Ich bin ganz bewusst in die Ordensgemeinschaft der Weißen Schwestern eingetreten, weil ja in den Konstitutionen dieses Ordens festgeschrieben war, dass alle Schwestern nach Afrika gehen müssen. Das war mir eine große Beruhigung. Es konnte mir nicht gesagt werden: »Jetzt haben wir eine wichtige Aufgabe in Deutschland für dich und du musst hierbleiben!«
Meine Entscheidung war schon vor dem Eintritt gefallen. Auf jeden Fall wollte ich nicht in Deutschland und Europa bleiben. Ich wollte raus. Und Afrika war mir weit genug entfernt und fremd genug.
Meine erste Stelle trat ich 1967 in Ruanda* an, in Zentralafrika, früher, in der Kolonialzeit, ein Teil von Deutsch-Ostafrika. Ich blieb dort fünf Jahre lang. Im ersten Jahr habe ich Kinyarwanda, die einheimische Sprache, gelernt. 1972 bin ich zum ersten Mal nach Deutschland zurückgekehrt.
Zuerst war ich Lehrerin an der Internats-Mittelschule für Mädchen und am angeschlossenen Lehrerinnen-Seminar, einem Ausbildungszentrum in Nyanza. 1970 wurde ich Direktorin beider Einrichtungen. Unsere zukünftigen Lehrerinnen besuchten zuerst drei Jahre lang die Mittelschule. Dann gingen sie für zwei Jahre in das Lehrerinnen-Seminar. Sie waren fast so »alt« wie die Schülerinnen, die sie nachher unterrichten mussten. Ich stellte fest, dass unsere angehenden Lehrerinnen im Internat noch nicht so viel Lebenserfahrung hatten wie ihre zukünftigen Schülerinnen, die »draußen« lebten. Das konnte so nicht weitergehen, dachte ich mir. Deswegen habe ich dann die Ausbildungszeit der Lehrerinnen um zwei Jahre durch eine Art höhere Schule verlängert und dadurch auch den Weg für ein anschließendes Universitätsstudium ebnen helfen können.
Mir hat meine Arbeit in Ruanda sehr gut gefallen. Ich konnte einige Neuerungen einführen. Und ich war in einem dichten Gesprächskontakt mit den Schülerinnen.
Zum Beispiel sind wir samstags mit den ältesten Schülerinnen immer raus in die Umgebung. Wir besuchten die Leute und konnten dadurch erfahren, welche Sorgen sie hatten, was ihnen fehlte zu einem guten Leben und wie wir ihnen wirksam helfen können. Wir haben Feuerholz gesammelt für alte Menschen. Wir haben einer alten Frau ein Haus aus Lehm gebaut. Wir haben gezeigt, wie man in einer Feuerstelle im Boden Brot backen kann. Oder wir haben in der Schule mit den älteren Schülerinnen gekocht und gegessen. Auf diese Weise lernten die Schülerinnen, später einen modernen Haushalt zu führen. In dieser Zeit haben wir die Schule auch räumlich erweitert. Beim Bau haben die Schülerinnen und ich die Steine herangetragen.
Eines Tages saßen wir in einer Lehrerkonferenz. 18 Lehrerinnen und Lehrer, zum Teil Studienräte und Studienrätinnen aus Belgien, aber auch afrikanische, arbeiteten an der Schule. Ein afrikanischer Lehrer sagte auf dieser Konferenz, dass er gerne die Unterrichtstunden nach mir haben möchte, damit er nach meinem Unterricht den Schülerinnen den Kopf wieder zurechtrücken könne. Ich habe ihm knapp geantwortet: »Ich bin hier die Direktorin und ich sage Ihnen, wann Sie Ihre Unterrichtsstunden haben. Ganz gewiss nicht nach mir!«
Zuerst habe ich gar nicht bemerkt, dass ich dadurch einen Beitrag zur Gleichberechtigung von Frauen gegenüber den Männern geleistet habe. Mir ist das erst später bewusst geworden. Am Anfang habe ich das Elend der Frauen auch außerhalb der Schule gar nicht gesehen. Das ist für mich heute noch unbegreiflich: Ich habe die Leute besucht, bin in Familien gewesen, habe die Not gesehen; einer Frau haben wir sogar ein Haus gebaut, ich habe aber das eigentliche, geschlechtsspezifische Problem nicht mitbekommen!
