1972 bin ich wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Der Anstoß dazu ging von mir aus, ich bat darum.
Glück hatte ich, dass wir in Trier zu diesem Zeitpunkt eine neue Provinzialoberin hatten. Im Gespräch mit ihr entwickelte ich meinen Plan: In Afrika war ich Direktorin einer großen Schule. Aber im Grunde war ich nicht als Direktorin ausgebildet. Eine ältere Mitschwester hat mir zwar immer wieder Hinweise und Ratschläge gegeben. Aber es fehlten mir die sicheren Grundlagen. Ich musste ja auch Beurteilungen über die Lehrer und Lehrerinnen schreiben. Im Kloster haben sie mich zur Direktorin ernannt, weil sie keine andere Schwester für diese Aufgabe hatten. Hätten sie irgendjemanden für diese Aufgabe gehabt, wäre ich nie zu meiner Stellung gekommen. Manche meiner Mitschwestern waren der Auffassung, dass ich diese Aufgabe niemals schaffen würde. Das wiederum war ein Ansporn für mich, denen zu zeigen, dass ich es doch schaffen würde. An dieser Herausforderung bin ich gewachsen. Habe alle meine kreativen Fähigkeiten eingesetzt. Aber ich musste kämpfen.
Mein Plan war, den Abschluss an der Universität in München zu erreichen. Ich hatte vor, den Magister zu machen. Dann habe ich aber gesehen, dass ich in der gleichen Zeit auch eine Doktorarbeit schaffen könnte. Eine Promotion sieht besser aus als ein Magister.
In Rom hatte schon einige Jahre zuvor das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) stattgefunden. Von ihm gingen starke theologische Impulse aus. Davon hatte ich nichts Wichtiges mitgekriegt. Deswegen kam ich mir theologisch auch ein wenig verloren vor.
Mir erschienen viele der Mitstudierenden, die ich in München traf, ziemlich »bekloppt«. Wurde in der Theologie früher vielleicht zu schnell vom lieben Gott gesprochen, kam er jetzt gar nicht mehr vor, sein Name wurde gar nicht mehr genannt.
Ich erinnere mich an ein dreitägiges Blockseminar außerhalb der Universität. Vor dem Essen wurde natürlich nicht mehr gebetet. Ich war ziemlich deprimiert angesichts der Änderungen in der religiösen Praxis in Deutschland. Da hatte ich etwas nicht mitbekommen.
In München lernte ich auch Pater Fritz Köster* kennen. Er hat sich nicht geniert, vor dem Mittagessen auch einmal laut zu beten oder zu sagen, dass er am Sonntag in die Kirche geht. Das kam mir wie eine Mutprobe vor – unter lauter Theologen. In Fritz Köster habe ich wenigstens jemanden erlebt, der mein Erstaunen, ja mein Erschrecken über diese Entwicklung verstehen konnte. Manchmal kam ich mir ganz altmodisch vor, weil ich noch regelmäßig betete und sonntags zur Messe ging. Die anderen waren schon ganz woanders auf dem Feld der religiösen Praxis.
Während der fünf Jahre des Studiums entstand auch meine Doktorarbeit. Das war eine gute Möglichkeit, die Erfahrungen, die ich in Afrika gemacht hatte, auszuwerten. Aus diesem Grund war ich auch in Rom in der Zentrale unserer Ordensgemeinschaft. Dort konnte ich im Archiv die Briefe der ersten Schwestern, der Patres und auch des Ordensgründers studieren, die sie aus Afrika geschrieben hatten. Zu lesen, was sie dort, wo ich fünf Jahre gewesen war, in ihrer Zeit, erlebt hatten, das war für mich richtig spannend.
In meiner Doktorarbeit in Pädagogik über »Erziehung und Bildung in Rwanda – Probleme und Möglichkeiten eines eigenständigen Weges« musste ich mich zwangsläufig auch kritisch mit den Fakten und Entwicklungen in der Zeit vor, während und nach der Kolonialisierung befassen.
Immer wieder begegnete ich den »Sünden« der Weißen, die wenig Rücksicht auf die kulturellen, religiösen und ethnischen Voraussetzungen im Land genommen hatten. Das führte dann in der nachkolonialen Epoche in Ruanda zu innergesellschaftlichen Verwerfungen mit schlimmen Folgen. Die ethnischen Probleme wurden nicht überwunden, obwohl wir das Christentum brachten und die Nächstenliebe lehrten. Sie dauern bis zum heutigen Tag an.
