Anträge

Swarmo ist ein Tatverdächtiger. Er ist verrückt, so viel steht fest. Er ist pervers, das ist ausgiebig belegt. Als Priester steht er sogar auf Rituale. Aber trotzdem kommt er mir nicht wie der kalkulierende Organisator unserer beiden Morde vor. Diese Morde waren akribisch geplant und sorgfältig ausgeführt, nicht chaotisch, von einem analytischen Geist erdacht, nicht von einem Theologen. Und abgesehen von der Penis-Rune waren sie nicht sexualisiert. Max hat auf das Foto reagiert – und wie! –, aber nicht wie ein Angeklagter. Angeklagte flippen nicht aus und rennen nackt auf dem Pioneer Square herum, wenn man sie mit ihren Verbrechen konfrontiert. Sie leugnen. Natürlich könnte er verrückt genug sein, um es doch getan zu haben. Die Dämonensache ist ein weiterer Aspekt … ich weiß nicht, was ich von seiner Behauptung halten soll, er sei besessen. Vielleicht hat der Teufel ihn wirklich dazu gezwungen. Das ist echt finsteres Zeug – nicht wie eine Fee oder ein sprechender Hund –, aber wie ich Gravestone schon sagte, bin ich in letzter Zeit offener geworden, was das Übernatürliche angeht. Es gibt genügend Anhaltspunkte, um Swarmo auf der Liste zu lassen, und noch spricht nichts gegen ihn als Täter. Das ist die Analyse, die ich durchführe, als die Richterin mich aufruft.

»Mr Becker?«

Ich schaue hoch. »Ja?«

»Wie lautet Ihre Antwort?«

Ich blicke mich um. Der Gerichtssaal ist brechend voll. Die Anhörung heute Morgen ist der erste große Dampfer-Antrag, und unsere Mandanten sind anwesend, um zu sehen, wie wir vorgehen. Darth Vapor, der Hippie und ihre Gefolgsleute füllen die Bänke auf der rechten Seite des Saals. Die Kläger sind ebenfalls da: Kinder mit entstellten Gesichtern und Frauen, die an Sauerstoffgeräten hängen. Sie und ihre Familien sitzen links. Es ist wie bei einer Hochzeit, wo die Familie der Braut auf einer Seite der Kirche sitzt und die des Bräutigams auf der anderen Seite des Ganges. Rhino ist als Beobachter hier.

»Bitte verzeihen Sie, Richterin Lewis. Könnten Sie die Frage wiederholen?«

Penner versetzt mir einen Stoß in die Rippen und flüstert mir aggressiv zu: »Na machen Sie schon, Becker, Sie sind dran!«

Richterin Lewis sieht mich über den Rand ihrer Brillengläser an. »In Ihrem Antrag auf ein Urteil ohne Verfahren fordern Sie mich auf, die Klage der Kläger abzuweisen, aber die Kläger machen schwere Verletzungen, laufende Behandlungskosten und sogar den Tod geltend. Streiten Sie diese Schäden ab?«

»Wir streiten nicht ab, dass die Kläger Schaden genommen haben, Euer Ehren. Wir vertreten die Position, dass die Produkte meiner Mandanten nicht die unmittelbare Schadensursache sind.«

»Wollen Sie mir sagen, dass die explodierenden Akkus Ihrer Mandanten nicht die Verbrennungen im Gesicht verursacht haben?«

»Nein, das sage ich nicht.« Es fängt schon schlecht an. Richterin Lewis mustert mich mit mehr Verachtung als der Vogel. »Ich sage, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass meine Mandanten für die Explosion ihrer Produkte verantwortlich sind. Die Akkus in den Vape Pens könnten von den Opfern manipuliert worden sein.« Penner versetzt mir unterm Tisch einen Tritt. Ich sollte die Leute, die uns verklagen, nicht als »Opfer« bezeichnen, selbst wenn sie es sind. Dadurch wirken sie sympathischer. Den gleichen Fehler habe ich bei Bretts Verhandlung gemacht. »Es gibt auch kaum Beweise dafür, dass die Kläger die Gebrauchsanweisungen für die Produkte meiner Mandanten befolgt haben. Und wir wissen nicht, ob die Akkus ordnungsgemäß gelagert worden sind.«

»Ein Vape Pen befand sich in der Tasche seines Besitzers, als er explodiert ist und ihn praktisch kastriert hat. Man wird wohl davon ausgehen können, dass ein normaler Mensch sein Dampfgerät in der Tasche aufbewahrt, denn dafür ist sie schließlich da.«

Dagegen lässt sich schwer etwas einwenden. Volcanic und Vixen Vapor hätten sich auf eine außergerichtliche Einigung einlassen sollen, aber sie sind meinem Rat nicht gefolgt. Jetzt kämpfen wir an zwei Fronten – zerstörte Lungen und zerstörte Gesichter. Schlimmer noch, das schwache Argument mit den explodierten Akkus lässt auch die Hersteller der Liquids schlecht aussehen. Es zieht den ganzen Fall runter.

