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K. Böhm et al. (Hrsg.)Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe https://doi.org/10.1007/978-3-658-30504-8_7

Soziales

Gesundheitsförderung durch Sozialpolitik
Regine Merkt-Kube1  , Tobias Arthur Müller1   und Alexandra Schmider1  
(1)
Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, Stuttgart, Deutschland
 
 
Regine Merkt-Kube (Korrespondenzautor)
 
Tobias Arthur Müller
 
Alexandra Schmider
Schlüsselwörter
Gesundheitliche ChancengleichheitArmutsbekämpfungVernetzung der AkteureQuartiersentwicklung
Regine Merkt-Kube

ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg in Stuttgart im Referat Grundsatz, Prävention, Öffentlicher Gesundheitsdienst. Sie ist u. a. zuständig für den landesweiten Austausch der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen im Landesausschuss für Gesundheitsförderung und Prävention, der die Umsetzung des Präventionsgesetzes in Baden-Württemberg begleitet.

 
Tobias Arthur Müller

Promovierter Gerontologe, arbeitet als Referent für die Strategie „Quartier 2020 – Gemeinsam.Gestalten.“ im Ministerium für Soziales und Integration des Landes Baden-Württemberg.

 
Alexandra Schmider

ist Sozialwissenschaftlerin und Sozialpädagogin und arbeitet als Referentin in der Strategie „Quartier 2020 – Gemeinsam.Gestalten.“ im Ministerium für Soziales und Integration des Landes Baden-Württemberg.

 

1 Beschreibung des Politikfeldes

Das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg gilt mit seinem weit ausgreifenden Zuständigkeitsbereich als das zentrale Gesellschaftsministerium des Landes. Für Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen und von Jung bis Alt sollen die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass alle ihren Platz in der Gemeinschaft finden und sich entfalten können. Viele Menschen brauchen Hilfe bei Krankheit, Bedürftigkeit, in sozialen Notlagen, in ihrer familiären Situation, bei Arbeitslosigkeit, bei Behinderung oder im Falle von Diskriminierung, gleich welcher Art. Jede und jeder soll im Bedarfsfall optimale Strukturen und Hilfsangeboten im sozialen und gesundheitlichen Bereich vorfinden. Neben der Erhaltung und Schaffung von Hilfestrukturen werden auch die Potenziale der Menschen jeglichen Alters in den Blick genommen.

Die Themen des Politikfeldes Soziales sind in Baden-Württemberg breit gefächert – von A wie „Armutsbekämpfung“ bis Z wie „Zusammenhalt der Gesellschaft“. Im folgenden Beitrag geht es vorrangig um die Themen, die Bezüge zum Thema Gesundheit haben und somit einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Gesundheit aller Menschen leisten. Diese sind Pflege sowie alters- und generationengerechte Quartiersentwicklung, Bürgerschaftliches Engagement, Gleichstellung und Schutzkonzepte (Kinderschutz). Dazu zählen auch die Gesundheits- und Pflegeberufe sowie Themen aus dem Bereich der Integration. Folgende Bevölkerungsgruppen stehen im Fokus der Sozialpolitik: Familien, Kinder, Jugendliche, Alleinerziehende, ältere Menschen, Pflegebedürftige und deren Angehörige, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten und in Wohnungsnot.

Mit dem Politikfeld Soziales rückt die Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabechancen aller Menschen und ihr sozialer Lebensraum in den Mittelpunkt. Beispielhaft zu nennen sind die Armutsbekämpfung und Armutsprävention, die Existenzsicherung, die landesgesetzlichen Regelungen zur Stärkung der Pflege, der Erhalt der Selbstständigkeit älterer Menschen im Vor- und Umfeld der Pflege sowie die alters- und generationengerechte Quartiersentwicklung. Für Menschen mit Behinderungen hat Baden-Württemberg einen Landesaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Land erarbeitet. Ziel ist eine inklusive Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen, Rechte und Möglichkeiten zur Teilhabe hat.