Besonders, ich habe es schon erwähnt, das abendländische Überlegenheitsgefühl stach mir dabei immer wieder ins Auge, auch der Intellektualismus der Europäer.
Ähnliche Erscheinungen sah ich später in der Entwicklungshilfe. Es hat lange gedauert, bis die falschen Ansätze korrigiert wurden und einer größeren Achtsamkeit und Wertschätzung fremder Kulturen und Mentalitäten Platz machten.
Ich möchte das mit »Kostproben« aus meiner Doktorarbeit belegen.
Aus meiner Doktorarbeit3
Logisch-rational gegen mythisch-magisch
Der abendländische Intellektualismus führte eine Erziehung ein, die sich gegenüber der traditionellen Erziehung – zusammenfassend – wohl wie folgt charakterisieren lässt: Erziehung zur Abstraktion gegenüber einer Erziehung zu konkreten Lebensvollzügen; schulische Erziehung bzw. »Verschulung« des Lebens gegenüber Eltern- und Klanerziehung; Erziehung zu einem bestimmten Beruf gegenüber einem bestimmten Rollenverständnis in der vorgegebenen Gesellschaft; Erziehung zum detaillierten Einzelwissen gegenüber einer Erziehung zu einem Wissen, welches das Ganze des Lebens und der Welt umfasst; Erziehung zu logisch-rationalem Denken gegenüber dem mythisch-magischen Denken, welches dem Menschen im Kosmos immerhin einen »Standpunkt«, einen »Ort« zu geben vermochte innerhalb eines sozialen Kontextes, in dem sich der Einzelne umgeben und geborgen wusste von der »schützenden Hülle der Natur« (Martin Buber) und zugleich schrittweise hineingenommen in das familiäre und soziokulturelle Geschehen mit dem Rhythmus seiner Tage und Jahreszeiten wie auch mit der Monotonie der für das Leben notwendigen Arbeits- und Produktionsprozesse.
Mit dem modernen Leben und Denken fand keine Synthese statt, sondern es wurde eher eine revolutionäre Entwicklung eingeleitet, deren Ende noch nicht abzusehen ist. (S. 95/96)
Hilfestellung beim Werden des Menschen
Im Letzten laufen wohl die vielen pädagogischen Denkansätze und konkreten Zielsetzungen auf die notwendig zu akzeptierende Tatsache hinaus, dass keine uniformen Einübungsfelder und Verhaltungsmuster mehr möglich sind.
Deshalb geht es in der Pädagogik um die Hilfestellung beim Werden des Menschen, dass dieser es lernt, bei seiner eigenen Selbstwerdung die Andersartigkeit und Fremdheit anderer Menschen und Völker zu respektieren und zu achten.
Menschen müssen auf Weltebene miteinander umgehen und zu leben lernen. Bei der Andersartigkeit und Fremdheit der vielen ist vielleicht gerade der christliche Auftrag zur Liebe jenes hervorstechende pädagogische Denkmodell, dass man nicht nur predigen und verkündigen kann, sondern für das es konkrete Einübungsfelder zu schaffen gilt. (S. 257)
Ich denke, dass die Theologen und die Theologie oft viel zu selbstbewusst sind. Sie vergessen zu oft, dass Gott viel größer ist als unser Denken, Wissen und Erfahren.
Jesus hat etwas getan. Er hat etwas umgesetzt. Er hat keine großartigen Dogmen vorgelegt. Er hat etwas vorgelebt. Er ist konkret geworden. Er hatte eine Praxis. Keine Theorie.
Wir Christen müssen deshalb etwas tun. Das, was uns Jesus vorgelebt hat. Unsere religiöse Theorie darf nicht anders sein als unser tatsächliches Verhalten, als unsere alltäglichen menschlichen Beziehungen. Die Theologie, die behauptet, sie wisse alles über Gott, überschätzt sich, sie sollte, wie ich finde, bescheidener auftreten. Sie müsste erfahrungsgesättigter denken und argumentieren. Ich erinnere mich gerne an Vorträge von Karl Rahner*, der nach Aussagen über Gott hinzufügte, dass wir nicht vergessen sollten, dass Gott immer »der ganz Andere« sei.
