Kapitel 12

Ich habe alles falsch gemacht

Marius

 

„Warum sagst du nichts?“

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, seit ich Lorenz in das düstere Geheimnis meiner Familie eingeweiht habe. Mein Mund ist staubtrocken und als ich mich endlich traue, meinen Kopf zu heben und Lolo anzuschauen, verrät seine Mimik … nein, nicht die erwartete Abscheu, sondern absolute Fassungslosigkeit. Tatsächlich braucht er dann noch einige Augenblicke, um zu sprechen. Auch hier überrascht er mich damit, dass er nicht das sagt, wovon ich ausgegangen bin.

„Und du warst all die Jahre alleine damit? Musstest alleine da durch? Hattest niemanden, zu dem du gehen konntest, wenn es so richtig schlimm wurde? Das ist … wow … das zeugt von verdammt großer Stärke, Marius. Ich hätte das nicht gekonnt.“

Eigentlich habe ich damit gerechnet, nein, befürchtet, dass Lorenz die seltsame Alkoholsucht meines Vaters priorisieren würde, seine Abscheu hierüber kundtun würde. Stattdessen sagt er, ich sei stark.

„Bis zum Tod meiner Großmutter war sie ja für mich da“, wiegele ich das meiner Meinung nach unverdiente Lob ab, „und ich glaube nicht, dass es etwas mit Stärke zu tun hat. Eigentlich war und bin ich nur zu feige und habe mich geschämt für das, was mein Vater tut.“

„Aber Marius!“ Lorenz greift nach meinen Händen und hält sie fest. Das Gefühl … Gott, ich kann es nicht beschreiben. Es tut so gut. „Ich bin weder Mediziner noch Psychologe, aber dein Vater ist mit Sicherheit kein Wald und Wiesen-Säufer. Für mich klingt das, was du erzählt hast, wie etwas, das seinen Ursprung mit Sicherheit in dem hat, was an deinem dritten Geburtstag passiert ist. Aber da steckt mehr dahinter. Irgendetwas, das ihn Jahr für Jahr dazu zwingt, sich mit Alkohol zu betäuben.“

„Ich habe ihn schon so oft gebeten, zu einem Therapeuten zu gehen, aber er lehnt immer ab. Ich weiß nicht mal, ob er noch immer an meiner Mutter hängt und ihr nachtrauert, was ich mir nicht vorstellen kann, weil er ja das restliche Jahr über keinerlei Anzeichen diesbezüglich zeigt.“

„Vielleicht bringt der Unfall ihn dazu, seine Meinung zu ändern. Womöglich nutzt er die Chance, dir endlich zu verraten, warum er das tut.“

Ja, vielleicht. Wir schweigen und ich stelle fest, dass Lolo noch immer meine Hände in seinen hält. Ich traue mich kaum zu atmen, aus Furcht, ich könne mich bewegen und unbeabsichtigt signalisieren, dass er mich loslassen soll. Denn das will ich nicht. Es gefällt mir. Sehr.

„Wann ist dein Geburtstag?“

„Heute.“

„Was?“ Lorenz springt unvermittelt auf. Leider lässt er mich los und ich habe verrückterweise das Gefühl, den letzten Halt zu verlieren. „Warum hast du nichts gesagt?“

„Wozu? Wolltest du mir etwas schenken?“ Ich weiß, dass Lolo meinen Zynismus nicht verdient hat, aber ich fühle mich nach all dem, was passiert ist, nackt und hilflos. Und jetzt habe ich auch noch den einzigen Menschen vergrault, der mein Freund sein wollte. Schöne Scheiße!

„Wer weiß.“

Ich sollte allmählich nicht mehr überrascht sein, da Lorenz generell anders reagiert, als ich es erwarte. Trotzdem bin ich es.

„Wir könnten heute irgendwo nett essen gehen. Pizza oder so.“

Lorenz’ Wangen färben sich rosa. Er sieht hübsch aus. „Du lädst mich zum Essen ein?“

„Na ja“, druckst er herum, „wenn es dir nichts ausmacht, mit einer Schwu...“

Nun bin ich es, der aufspringt. „Sag! Es! Nicht! Sprich das Wort nicht aus!“, fauche ich ihn an und er weicht einen Schritt vor mir zurück. Wie oft muss ich es ihm denn noch sagen? Ist er so tief verletzt, dass er mir nicht glauben kann , selbst wenn er es will ? Denkt er wirklich, ich könnte ihm wehtun? Ihn verletzen? Herrje, wenn er wüsste, dass er die einzige Person ist, der ich nie im Leben etwas antun könnte.