Im Aufgabenbereich der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik, des bürgerschaftlichen Engagements und der Gleichstellung sind Themen wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Familienbildung, die Jugendbeteiligung, die Schulsozialarbeit, die Umsetzung der Kinderrechte, die Verbesserung des Kinderschutzes und die Umsetzung der Charta der Vielfalt zu nennen. Bei der Integration von Menschen mit Fluchterfahrung und Migrationshintergrund liegt ein zentrales Ziel in der Integration durch Sprache und Teilhabe sowie in der Integration in Arbeit. Themen wie Gesundheitskompetenz von Migrantinnen und Migranten werden im Aufgabenbereich Gesundheitsförderung und Prävention mitberücksichtigt.

2 Zentrale Akteure und Politikebenen

Zentrale Politikebenen sind die Landespolitik und die kommunale Ebene mit den Stadt- und Landkreisen sowie den Städten und Gemeinden.

Zentrale Akteure des Politikfeldes Soziales im Ministerium für Soziales und Integration des Landes Baden-Württemberg sind unter anderem
  • die Träger der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege und ihre Dachverbände,

  • die Stadt- und Landkreise, die kreisangehörigen Städte und Gemeinden,

  • der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg,

  • die Religionsgemeinschaften,

  • Vertretungen aus der Wissenschaft,

  • die Berufsverbände der Gesundheits- und Pflegeberufe,

  • die Interessenvertretungen und die Selbsthilfe der Betroffenen und ihrer Angehörigen,

  • das Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement.

Einige Akteure verfügen aufgrund der Schnittstellen zu den Gesundheitsthemen bereits über gesundheitsbezogenes Wissen und Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem. Die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention für die Gesunderhaltung der Bevölkerung wird als individuelle Aufgabe (Verhaltensprävention) gesehen. Das Verständnis für das Konzept Health in All Policies ist noch nicht (ausreichend) vorhanden, obwohl Baden-Württemberg die Förderung der Gesundheit der Bevölkerung als zentrale Aufgabenstellung erkannt hat. Hierfür ist die Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten ein wesentlicher Bestandteil. Denn viele Faktoren, die Einfluss auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung haben, sind gestaltbar. Im Gesundheitsleitbild Baden-Württemberg sind Gesundheitsförderung und Prävention als eines von drei Handlungsfeldern für die Gesundheitspolitik verankert.

In Baden-Württemberg werden unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit mit den Akteuren des Gesundheitswesens umgesetzt. Ab 2016 wurde mit dem Gesetz zur Stärkung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit und der Vernetzung aller Beteiligten des Gesundheitswesens in Baden-Württemberg (Landesgesundheitsgesetz – LGG) die Landesgesundheitskonferenz als eine Plattform für den Austausch etabliert. Diese findet jährlich statt und umfasst einen öffentlichen und nichtöffentlichen Teil. Im LGG (Land Baden-Württemberg 2015b) wurde zudem der Gesundheitsdialog und die Beteiligung der Menschen im Land, darunter Patientinnen und Patienten sowie Expertinnen und Experten an der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens geregelt. Der Gesundheitsdialog umfasst Fach- und Bürgerdialoge. In diese Dialogprozesse sind auch zahlreiche Akteure aus dem Sozial- und Pflegebereich, aus Verbänden sowie aus dem bürgerschaftlichen Engagement und der Selbsthilfe einbezogen. Eine weitere Möglichkeit der Zusammenarbeit besteht in den Kommunalen Gesundheitskonferenzen in den Stadt- und Landkreisen, die mit dem LGG gesetzlich geregelt wurden. Hier werden viele Themen der Daseinsvorsorge im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenwirkens gemeinsam und bereichsübergreifend beraten, koordiniert und vernetzt.

In anderen Politikfeldern sind die Akteure aus dem Gesundheitswesen ebenfalls einbezogen. Sie sind Partner der Strategie „Quartier 2020 – Gemeinsam.Gestalten.“ (siehe Beitrag von Schmider und Müller in diesem Band) auf Landesebene sowie in den lokalen Quartiersprojekten.

Durch das Landespflegestrukturgesetz LPSG (Land Baden-Württemberg 2018) wurde ein gesetzlicher Rahmen für eine quartiersnahe, leistungsfähige, ausreichende und wirtschaftliche Pflege- und Unterstützungsstruktur geschaffen. Damit soll für die Betroffenen sichergestellt werden, dass sie unabhängig von der Art des Pflege- und Unterstützungsbedarfs möglichst lange im gewohnten Umfeld ihres Quartiers verbleiben können. So werden modellhaft Kommunale Pflegekonferenzen eingerichtet und durchgeführt, um dadurch umfassende und sozialräumliche Pflege- und Unterstützungsstrukturen zu schaffen.