Ich höre immer wieder die Aufzeichnung einer Weihnachtsansprache von Pater Köster, die er im Radio gehalten hat. Sie beginnt mit der Frage: »Wie geht es dir? Wie geht es Ihnen?« Er sagt: Gott wurde Mensch, um uns zu zeigen, wie Menschwerden geht. Und wenn jetzt jemand kommt und auf die Frage, wie es ihm geht, sagt, mir geht’s schlecht, und du dann auf diese Antwort geduldig eingehst, dann ist es wirklich Weihnachten geworden. Pater Köster sagte immer wieder: »Der Lehren sind genug verkündet! Zurück zur Praxis!« Das stimmt einfach. Das kann man nicht wegreden. Es geht um nichts Geringeres als um unser Handeln, weniger oder kaum um unser Reden.
Pater Köster war ein großes Geschenk für mich. Er hat die alten theologischen Sätze über Glaube, Hoffnung und Liebe weitergedacht, ist nicht bei den überlieferten Formeln und Sätzen stehengeblieben, hat die Zeichen der Zeit in sein Denken miteinbezogen, hat neue Ansätze gesucht und immer den konkreten Menschen, nicht den gedachten, im Blick gehabt. Viele Menschen sagen mir bis heute: Er hat mich verstanden. Er hat mir meine Würde wiedergegeben, mir meine Würde wieder bewusst gemacht. Pater Köster war sehr intelligent, war aber ohne jede Arroganz. Das hat mich so fasziniert an ihm. Er war ein zweiter Franziskus für mich.
Wie geht es dir, wie geht es Ihnen?
Eine Weihnachtsansprache von Pater Fritz Köster
Solche Fragen am Ersten Weihnachtsfeiertag mögen Sie überraschen, Ihnen fremd erscheinen. Sie sind ungewohnt, denn heute ist Weihnachten. Da wünscht man sich ein frohes Fest, eine gesegnete Zeit. Man denkt an Frieden, Ruhe und gemütliche Stunden mit seinen Freunden nach all dem Geschäftsrummel der vergangenen Wochen.
»Wie geht es dir, wie geht es Ihnen?« Solche Fragen hört man während des ganzen Jahres. Man stellt sie Freunden, Bekannten und Verwandten so im Vorübergehen, auf der Straße oder im Supermarkt. Und die Antwort wird meistens genauso belanglos gegeben, wie die Frage gestellt wurde. »Es geht«, pflegt man zu sagen, »einigermaßen, durchwachsen, es könnte besser sein«, und damit hat sich’s.
Stellen Sie sich vor, jemand, der von Ihnen so gefragt wird, würde eines Tages bei Ihnen stehenbleiben. Durch Gesten und Anzeichen in seinem Gesicht würde er Ihnen signalisieren, dass er mit Ihnen reden möchte, dass es ihm nicht gut geht, dass er große Sorgen hat, dass ihn traurige Ereignisse bedrücken. Dann müsste man wohl oder übel bei ihm stehenbleiben, ihn anhören, ihm Zeit widmen. Und je mehr die Sorgen des anderen sich Luft verschaffen würden, desto eher könnte man selbst in Bedrängnis geraten. Was darauf antworten? In welchem Augenblick etwas sagen? Wie dem anderen Mut zusprechen, ohne dass es phrasenhaft wirkt, schablonenhaft, peinlich und unangemessen? Bei solcher Gelegenheit kann sogar sehr schnell in Vergessenheit geraten, dass das Schweigen in manchen Fällen besser ist als das Reden. Das Zuhören ist heilsamer als voreilige Tröstungen. Aber auf jeden Fall wäre die Schablone durchbrochen. Das unverbindliche »wie geht’s« wäre zu einer Begegnung geworden, zu einer persönlichen Anteilnahme am Lebensschicksal des anderen. Daraus könnte, wenn man es ernst nähme, Freundschaft und Vertrautheit entstehen, Solidarität und Schicksalsgemeinschaft auf einem Lebensweg, den wir alle zu gehen haben. Mit allem Auf und Ab, mit allen Freuden und Leiden, Siegen und Niederlagen.