„Marius Holle?“

Eine Schwester steckt ihren Kopf zur Tür herein und unterbricht unser Gespräch, das eine Wendung genommen hat, die ich nicht vorhergesehen habe. „Ja?“

„Ihr Vater ist jetzt auf Station. Er ist wach und möchte Sie gerne sehen.“

Ich schlucke. Eigentlich sollte es mir genügen zu wissen, dass er die OP einigermaßen gut überstanden hat. Aber … will ich ihn sehen? Mit ihm reden?

Lorenz gibt mir mit der Schulter einen Stups. „Geh schon! Wir reden später weiter. Ich werde hier auf dich warten.“

„Du … willst warten? Auf mich?“

Lorenz grinst mich an. „Siehst du hier sonst noch jemanden, auf den ich warten könnte?“

Ich drehe mich zu der wartenden Schwester um, die Lorenz’ Grinsen zu spiegeln scheint, dann jedoch so tut, als ginge sie das, was da gerade zwischen uns passiert, nichts an. Was es ja auch tut. Ich brauche nur eine Sekunde, um mich zu entscheiden.

„Vorschlag: Du gehst nach Hause, da ich nicht weiß, wie lange das hier dauern wird.“

„Aber ...“

„Nichts aber“, widerspreche ich mit neu gewonnener Leichtigkeit, von der ich nicht wirklich weiß, woher die so plötzlich kommt. „Du gehst heim und ich hole dich heute Abend ab. Ist 18 Uhr okay?“

„Ist … ja, aber ...“

„Prima, ich kümmere mich um einen Tisch.“

„Ja, aber ...“

„Keine Widerrede! Ich bin das Geburtstagskind, schon vergessen?“

„Nein, aber ...“

„Deshalb darf ich das Lokal aussuchen und dich einladen.“

Lorenz gibt sich geschlagen. „Okay, ich … freu mich und ich werde fertig sein.“

Mein Herz schlägt einen Purzelbaum und für die Unendlichkeit eines Wimpernschlags grinsen wir uns dämlich an. Dann unterbricht uns ein Räuspern. Ach ja, die Schwester wartet. Und schlagartig verwandelt sich mein Hochgefühl in dumpfe Bauchschmerzen.

„Darf ich?“

„Was?“ Beinahe erschrecke ich, als Lorenz so dicht vor mir steht und mich fragend ansieht.

„Dich umarmen?“, fragt er kaum hörbar.

„Du willst mich umarmen?“ Ich bin sicher, dass ich gleich Schnappatmung bekomme und ohnmächtig werde, doch ich nicke. Ich kann mich nicht mal erinnern, wann mich das letzte Mal jemand umarmt hat, und dann auch noch Lorenz?! Trotzdem schaffe ich es, zu nicken und sinke im nächsten Augenblick an seine Brust. Gott, wie gut er riecht. Und wie verdammt schön es ist, nicht den starken Mann markieren zu müssen. „Danke!“, hauche ich.

„Immer“, flüstert er zurück. „Dafür sind Freunde da“, versetzt er meinen rosaroten Gefühlen einen Dämpfer.

„Ja … Freunde“, murmele ich und löse mich widerwillig aus der Umarmung. Aber hey, wenn das alles ist, was ich von Lorenz Himmel je bekomme, werde ich damit zufrieden sein. Es ist mehr, als ich noch vor wenigen Wochen je zu hoffen gewagt habe.

Ich drehe mich um und folge der Schwester, ohne mich noch einmal umzusehen; denn wenn ich es täte, würde ich wie ein Baby zurück in Lolos Arme flüchten.

 

*-*-*

 

Schwester Lillie, wie ich inzwischen auf ihrem Namensschildchen lesen konnte, öffnet die Tür zu Zimmer 317 und schiebt mich, als ich wie festgewachsen stehen bleibe, einfach hinein. Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Logisch eine Menge Kabel, piepsende Gerätschaften, Gips und Verbände. Was ich nicht erwartet habe, ist die Person, die mich – trotz Operation – mit wachen Augen ansieht. Scheinbar vollkommen nüchtern. Keine Ahnung, ob die Narkose und die verabreichten Medikamente den Alkohol aus seinem Körper gespült haben, oder ob er, als der Unfall passierte, noch nicht den nötigen Pegel erreicht hatte. Tatsache ist, dass nicht das versoffene Subjekt im Krankenbett liegt, das zu sehen ich erwartet habe.

Ich stehe noch immer stocksteif an der Tür, doch ich erkenne auch aus dieser Entfernung, dass die eben noch hoffnungsvolle Miene meines Vaters zusammenfällt. Er schließt seine Augen, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengekniffen und … oh Scheiße, er weint.