3 Gesundheit im Politikfeld Soziales

Gesundheitsförderung und Prävention werden in Baden-Württemberg in einem umfassenden Sinn verstanden und kommuniziert. So beschreibt das Gesundheitsleitbild Baden-Württemberg (Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, frauen und Senioren Baden-Württemberg 2014, S. 4) einleitend die Gesundheit als Zustand eines umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens sowie wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens. Das Gesundheitsleitbild wurde unter Beteiligung zahlreicher Akteure aus unterschiedlichen Politikfeldern sowie der Bevölkerung Baden-Württembergs in einem mehrstufigen Beteiligungsprozess entwickelt.

Ein zentrales Thema der baden-württembergischen Gesundheitspolitik ist die Frage, wie die gesundheitliche Versorgung einer älter werdenden Gesellschaft in Zukunft gestaltet werden kann. Dabei geht es vorrangig um Themen der sektorenübergreifenden Versorgung in den Stadt- und Landkreisen (Modellprojekte zur sektorenübergreifenden und ambulanten Versorgung). Eine gesundheitsförderliche Gestaltung der Lebenswelten (Schule, Kindertageseinrichtung, Arbeitswelt, Wohnumfeld) wird von integrierten kommunalen Strategien der Gesundheitsförderung und Prävention unter Beteiligung der regionalen Akteure vorangebracht (vgl. Land-Baden-Württemberg 2015a, § 7 Gesundheitsförderung und Prävention in den Lebenswelten). Auch in anderen Politikfeldern wie der Armutsprävention wird die gesundheitsförderliche Gestaltung von Lebensverhältnissen unterstützt (vgl. Beitrag von Weber-Schmalzl und Exner zu den Präventionsnetzwerken „Gegen Kinderarmut und für Kindergesundheit“ in Baden-Württemberg in diesem Band).

Ansatzpunkte für die Gesundheit im Rahmen der Quartiersentwicklung sind auf zwei Ebenen möglich: Zum einen mit der Aufgabe, die Pflege bzw. die Versorgung von Hilfe- und Unterstützungsbedürftigen zu sichern, indem bspw. alternative Wohnformen oder Ehrenamtsstrukturen gefördert werden. Zum anderen versteht sich Quartiersentwicklung auch immer im Sinne des aus den Gesundheitswissenschaften bekannten Leitsatzes, dass Verhältnisprävention vor Verhaltensprävention geht.

Zentraler Bestandteil der Förderprogramme im Bereich Quartiersentwicklung ist die Berücksichtigung von Menschen mit Pflegebedarf. Im Grunde spielt der Gesundheitsaspekt im gesamten Bereich der Quartiersentwicklung eine zentrale Rolle und zeigt sich auf verschiedene Art und Weise. So ist beispielsweise die funktionale Gesundheit selbstverständlich ein entscheidendes Kriterium für die Gestaltung des Quartiers. Mit Blick auf die möglicherweise eingeschränkte funktionale Gesundheit werden Begegnungsorte und Wohnräume barrierefrei oder -arm gestaltet und entsprechende Mobilitätsangebote im Quartier entwickelt. Die subjektive Gesundheit wiederum, also die Antwort auf die Frage, wie gesund sich eine Person eigentlich fühlt, hängt eng mit dem Wohlbefinden und der sozialen Eingebundenheit zusammen. Diese zwei Aspekte sind für die Entwicklung von Quartieren besonders relevant.

4 Herausforderungen und Chancen in der Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten

Hindernisse werden insbesondere in den fachspezifischen Herangehensweisen an die Themen gesehen. Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren fällt dadurch manchmal schwieriger aus, weil diese von unterschiedlichen Vorannahmen, Grundkenntnissen, Prämissen und auch Fachtermini ausgehen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch der höhere Verwaltungsaufwand, der durch den Abstimmungsbedarf bei referats- bzw. ressortübergreifenden Themen entsteht. Ein Beispiel für eine fachspezifische Herangehensweise ist die Sozialplanung, die andere Themenbereiche noch nicht im Sinne einer integrierten Sozial- und Gesundheitsplanung vollumfänglich einbezieht.