»Ich habe Ihre Falldarstellung gelesen, Mr Becker. Sie ist ein wenig diffus, und ehrlich gesagt finde ich, dass es noch viele Fragen gibt, die Sie und Ihre Mandanten beantworten müssen. Ich werde den Fall der Kläger nicht abweisen. Es wird zur Verhandlung kommen, und dort können Ihre Mandanten den Geschworenen erklären, warum ihre Produkte explodiert sind.«

Ich verliere. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich zu setzen, aber ich bleibe stehen. Ich versuche, etwas für unsere Mandanten zu retten. »Wenn die Klage nicht ohne Verfahren abgewiesen wird …«

»Wird sie nicht«, bekräftigt die Richterin.

»… dann beantragen wir hiermit, den Teil des Rechtsstreits, der die Lungenschäden betrifft, von der Fehlfunktion der Akkus zu trennen. Sie betreffen unterschiedliche Angeklagte und unterschiedliche Streitpunkte. Sie sollten getrennt verhandelt werden.«

Sie zögert nicht einmal. »Nein. Einige der Kläger haben Gesichtsverletzungen und Lungenschäden. Außerdem ist dies ein großer Fall, dessen Verhandlung Wochen dauern wird; wir werden sie nicht zweimal führen.«

Penner springt wie bei »Hau den Maulwurf« aus dem Stuhl. »Was ist mit meinem Antrag, Euer Ehren? Ich habe darum gebeten, die nachteiligen Namen meiner Mandanten nicht zu nennen und stattdessen ihre Steuernamen zu verwenden.«

Er kneift die Augen zusammen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie seinem Antrag stattgeben wird. Mich hasst sie jetzt schon, und er ist noch unsympathischer. Sein Antrag ist neu und ungewöhnlich in einem Gericht, in dem neu und anders eher ungünstig ist. Es ist zu viel des Guten.

»Ich habe ihn gelesen, und ich mag ihn nicht«, erklärt Lewis. Ach was. »Aber die Fälle, die Sie anführen, Mr Penner, sind überzeugend, und ich denke, ich bin gesetzlich verpflichtet, Ihrem Antrag stattzugeben. Sie haben gründlich, stichhaltig und schlüssig erklärt, warum Namen nicht relevant sind. Außerdem werde ich Ihrem Antrag auf Zugang zu sämtlichen Krankenakten der Kläger stattgeben. Sie haben gezeigt, dass die angeblichen Lungenkrankheiten vielfältige Ursachen haben können. Sie erhalten hiermit die Erlaubnis, die möglichen anderen Ursachen während der Voruntersuchung näher zu beleuchten. Ich gebe Ihnen dafür sechs Monate Zeit.«

Sechs Monate. Das bedeutet, dass die Verhandlung frühestens acht Monate danach angesetzt wird. Anschließend folgen ein oder zwei Jahre mit Berufungen. Ich werde für die nächsten drei bis fünf Jahre von diesem Rechtsstreit vereinnahmt sein. Ach, jetzt ein wenig schnelle Vogeljustiz! Unwillkürlich stelle ich mir Richterin Lewis als große Schleiereule mit weißem, herzförmigem Gesicht vor. Nur kurz mit dem Kopf nicken, und schon haben Sie uns vom Elend unserer Mandanten erlöst. Aber das hier ist Gesellschaftsrecht. Es ist ein langer Prozess aus Verfahrensschwachsinn, Behinderung und Kompromissen, bei denen beide Parteien verlieren. Es hat wenig Ähnlichkeit mit der raschen, aufregenden und befriedigenden Rechtsprechung des Mitternachtsgerichts. Und gerechter ist es auch nicht, im Gegenteil.

Unsere Gegner wehren sich erfolglos gegen das Namen-Verstecken und Akten-Schnüffeln. Penner kommt mit seinen Anträgen durch; die Namen unserer Mandanten werden #45 LLC , #520 LLC und #76 LLC lauten, und er wird die Erlaubnis erhalten, die privaten Krankenakten der Kläger nach belastbarem Material zu durchwühlen. Meine Anträge werden formlos abgelehnt.