„Papa!“

Mit zwei Schritten bin ich am Bett und greife nach seiner Hand, was ihn zusammenzucken lässt. Mist, ich habe wohl die Seite mit der ausgekugelten und wieder eingerenkten Schulter erwischt. Schon will ich loslassen, als er mich ungeahnt kräftig festhält. „Nein, nicht, bitte … lass mich deine Hand halten!“, bittet er. „Es … ich bin bereit, mit dir zu reden. Mit dir und … einem Psychologen.“

Mit stockt der Atem.

„Ich habe viel zu lange gewartet, Marius, und es tut mir unendlich leid, was ich dir damit zugemutet und … welchen Schmerz ich dir zugefügt habe.“

Papas Stimme ist leise, aber fest.

„Wirst … wirst du mir zuhören?“

Ob ich ihm zuhören werde? Ja, verdammt. Ich will endlich wissen, was hinter dieser unaussprechlichen Quartalssauferei steckt. Also nicke ich, sehe mich um und ziehe einen Stuhl heran. Hierzu muss ich Papa loslassen. Doch sobald ich sitze, greift er wieder nach meiner Hand und ich lasse es zu, dass er – wenn auch unsicher – mit seinem Daumen über meinen Handrücken reibt. Fast hätte ich gelacht. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir so oft die Hand gestreichelt wurde oder ich, wie vor nicht mal fünf Minuten, in den Arm genommen wurde. Oh, und Lolos Mutter hat mich vorhin auch umarmt. Das alleine ist schon Geburtstagsgeschenk genug für mich. Dass Lolo heute Abend mit mir essen gehen wird, ist aber das allerallergrößte Geburtstagsgeschenk überhaupt.

Mein Vater betrachtet mich aufmerksam, als ob er abschätzen will, ob ich bereit bin für was immer er mir erzählen will. Doch ehe er damit anfängt, stelle ich die Frage, die mich die letzten Jahre über am meisten beschäftigt hat. „Liebst du sie noch immer so sehr, dass du dir … uns … das antun musst?“

Die Überraschung, die meine Frage bei ihm auslöst, lässt ihn schnaubend auflachen, ehe er mit schmerzvoller Miene zusammenzuckt. „Lieben? Diese Schl... Frau?“

Oh, da hat er gerade noch so die Kurve gekriegt, obwohl ich Schlampe durchaus für angemessen halte. Denke ich.

Vater schüttelt den Kopf, was ihm sichtlich erneut Schmerzen bereitet.

„Ich sollte nach der Schwester klingeln“, schlage ich vor. „Du hast Schmerzen und ...“

„Nein, ich muss bei klarem Verstand mit dir reden, Marius. Du hast es verdient, zu erfahren, weshalb ich … jedes Jahr so jämmerlich … versage.“

Ich schweige. Was soll ich auch sagen?

„Um die Frage an dich zurückzugeben: Liebst du deine Mutter noch? Denkst du oft an sie?“

„Nein!“ Hierüber muss ich nicht mal eine Sekunde nachdenken. „Zu beiden Fragen. Ich liebe sie nicht und ich denke nicht an sie. Ich kann mich ja nicht mal an sie erinnern.“ Diesmal bin ich es, der schnaubt. „Ich weiß nicht mal, ob sie mich geliebt hat? Ob und was sie mit mir unternommen hat. War sie so, wie es eine Mutter sein sollte? Hat sie sich um mich gekümmert? Mit mir gespielt? Mir abends eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Mich in den Arm genommen?“ Noch ein anderer furchtbarer Gedanke überfällt mich regelrecht, der angesichts seiner Frage durchaus Sinn ergibt: Ist Papa in all den Jahren keine neue Beziehung eingegangen, weil er dachte, ich trauere meiner Mutter nach? Hat er sich deshalb dazu entschieden, mir keine neue Mama zu präsentieren, weil er dachte, das könnte meine kleine geschundene Kinderseele verletzen?

Oh Scheiße? Jetzt kommen mir doch glatt die Tränen. Das wollte ich ganz gewiss nicht.

Vaters Gesicht verzieht sich einmal mehr, doch diesmal sind es keine körperlichen Schmerzen, sondern seelische, möchte ich behaupten. „Nein, mein Sohn, eine solche Mutter war sie nie“, kommt er auf seine Frage und meine Antworten zurück. „Es … es tut mir leid, aber vielleicht liegt darin der Grund, dass du dich nicht an sie erinnerst.“

Obwohl ich mir sowas schon gedacht habe, tut es dennoch weh. „Also warst du derjenige, der sich um mich gekümmert hat?“, frage ich leise nach.