»Wie geht es dir, wie geht es Ihnen?« Was haben solche Fragen mit Weihnachten zu tun? Ich denke: alles. Vielleicht kann man den Sinn des Weihnachtsfestes nicht knapper und nicht präziser als mit solchen Fragen ausdrücken, denn Gott wurde Mensch. Er wurde Kind, er wurde Heranwachsender und Erwachsener. Er ist einen Lebensweg wie wir alle gegangen. Gott wurde Mensch, um die Erfahrung zu machen, wie es Menschen geht und gehen kann. Deshalb hat er Höhen und Tiefen erlebt, Siege und Niederlagen. Er stand in der Masse und suchte die Einsamkeit. Er war einsam und suchte Vertraute. Er hat große Hoffnungen und Erwartungen in sein Leben gesetzt, er hat auf die anderen vertraut. Und dabei hat er keine besseren, aber auch keine schlechteren Erfahrungen gemacht als wir alle. Aber er hat es gelernt und verstanden, seinen Weg zu finden und zu gehen. Sich in allem treu zu bleiben, seinen von ihm vertretenen Lebenswerten, seiner Lebensrolle und seinem Lebensauftrag. Er hat zu sich und seiner Botschaft ja gesagt, bis in die Stunden der Not und sogar bis in den Tod hinein. So konnte er vor Gott und vor der Menschheit bestehen. Die Treue gegenüber dem eigenen Lebensauftrag hat sich bei ihm als das erwiesen, was vor Gott und vor den Menschen glaubwürdig erscheint.
Seit Weihnachten hat die Menschheit aufgehört, unverbindlich und phrasenhaft über Gott zu reden. Oder: Wenn sie es immer noch tut, hat sie von Weihnachten, der Botschaft von der Menschwerdung Gottes, nichts verstanden. Seit Weihnachten kann man aber auch nicht mehr unverbindlich und phrasenhaft über die Menschen reden. Würde man es tun, wären sie nicht ernstgenommen. Denn Gott wurde Mensch, er kam herab in diese unsere Welt und Lebensgeschichte, um aus der Nähe und unmittelbaren Erfahrung heraus nachzuschauen, wie es dem Menschen geht, wie es um ihn steht.
Denn nicht aus der Distanz, aus der Unverbindlichkeit des Redens und Zuschauens heraus kann eine Antwort auf diese Frage gefunden werden. Aus dem Höhenflug eines Adlers über den Wolken kann man zwar die ganze Welt beobachten. Man kann Millionen Menschen wie kleine schwarze Punkte sehen, die sich da unten auf der Erde bewegen. In Wirklichkeit sieht man keinen einzigen. Kennt kein einziges Lebensschicksal, kann sich in keinen einzigen hineinversetzen. Die Liebe zu allen Menschen schafft Distanz zum Einzelnen, macht schließlich lieblos, weil keiner konkret gemeint ist. Deshalb wurde Gott Mensch und trat zugleich ein in eine ganz konkrete menschliche Geschichte.
Zur Zeit des Kaisers Augustus, schreibt Lukas. In Betlehem im Lande Juda. Um ihn herum waren Maria und Josef, die Hirten auf dem Feld und die Weisen aus dem Morgenland. Sie alle ahnten und machten die Erfahrung, dass unter ihnen jemand erschienen war, der eine bisher unerhörte Wahrheit und Botschaft zu verkünden und zu leben hatte. Gott nahm das Schicksal eines Menschen an, weil ihm fortan das Schicksal jedes Menschen, jedes einzelnen, unaufgebbar wichtig war.
Gott wurde Mensch, um uns zu zeigen, wie es geht, Mensch zu sein. Er markierte zugleich einen unfehlbaren, unüberhörbaren Standpunkt. Nur Gott vermag den Menschen zu schaffen. Den heileren, erlösteren, friedlicheren, gewaltloseren, nicht nur auf sich selbst bedachten.
Und was könnte der Menschheit jemals Besseres passieren, als dass es Menschen gibt, die nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen sind? Die Leben gestalten und die Welt beeinflussen nach dem Vorbild dessen, der in diese Welt kam, um ihr einen neuen Anfang zu setzen?