Ich habe mich in diesen Jahren in Ruanda sehr engagiert. Es war für mich eine sehr, sehr interessante Zeit mit den Schülerinnen dort.
Ursprünglich war nicht vorgesehen, dass ich je wieder nach Europa zurückkehren würde. Von der Ordensgemeinschaft her war ausgemacht: Wenn wir nach Afrika gehen, dann ist das ein Abschied fürs Leben. Aber es kam dann doch anders.
Wir hatten an unserer Schule keine Bibliothek, Bücher fehlten uns. Ich bat darum, dass ich wenigstens mal in den Ferien nach Europa fahren konnte, um Bücher und andere Sachen für die Schule zu beschaffen. Das wurde mir gestattet. Aber ich sollte dann auch eine Fortbildung machen.
Ich kam also zurück auf meinen Heimatkontinent, in mein Heimatland.
Mein Empfinden ist, dass die Afrikaner und die Afrikanerinnen tief religiöse Menschen sind. Sie haben ein unzerstörbares Gottvertrauen. Auch wenn es ihnen sehr schlecht geht, verlieren sie dieses Vertrauen nicht. Das ist anders als bei uns in Europa.
Ich erinnere mich an eine Frau in Ruanda, der es wirklich sehr schlecht ging, die arm war, kaum was zum Überleben hatte. Wir haben sie besucht und ihr geholfen, so gut wir es vermochten. Es war nicht viel. Sie aber sagte zu mir: »Es ist wunderbar! Ich habe immer darauf gewartet, dass mir geholfen wird. Jetzt geschieht es. Gott hat mich nicht im Stich gelassen.«
Der Tod hat für die Menschen in Afrika keinen solchen Schrecken wie bei uns in Europa. Sie gehen ganz anders mit ihm um. Er ist in meiner Erinnerung geblieben: Der Mann, der krank zu uns Schwestern kam, irgendetwas holen wollte und sagte, dass er noch am selben Abend sterben werde. Er ist noch an diesem Abend gestorben. Die Menschen in Afrika haben ein feines Gespür für das Nahen des Todes.
Ich zitiere aus dem Kopf eine Strophe aus einem Gedicht von Birago Diop*:
»Die Toten sind nicht tot«
Erlausche nur geschwind
Die Wesen in den Dingen.
Hör’ sie im Feuer singen,
Hör’ sie im Wasser mahnen
Und lausche in den Wind:
Der Seufzer im Gebüsch,
Das ist der Hauch der Ahnen.
Das finde ich ganz wunderbar. Die Afrikaner geben uns zu verstehen: Die Toten wissen noch um uns.
Die Menschen auf dem Schwarzen Kontinent, von denen wir oft nur schlimme Nachrichten kennen, haben ganz tiefe religiöse Gefühle, Ahnungen, Empfindungen, die es bei uns in Europa nicht mehr gibt, die überlagert sind zum Beispiel von der technischen, von der kommunikationstechnischen Entwicklung. Eine Entwicklungshilfe, die darauf abzielt, »Aufklärung« zu betreiben, war und ist ein schwerwiegender Irrtum. Lange Phasen der christlichen Missionierungsversuche in Afrika waren es auch.
In meiner Doktorarbeit von 1977, die den Titel »Erziehung und Bildung in Rwanda – Probleme und Möglichkeiten eines eigenständigen Weges« trägt, schrieb ich:
Die Globalisierung im amerikanischen und europäischen Sinne versucht vieles gleichzumachen was nicht gleichzumachen ist. Die Politik der tabula rasa, des »reinen Tisches«, die den Afrikanern ihr Wissen und ihre Kenntnisse nahm, ohne sie in relativ kurzer Zeit mit neuen Erfahrungen vertraut machen zu können, hatte im Letzten ihre Ursache im abendländischen Überlegenheitsbewusstsein über die gesamte übrige Welt wie auch im abendländischen Intellektualismus.
Was wir in Europa brauchen: ein genaues Hinsehen, ein genaues und geduldiges Hinhören. Nicht sofort Urteile fällen! Nicht sofort Lösungen parat haben! Nicht schon alles wissen! Nicht alles sofort bewerten!
Viele Erfahrungen, die ich in Afrika schon vor so langer Zeit gemacht habe, sind mir heute noch ganz präsent. Sie haben sich tief in mich eingegraben.