„Ja, das war ich.“

Seine Worte zupfen irgendwo an meinen tief vergrabenen Erinnerungen frühester Kindheit. Und ja, plötzlich tauchen verschwommene Erlebnisse auf. Wie mein Vater mich auf dem Arm durch den Garten trug, um mir die Schönheit der Blüten am Apfelbaum zu zeigen, wie er mich an den Rosen schnuppern ließ, mir eine Pusteblume in die Hand drückte und mir zeigte, was ich tun musste, um die filigranen Schirmchen zum Fliegen zu bringen. Mein Vater, wie er mich zu Bett brachte und mir ...

„Pinocchio“, sage ich wie aus dem Kontext gerissen und doch weiß er genau, woran ich denke.

„Ja, das habe ich dir immer vorgelesen.“

Am liebsten möchte ich jetzt heulen. „Was passiert da jedes Jahr?“, quetsche ich hervor.

Vater holt tief Luft. „Ich versuche immer, sie dazu zu bewegen, dich an deinem Geburtstag anzurufen oder dir wenigstens eine Karte zu schreiben“, bringt er schließlich hervor und mir bleibt beinahe das Herz stehen, als ich begreife, was das bedeutet.

„Du weißt, wo sie lebt?“ Doch hoffentlich nicht in unserer Nähe.

„Ja, das weiß ich.“ Plötzlich zögert er. „Würdest … willst du sie … sehen?“

„Um Gottes willen, nein!“ Auch hierüber muss ich nicht groß nachdenken. Dafür schießt mir aber mit plötzlicher Klarheit in den Kopf, was der wahre Grund ist für das Verhalten meines Vaters. „Du … gibst dir doch nicht etwa die Schuld dafür, dass sie mich nicht sehen will? Dass sie entschieden hat, zu vergessen, dass sie einen Sohn hat?“

Sein Schweigen ist Antwort genug; ich kann es nicht fassen. Ich will schon etwas sagen, als er es tut.

„Ich fühle mich als Versager, weil es mir nicht gelingt, deine Mutter zu überreden, ihrem … meinem Sohn seinen Wunsch zu erfüllen.“ Er klingt so gebrochen, wie ich mich fühle. Aber …

„Meinen Wunsch?“ Ich lache, doch es ist kein fröhliches Lachen. „Warum, in aller Welt, sollte ich mir so etwas Absurdes wünschen?“

„Du lügst!“, stößt er hervor. „Ich sehe doch, wie du dich veränderst, in den Tagen vor deinem Geburtstag.“

Herrgott nochmal! Das kann doch wohl nicht wahr sein. „Ja, aber das tue ich doch nur, weil ich weiß, dass aus dem Mann, den ich bewundere, für zwei Wochen ein Säufer wird, der sich nicht unter Kontrolle hat.“ Jetzt muss ich heulen. „Ein Mann, für den ich mich schäme. Ein Mann, den ich fünfzig Wochen im Jahr liebe und zwei Wochen inbrünstig hasse für das, was er mir antut.“

Mein Vater sieht mich an, als könne er nicht begreifen, was ich ihm gerade gesagt habe. Wahrscheinlich ist es auch so und er muss das alles erst verarbeiten.

„Das habe ich nicht gewusst“, flüstert er und ich kann erkennen, dass die Schmerzen schlimmer werden. Wir müssen das Gespräch jetzt beenden. Wenn er, wie versprochen, darüber nachdenkt, sich tatsächlich Hilfe zu holen, können wir später ausführlich darüber reden. Jetzt braucht er Ruhe, um wieder auf die Beine zu kommen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Genau das sage ich ihm auch, worauf er dankbar nickt. Gleichzeitig blitzt ein Anflug von Angst in seinem Gesicht auf. „Du kommst doch wieder, oder?“

Ich drücke seine Hand, vorsichtig. „Ja, ich komme morgen wieder.“

„Versprochen?“

„Versprochen!“

Vaters Augen fallen zu, er schläft sicher gleich ein. Dann öffnet er sie noch einmal. „Marius?“

„Ja, Papa?“

„Ich hab dich lieb.“

Ein dicker Kloß sitzt in meiner Kehle, doch ich schaffe es, zu sagen: „Ich dich auch, Papa.“

Ein glückliches Lächeln huscht über sein bleiches Gesicht und ich kann nicht anders, als mich zu ihm hinab zu beugen und ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann löse ich meine Hand aus der seinen und gehe zur Tür.

„Marius?“

Ich drehe mich um, dachte eigentlich, er sei eingeschlafen. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Sohn.“

Mit einem ehrlichen Lächeln nicke ich ihm zu und verlasse das Krankenzimmer. Vielleicht wird jetzt endlich alles gut.