Ziel der Sozialpolitik ist es, gleichwertige Lebensverhältnisse für alle Menschen zu schaffen. Daseinsvorsorge ist daher auch eine staatliche Aufgabe. Die Berücksichtigung von Gesundheit ermöglicht einen umfassenderen Blick auf mögliche Wechselwirkungen in bislang getrennten Themenfeldern. Zudem sind seelisches und körperliches Wohlbefinden für die Bewältigung der Anforderungen des Alltags bei vulnerablen Gruppen wichtig.

Soziale Eingebundenheit zu ermöglichen, ist ein zentrales Ziel der Quartiersentwicklung. Die Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten ermöglicht es, den weichen Faktor des gesteigerten Wohlbefindens um den harten Faktor des gesundheitlichen und präventiven Nutzens zu ergänzen. Das erhöht letztlich die Akzeptanz bzw. Veränderungsbereitschaft der Akteure vor Ort.

Dies gilt auch für andere Bereiche der Sozialpolitik wie beispielsweise die Armutsbekämpfung und die gesundheitliche Situation von Menschen mit Behinderungen, mit psychischen Erkrankungen und oder mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Die Berücksichtigung von Gesundheit (besser gesundheitsförderlichen Aspekten) bei den sozialpolitischen Themen kann deshalb einen Zugewinn an Lebensqualität für die Menschen beinhalten. Soziale Chancengleichheit für sogenannte vulnerable Personengruppen bedeutet auch bessere Chancen, gesund aufzuwachsen und zu leben.

Besonders gut gelingt die praktische Umsetzung in kleineren Gemeinden, bei denen noch alle Themen der Daseinsvorsorge aus einer Hand z. B. durch den jeweiligen Bürgermeister oder die jeweilige Bürgermeisterin vorangebracht werden. Die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen haben in Baden-Württemberg eine besonders starke Stellung, weil die Gemeindeordnung ihnen gleichzeitig die Funktionen des Vorsitzes für den Gemeinderat und die Leitung der Gemeindeverwaltung zuschreibt. Hinzu kommt deren Amtszeit von insgesamt acht Jahren. Sie nehmen deshalb auch bei weichen Themen eine wichtige Schlüsselfunktion ein.

Größere Städte wie beispielsweise Stuttgart oder Mannheim haben oft eigene Fachgruppen für planerische Aufgaben. Sie können daher in der Regel auf eine fundierte Fachplanung für unterschiedliche Zielgruppen zurückgreifen oder haben bereits eine integrierte Sozial- und Gesundheitsberichterstattung aufgebaut. Durch kleinräumige – zum Beispiel stadtteil- oder sozialraumbezogene – Analysen haben sie eigene Herangehensweisen entwickelt.

Bei Förderprogrammen oder Förderaufrufen sollten im Sinne einer gemeinsamen Strategie die Auswirkungen auf und für die Gesundheit der Bevölkerung mitberücksichtigt werden. Gerade im Zusammenhang mit der Quartiersentwicklung sollte auch bei den Akteuren das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass viele Maßnahmen einen mittelbaren Einfluss auf die Gesundheit haben. Genannt werden können beispielhaft die Steigerung sozialer Eingebundenheit und die Mobilität.

Dabei bewegt sich die Planung von Unterstützungsangeboten immer in einem Spannungsfeld zwischen fachlich qualifizierter Expertise und Wohnortnähe. Nicht jedes Angebot kann in jedem Quartier vorgehalten werden. Deshalb sind Konzepte zu entwickeln, bei denen die Angebote zwar so wohnortnah wie möglich geplant, aber zum Teil auch überregional organisiert werden müssen. Dennoch läuft vieles im Quartier, im Sozialraum oder in den Nachbarschaften zusammen. Ob Leben im Alter, mit Behinderung, mit psychischer Erkrankung oder auch in der Kinder- und Jugendhilfe – im Quartier gibt es viele Anknüpfungspunkte für gesunde Lebensverhältnisse.

Mit dem Blick auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung gelingt es in verschiedenen Bereichen der Sozialpolitik, Ansatzpunkte für die Gesundheitsförderung und Prävention zu finden. Die Orientierung an einem Gesundheitsleitbild ist damit, wie das Beispiel Baden-Württemberg seit 2014 zeigt, eine gute Möglichkeit, um den Health in All Policies-Gedanken praktisch zu verankern.