Nach einer langen Diskussion darüber, welcher Standard für die Vorladung von Zeugen aus anderen Bundesstaaten gilt, ist die Anhörung Gott sei Dank vorbei. Meine unzufriedenen Mandanten erheben sich und begeben sich zum Anhörungsbericht in einen Konferenzraum. Der Bericht wird nicht gut ausfallen. Penner und Rhino stecken in einer Ecke die Köpfe zusammen, wo man sie nicht belauschen kann. Ich sitze nur da und starre vor mich hin. Hinter Richterin Lewis hängen Porträts früherer Richter und Anwälte an der Wand, die auf uns herabblicken. Anders als die meisten Gemälde scheinen ihre Augen mich zu ignorieren. Dies ist eine Niederlage. Es ist das Gegenteil meines Auftritts vor dem Mitternachtsgericht im Wald auf dem Mount Si, wo alle Augen auf mich gerichtet waren, als ich um das Leben eines unschuldigen Wesens gekämpft habe. Hier bin ich dafür gestraft und gedemütigt worden, dass ich Profitgeier verteidige, die Nikotin an junge Menschen verkaufen. Im Gerichtssaal wird lautstark über die Tragweite der Entscheidung der Richterin diskutiert, doch niemand tritt an meinen Tisch. Die Menschen meiden Verlierer wie einen Aussätzigen. Viele wichtige Leute ignorieren mich, aber als der Saal sich leert, sehe ich, dass einer es nicht tut, und sein enttäuschtes Gesicht trifft mich am härtesten. Phil winkt mir vom Ende des Saales aus zu. Immer der Unterstützer. Ich hebe schwach die Hand, schenke meinem treuen Praktikanten ein trauriges Lächeln und winke zurück.

Frances Fury ist nicht immer die Unterstützerin. Sie kann sogar ziemlich nachtragend sein. Sie stellt nur die Besten ein, daher erwartet sie auch von uns, dass wir die Besten sind, was irgendwie logisch ist. Aber jeder kann mal versagen, und das verzeiht sie nicht. Ich erinnere mich an den hochgewachsenen Garth Davis, der den Fall mit dem Kleinwüchsigen verloren hat. Ich bin sicher in ihr großes Büro bestellt worden, weil ich den Dampferantrag verloren habe. Rhino hat wohl gleich nach seiner Rückkehr in die Kanzlei oder möglicherweise noch vor Verlassen des Gerichtsgebäudes vom Handy aus über meine schlechte Leistung bei der Anhörung zum Antrag auf ein Urteil ohne Verfahren Bericht erstattet. Ich mache ihm keinen Vorwurf – an seiner Stelle hätte ich das Gleiche getan.

Sie hat mich hereingerufen, und nun sitze ich zusammengesunken auf ihrem Besucherstuhl. Sie schweigt, seit ich mich gesetzt habe, um mich die Schwere meines Vergehens spüren zu lassen. Ich hasse die Leere des Raums. Er ist kahl. Keine Pflanzen, keine Fische und keine Stresskugeln. Die Einrichtung ist wie eine schallende Ohrfeige für Feng Shui. Nur ihr Jura-Diplom von der Universität von Washington hängt an der Wand. Angeblich schätzt sie eine schlichte Umgebung, damit sie sich konzentrieren kann. In ihrem Leben gibt es keinen unnützen Kram.

Ich schätze, ich sollte es hinter mich bringen, und daher spreche ich das Unausgesprochene zuerst an. »Es tut mir leid, dass ich den Antrag auf ein Urteil ohne Verhandlung nicht durchgebracht habe«, beginne ich.

Sie wedelt mit der Hand. »Pah. Der Antrag war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Den Fall kann man nicht gewinnen. Uns bleibt nur die Schadensbegrenzung. Das ist nicht das Problem.«

Ich bin überrascht. Einen Fall zu verlieren ist fast immer das Problem in einer Kanzlei, die davon lebt, Fälle zu gewinnen. Ausschlaggebend ist in der Regel der Profit. »Nein?«

»Ach was. Die Tabaklobby verliert schon seit Jahrzehnten. Für sie ist es ein langsamer, stetiger Rückzug. Die Anwälte bremsen nur den Prozess. Ich habe viele Fälle erlebt, und die Dampferfirmen werden genauso durch den Dreck gezogen werden. Es geht lediglich darum, dass wir dafür bezahlt werden, sie so lange wie möglich vor dem Untergang zu bewahren.«

»Dann … gibt es denn überhaupt ein Problem?«, frage ich. Einen Moment lang wage ich zu hoffen, dass sie mich aus einem harmlosen Grund zu sich gerufen hat. Doch mein Moment der Hoffnung ist von kurzer Dauer.