Ruanda ist ein wunderschönes Land. Es gibt dort hohe Berge, Vulkane und Reste undurchdringlicher Urwälder. Ich bin aus verschiedenen Anlässen viel mit dem Auto, aber auch auf der Ladefläche eines Lastwagens gereist. Das war nicht nur abenteuerlich, sondern manchmal auch lebensgefährlich wegen der zahlreichen Überfälle durch Banden oder marodierende Soldaten, die zu unvorstellbaren Grausamkeiten fähig waren.
Ich erinnere mich noch an eine Autofahrt von Kibuye am Kivu-See nach Nyanza, wo wir Schwestern wohnten und die Schule hatten. Kurz nachdem wir vom See weggefahren waren, war ein Auto vor uns. Es fuhr sehr langsam. Wir konnten es nicht überholen, weil die Straße zu schmal war. Ich schlug meiner Mitschwester vor, ein Picknick zu machen, in der Hoffnung, dass das Auto vor uns seinen Abstand vergrößern oder gar irgendwo abbiegen würde. Nach dem Picknick fuhren wir weiter. Wir kamen bald an einen Marktflecken. Dort sahen wir das Auto wieder. Vor dem Auto drei Männer. Nachdem wir an ihnen vorbeigefahren waren, stiegen sie schnell wieder ein und verfolgten uns. Ich sah keine andere Möglichkeit – abbiegen konnten wir nicht, da waren immer nur einzelne kleine Hütten, wo uns niemand hätte helfen können –, als aufs Gaspedal zu treten und mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit zu fahren. Wir sind gerast, haben laut den Rosenkranz gebetet. Ich habe Todesängste ausgestanden. Bis vor den Eingang unserer Schule, deren Tor zu allem Überfluss noch verrammelt war. Als ich in höchster Angst nach hinten schaute, waren das Auto und die Männer plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Wir konnten aufatmen – nach gut 60 Kilometern bedrohlicher Fahrt voller Todesängste!
Einmal habe ich am Ende eines Schuljahres einen Ausflug für unsere Schülerinnen organisiert. Sie kannten ja ihr eigenes Land nicht. Für sie gab es bis dahin in den Ferien nur den Weg nach Hause und am Ende der Ferien wieder den Weg zurück zur Schule. Sie sollten doch, meinte ich, unbedingt etwas von den Schönheiten ihres Heimatlandes kennenlernen!
Bei der deutschen Botschaft habe ich dafür einen Lastwagen mit Chauffeur organisiert. Wir brauchten nur den Chauffeur zu bezahlen. Der Lastwagen wurde uns unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Die Mädchen kochten Marmelade, die wir an die Lehrer verkauft haben. Dadurch hatten wir ein bisschen Geld zur Verfügung. Dann haben wir die Strohsäcke, auf denen wir schliefen, und die Mädchen auf den Lastwagen geladen und sind losgefahren. Wir bereisten den Kagera-Nationalpark, dessen Fläche fast ein Drittel des Landes bedeckt. Dort konnte man damals noch sehr viele Tiere beobachten. Löwen, Büffel und Elefanten haben wir gesehen. Aber noch begeisterter waren die Schülerinnen von ihren einheimischen Kühen, die wir nach dem Verlassen des Parks gesehen haben. Die Kühe werden von den Ruandern sehr verehrt, sind fast heilige Tiere für sie. Es war wirklich wunderbar und abenteuerlich.
Die Afrikaner, jedenfalls die, die ich in Ruanda und Kenia kennengelernt habe, sind sehr intelligent. Sie lernen sehr schnell fremde Sprachen, schneller als die Menschen auf anderen Kontinenten. Und sie sind sehr gastfreundlich.
Ich habe in Afrika eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht. Die negativen fielen nicht so ins Gewicht. Jedenfalls nicht so, dass sie mich nachhaltig bestimmten.
Was mich erschreckt hat, war, dass die Afrikaner, wenn ein paar Politiker durchdrehten und die Leute aufhetzten, sich mit unendlicher Grausamkeit gegenseitig umbrachten. Auch vor Kindern machten sie nicht halt. Dann war augenblicklich alles »weg«. Dieser plötzliche Umschlag von der sanften Freundlichkeit zum brutalen Blutrausch hat mich nachhaltig erschüttert. Daraus können Vorurteile entstehen. Das waren ganz entsetzliche Erfahrungen. Ich habe, als ich mit Rupert Neudeck* von Cap Anamur* und den Grünhelmen* unmittelbar nach den Unruhen in Ruanda war, noch die Leichen auf den Straßen liegen sehen. Wir haben Kinder getroffen, die miterleben mussten, wie ihre Eltern umgebracht wurden! Das war ganz schrecklich.
