld an der Gefahr geben soll, in der ich geschwebt habe.

Dann versteift sich Brett. »Mist. Affen.«

Diese seltsame Aussage reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist eine eigenartige Bemerkung, zum einen, weil wir über eine sehr ernste Angelegenheit sprechen, und zum anderen, weil es in dieser … Hemisphäre keine Affen gibt. Brett dreht sich wachsam um und sucht den dunklen Pfad mit den Augen ab. Sein Blick landet schließlich auf den hoch gelegenen Bäumen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass wir nicht stehen bleiben sollen«, flüstert er.

Ich halte die Taschenlampe meines Handys in die Richtung, in die er schaut. Sie beleuchtet nicht viel, wird aber dramatisch von vielen glänzenden Augenpaaren gespiegelt, die aus den Bäumen zu uns herabsehen. Ich zähle acht Paare. Irgendwie sind sie beunruhigender als die vielen Hundert Augen, die von der Blätterwand rings um die Lichtung in Schach gehalten wurden.

»In den Wäldern von Washington gibt es keine Affen«, sage ich.

»Keine, die man sieht.«

»Nicht einmal Überreste?«

»Wenn einer stirbt, fressen die anderen den Leichnam auf, mitsamt den Knochen. Und wenn du ein fleischfressender Affe wärst, dann würdest du dir größte Mühe geben, nicht gesehen zu werden, bis du deine Beute isoliert hast, so wie jetzt.«

Mir geht auf, dass ich die Fleischaffenbeute bin. Und dabei bin ich noch nicht mal über den Berg , denke ich lächerlicherweise. Ich würde wirklich lachen, aber ich stehe kurz davor, von Affen gefressen zu werden, von denen noch nie jemand gehört hat.

»Keine Angst«, sagt Brett. »Ich regle das. Ihre Augen sind größer als ihr Gehirn. Rühr dich nicht von der Stelle, bis du sie kreischen hörst. Und dann lauf.«

Mein Anwaltssinn möchte über Bretts Worte diskutieren, aber in der einen Sekunde steht er neben mir, und in der nächsten schält er sich aus seinen Kleidern, wächst in die Länge, verwandelt sich und gleitet ins Gebüsch. Mein Kindheitsgefährte ist plötzlich eine gottverdammte Schlange. Gleich darauf höre ich ein Kreischen.

Und renne, als wäre der Teufel hinter mir her.

Es ist Morgen. Ich habe mich am Berg verirrt, als ich ihn hinuntergerannt bin – ich habe mich etwa eine halbe Meile durch den Wald gekämpft, bevor ich stehen bleiben und warten musste, bis es hell wurde, um den Weg wiederzufinden. Ein Glück, dass Brett im Truck stundenlang auf mich gewartet hat. Er war ein bisschen angekaut – Affenbisse –, aber er lebte und schlief auf dem Fahrersitz. Ich selbst habe nicht geschlafen. Ich war klar genug, um mich daran zu erinnern, dass ich heute gleich als Erstes eine Besprechung mit den Partnern habe. Ich darf mich nicht noch einmal verspäten, und ich darf die Sitzung nicht verpassen. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen werde. Ich habe ein bisschen was geschafft, bevor Brett gestern Abend auftauchte. Das wird reichen müssen. Gott sei Dank ist heute Freitag.

Brett setzt mich am Belltown Tower ab. Phil hat heute Morgen ein Seminar, daher brauche ich ihn nicht über den ganzen Wahnsinn zu belügen, und für den Moment kann ich seine zehn Textnachrichten ignorieren. Aber Rhino kommt vor der Besprechung in mein Büro und steckt seine riesige Nase herein.

»Großer Gott, Becker, Sie sehen ja furchtbar aus.«

»Ich habe die ganze Nacht gearbeitet«, antworte ich.

»Und Gräben ausgehoben?« Rhino lacht. Er findet das witzig. Ist es aber nicht.