»Ich übertrage die Dampfersache an Penner.«

Da geht sie hin, meine Karriere – zack, und weg. »Verzeihung, sagten Sie nicht, der Dampferfall sei nicht das Problem?«

»Ist er auch nicht. Ein Mann namens Sherman Epstein hat sich bei uns gemeldet. Er sagt, ein Mitarbeiter unserer Kanzlei namens Becker Daniels sei bei ihm zu Hause aufgetaucht und habe ihn geschlagen. Kommt Ihnen das bekannt vor?«

»Gravestone …«

»Dieser Epstein droht mit einer Klage. Ich weiß nicht, wer Becker Daniels ist, aber der Name hat verdächtige Ähnlichkeit mit Daniel Becker, meinen Sie nicht, Becker? Als wir ihn fragten, wie viel er verlangt, forderte er von uns, seine Steuerschulden zu begleichen. Wir erwägen eine außergerichtliche Einigung.«

»Ich kann das erklären.«

»Ich bin noch nicht fertig. Tom Yancey, ein Anwalt aus dem Büro des Pflichtverteidigers – und ein persönlicher Freund von mir –, rief an und sagte, Sie hätten sich seinem Mandanten gegenüber als sein Anwalt ausgegeben, um ihn zu befragen.«

»Was? Ich weiß nichts von …«

»Er vertritt einen Mr Swarmo in einer strafrechtlichen Berufung. Schon mal gehört?«

»Oh.«

»Die Befragung des Mandanten eines anderen Anwalts ohne dessen Beisein ist ein Verstoß gegen unsere ethischen Richtlinien, Becker.«

»Ich habe mit ihm nicht über seinen Berufungsfall gesprochen.«

»Nein. Dem Anschein nach haben Sie seine Geisteskrankheit so gründlich untersucht, dass er auf dem Pioneer Square eine psychotische Episode hatte. Die Polizei hat ihn abgeführt, und er wurde wegen unsittlicher Entblößung angeklagt.«

All das ist wahr.

»Ihr unberechenbares Verhalten deckt sich mit unpünktlichem Erscheinen zu Besprechungen und dem Platzverweis von meinen geliebten Fußballfeldern, weil Sie sich als Spielerinnenvater einfach schrecklich aufgeführt haben.«

Ich höre nur die Worte »Vater« und »schrecklich«. Sie tun weh.

»Ich versuche, Gutes zu tun«, antworte ich. Sie wartet darauf, dass ich es erkläre, aber ich kann meiner Chefin nicht sagen, was ich zu tun versuche. Ich versuche, einen übernatürlichen Mord aufzuklären. Zwei Morde! Ich versuche, Feen und sprechenden Hunden und toten Wohnungslosen und jungen Meerjungfrauen zu helfen. Und doch bin ich für meine Chefin ein schrecklicher Vater, der nicht in der Lage ist, Nikotinverkäufer wirksam zu verteidigen.

»Ist es wirklich Ihr Ziel, hier Partner zu werden?«, fragt sie mich. Es ist keine gezielte Frage; sie möchte ernsthaft wissen, was zum Teufel ich mit meinem Leben anstelle.

Meine Antwort war immer Ja. Ich öffne den Mund in der Absicht, es zum tausendsten Mal zu wiederholen. Stattdessen höre ich mich sagen: »Ich weiß es nicht mehr.«

Frances Fury lehnt sich auf ihrem großen Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre Körpersprache teilt mir mit, dass das Gespräch beendet ist – sie würgt mich ab. Oh nein …

»Nun, ich werde Ihnen Zeit geben, darüber nachzudenken. Den Dampferfall sind Sie los. Und ich verlängere Ihre Beförderungszeit zum Partner. Wir werden Sie für ein weiteres Jahr beobachten, um zu sehen, wie Sie sich machen, bevor wir Sie als Partner in Betracht ziehen. Sie sind nicht ›draußen‹, Becker. Sie bekommen lediglich eine Auszeit. Lösen Sie Ihr Problem. Falls Sie trinken oder Drogen nehmen, suchen Sie sich Hilfe. Aber bringen Sie um Himmels willen Ihr Leben auf die Reihe.«