Aber wenn ich dann in unsere Breiten und in unsere deutsche Geschichte schaue: Wir sind ja auch ganz freundliche Menschen. Und dann kommt ein Adolf Hitler und wir erschlagen die Nachbarn, vernichten die Andersdenkenden, löschen die Juden aus, töten die Behinderten, führen Krieg, so dass kein Stein auf dem anderen bleibt. – Was sind wir für eine komische Spezies!, denke ich dann. Und frage mich: Wer ist eigentlich der Mensch? Wer sind wir? Was für Wesen sind wir Menschen? Da wird es ganz grundsätzlich.
Wir Menschen sind von Gott geschaffen. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, die Freiheit, das, was in uns angelegt ist, zu entfalten. Zur Möglichkeit unserer Freiheit gehört natürlich auch, unsere Möglichkeiten und Begabungen nicht zu entfalten und uns mit Dingen aufzuhalten, die nicht wertvoll und gut sind. Diese Gespaltenheit, diese Doppelgesichtigkeit von uns Menschen darf und kann man nicht wegreden. Aber wir haben eben auch die Möglichkeit und die Freiheit, uns zum Guten zu entscheiden. Das ist auch eine Tatsache. Oft bleiben wir aber dahinter zurück.
Aber noch einmal: Wir haben eine Wahl und wir können unsere Entscheidung treffen. Mit dieser Tatsache habe ich auch meine Schwierigkeiten. Aber ich denke, Gott hat uns auf der Welt so etwas wie eine Spielwiese gegeben. Was darauf gespielt wird, das müssen wir gestalten. Wir müssen es, biblisch gesprochen, auf das Reich Gottes hin gestalten. Ich hoffe, dass ich nicht in die Gefahr komme, mich angesichts der Fakten falsch zu entscheiden, das Böse zu wählen statt des Guten.
Ich denke in diesem Zusammenhang an die Straßenkinder in Nyanza. Ihnen begegnete ich am Samstag auf dem Markt der Stadt, wenn ich einkaufen ging. Sie klauen und schnüffeln Drogen. Wenn ich mit dem Auto ankam, umstellten sie sofort den Wagen. Ich teilte sie zur Bewachung ein. Zwei sollten vorne, zwei hinten den Wagen bewachen, zwei kamen mit mir zum Einkaufen. Mir ist nie etwas geklaut worden! Mein Auto hatte keine einzige Schramme! Nie ist ein Reifen aufgeschnitten worden! Ich habe ihnen ein wenig Geld dafür gegeben, habe sie auch mal im Auto eine Strecke mitgenommen, wenn ich sie in der Stadt traf. Viel Freude habe ich mit ihnen gehabt.
Hätten wir Besitz,
so müssten wir ihn verteidigen.
Weil wir aber nicht Gewalt anwenden wollen,
dürfen wir keinen Besitz haben.
Franz von Assisi, aus einer Predigt
Ich muss noch einmal auf die Frage der Wahl, die uns Gott gegeben hat, und damit auch auf die Frage nach Gott selbst zurückkommen.
Gott hat Macht. Aber er »nutzt« diese Macht zum Guten. In Gott kulminiert das, was gut, was aufbauend, was positiv ist. Das Böse in der Welt und in uns wirkt sich auch aus, sicher. Aber es kommt nie in diesen Kulminationspunkt, in diese Spitze, die in Gott ist und die Gott ist. Gott ist die Perfektion. Er ist »fertig«. Er ist vollkommen. Er befindet sich nicht mehr in Entwicklung. – Aber Vorsicht, sage ich dennoch! Wir kennen ihn ja nicht!
Wir Menschen sind wie Pflanzen, die wachsen, die sich entwickeln müssen – am besten zum Guten. Aber es kann auch etwas dazwischenkommen.
Ich habe die Vorstellung, ja den Glauben, dass es irgendwann zu einem großen und endgültigen Ausgleich kommt. Ich denke dabei an das, was mit dem Bild vom »Jüngsten Gericht« in der Bibel gemeint ist. Da werden alle Widersprüche aufgelöst, stelle ich mir vor. Aber davor haben wir die Möglichkeit, indem wir uns für das Gute entscheiden, einer möglichen Lösung nahezukommen – nicht alles kaputtzumachen. Da liegt die Geschichte von Kain und Abel ganz nah. Von Anfang an.