Ich bin von oben bis unten verdreckt. Es hängen noch andere Jacketts an der Rückseite meiner Tür, doch was die Hose und die Schuhe betrifft, kann ich nicht viel tun. Das größte Problem ist mein Hemd. Von Weitem sieht es aus, als wäre es schlammverschmiert, aber in Wirklichkeit ist es dunkelrotes Gnomenblut. Rhino kichert immer noch.

Ich zeige auf ihn. »Kann ich mir für die Besprechung Ihr Hemd borgen?«

»Was? Nein! Sie werden es dreckig machen.« Er legt schützend die Arme darüber wie ein Grundschulkind.

»Dann gebe ich Ihnen hundert Dollar dafür. Ich weiß, dass Sie sie für zwanzig im Outlet kaufen.« Er zögert. Die Rechnung reizt den Geizhals in ihm – er ist der Typ im Büro, der immer irgendwie darum herumkommt, in der Bar einen auszugeben, und der immer nur zwei Dollar gibt, wenn für einen Kollegen gesammelt wird.

»Und was soll ich den ganzen Tag tragen?«

»Sie tragen achtzig Dollar in der Tasche.« Er zögert, und einen Moment lang denke ich, dass er mich lieber bei der Besprechung leiden sehen möchte, als achtzig Mäuse zu verdienen. Aber er kann dem Deal nicht widerstehen.

»Okay.«

Rhinos XXL -Hemd hängt an mir wie ein Segel – ich sehe aus wie ein Pirat. Mein Jackett passt nicht zur Hose, die an der Wade gerissen ist, und meine Schuhe hinterlassen schmutzige Abdrücke auf dem Boden des Konferenzraums, als ich ihn betrete. Vor mir sitzen die klügsten Anwälte der Stadt. Ich spule alles runter, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden über das Dampfen gelernt habe, aber es ist ein einziges Gefasel. Als ich fertig bin, starren sie mich an.

»Ich arbeite noch dran«, füge ich hinzu, um das peinliche Schweigen zu füllen.

»Nun«, sagt Rhino und zupft nervös an dem rosafarbenen Poloshirt, das er aus seiner Golftasche gezogen hat, »da hat Becker ja eine ganze Menge an Informationen zusammengetragen. Sobald er sie ein klein wenig – äh – strukturiert hat, beraume ich ein weiteres Treffen an.« Er schämt sich für mich und spricht über mich, als wäre ich nicht da. Da er mich wahrscheinlich für den Fall empfohlen hat, ist ihm die Sache auch selbst peinlich. Er war dabei mein Verbündeter; ich sollte wirklich aufhören, ihn »Rhino« zu nennen.

»Danke, Marlin«, sage ich.

»Na dann«, sagt Frances Fury, »alle zurück an produktivere Arbeit.«

Das ist eine heftige Kritik an meiner Präsentation. Tatsächlich ist »unproduktiv« so ziemlich die schlimmste Kritik, die man bekommen kann. Ich will mich danach hastig verdrücken, aber Frances sagt meinen Namen so leise, dass nur ich es hören kann. Nicht gut.

Während die anderen Partner hinausströmen, um ihren Mandanten weiter Rechnungen über mehrere Hundert Dollar die Stunde auszustellen, bin ich mir sicher, dass ich gleich von dem Dampferfall abgezogen und möglicherweise degradiert werde. Oder noch schlimmer – dass mir Bricklins Hilfe angeboten wird. Frances setzt sich an die Stirnseite des Erwachsenentisches. Die tiefen Sorgenfalten hat sie sich im Lauf der Jahre hart verdient, und ich sorge für neue – als Seniorpartnerin der Kanzlei ist jeder Fall eines anderen Anwalts auch ihr Fall. Sie bedeutet mir, am gegenüberliegenden Ende des langen Tisches Platz zu nehmen, nicht neben ihr. Wir sind die einzigen Anwesenden, daher braucht sie ihre kampferprobte Stimme nicht zu heben. Das tut sie ohnehin nicht mehr. Es ist nicht nötig. Wenn sie spricht, verstummt alles. Und niemand unterbricht Frances Fury von Fury, Styles und Anderson. Ich warte.

»Ich weiß, was hier los ist, Becker«, beginnt sie.

»Tatsächlich?« Ich sacke in mich zusammen. Ich bin überrascht, aber ich bezweifle nicht, dass sie etwas weiß. Sie ist einer der klügsten Menschen, der mir je begegnet ist.

»Zerstreutheit. Übertriebene Recherche. Unregelmäßige Arbeitsstunden. Autounfälle. Kleidung, in der Sie offenbar geschlafen haben.«

Schön wär’s.

»Ich habe das schon früher erlebt«, fährt sie fort. »Sie arbeiten sich zu Tode.«

»Fast«, gestehe ich.

»Hören Sie, wir wissen, dass Sie gern Partner werden möchten. Das ist kein Geheimnis. Aber Sie verlangen sich zu viel ab. Es beeinträchtigt Ihre geistige Gesundheit.«

»Finden Sie?« Ich habe auch schon an meiner geistigen Gesundheit gezweifelt. Wie viel weiß sie?

»Der Zwischenfall im Fußballkomplex zeigt mir, dass Sie nervös und angespannt sind.«

Ich bin so erleichtert, dass ich fast gekichert hätte. Mein Zusammenstoß mit der tollwütigen Fußballmama scheint im Verhältnis zu den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden eine Lappalie zu sein. »Ach, das.«

»Ja, das. Der technische Direktor des Jugendfußballclubs hat mich persönlich angerufen. Wir sind ein wichtiger Spender für ihr Programm. Wir machen dort Werbung. Es ist peinlich, Becker. Wie ich hörte, hat man Ihnen die rote Karte für Eltern gezeigt.«

»Ach, die gibt es da?«

»Ja. Obwohl der Club weiß, dass Sie hier arbeiten, hat er Sie von den Spielfeldern verbannt, deren Bau wir mitfinanziert haben. Das wirft kein gutes Licht auf uns.«

Ich bin am Boden zerstört, dass ich Lucys nächstes Spiel nicht sehen kann. Ich lebe für Lucys Fußballspiele. Aber zumindest weiß Frances nichts von Brett. Oder dem Übergericht. Oder dem Donnervogelhalbgott. Es klingt alles so lächerlich, nur dass mein Haar immer noch voller Gnomenblut ist.

»Sie haben recht. Ich war in letzter Zeit sehr gestresst.«

»Sollen wir Ihnen Arbeit abnehmen? Möchten Sie vielleicht den Dampferfall jemand anderem geben?«

»Nein! Ich bin an der Sache dran. Außerdem habe ich letzte Nacht ein großes persönliches Problem gelöst und kann mich jetzt ganz auf den Fall konzentrieren. Deshalb stehe ich heute auch so neben mir – nächtliche Konfliktbewältigung.« Frances mustert mich mit einem abschätzenden Blick. Ich schenke ihr ein selbstbewusstes Grinsen. »Und ich habe gewonnen.«

Sie nickt. »Freut mich zu hören. Das ist der Kampfgeist, den wir bei einem potenziellen Partner brauchen. Und in der Zwischenzeit erledigen Sie, was heute zu tun ist, und nehmen sich dann zwei Tage frei. Erholen Sie sich. Dann können Sie sich am Montag wieder frisch in die Arbeit stürzen.«

»Ich soll mir Samstag und Sonntag freinehmen?«

»Richtig. Bleiben Sie am Wochenende zu Hause. Ich bestehe darauf.«

»Danke.«

Frances lehnt sich zufrieden zurück. Kraft der Autorität, die ihr als Göttin der Kanzlei verliehen wurde, hat sie etwas Ordnung in das Chaos meines Lebens gebracht.

Sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Und, haben Sie für heute Abend etwas Schönes vor?«

Ich denke angestrengt nach, und dann fällt mir ein, dass ich tatsächlich etwas Schönes vorhabe. »Ja, ich hole meine Tochter von der Bi-Di-Gala in der Space Needle ab.«