»Jessas, naa!«, entfuhr es der Erlanger Kommissarin Maria Ammon.
Ihr junge Kollegin Michelle Schmitz riss die Augen auf. »Das ist jetzt aber nicht wahr, oder?«
Durch die Windschutzscheibe ihres Dienstwagens starrten sie auf drei Kälber, die hinter der Straßenbiegung wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und keine Anstalten machten, sich von der Straße weg zu bewegen. Vorsichtig gab Maria Gas. Die Kälber sprangen ein Stück zur Seite, doch an ein Vorbeifahren war nicht zu denken.
»Und jetzt?«
»Die sind von da drüben.« Maria deutete auf den heruntergewirtschafteten Einödhof rund 50 Meter weiter. »Und da müssen wir auch hin. Also treibst du sie einfach vor, damit ich weiterfahren kann.«
Entsetzt riss Michelle die blauen Kulleraugen auf. »Bist du jeck?«
Maria verdrehte die Augen. »Die haben mehr Angst vor dir, als du vor ihnen.«
Michelle verschränkte die Arme. »Auf keinen Fall!«
»Großstädter!«, bemerkte Maria trocken und parkte kurzerhand am Straßenrand. »Ich tippe, die Leiche, zu der wir wollen, ist in dem Stall, in dem diese putzigen Moggerla daheim sind.«
»Diese was?«
»Diese Kälbchen. Hopp etz. Wir laufen den Rest. Und brich dir nicht deine Absätze auf dem Kopfsteinpflaster«, spöttelte Maria.
»Die Toten könnten ja zur Abwechslung mal in der Stadt rumhängen, anstatt hier am …«
»Gesäß des Universums«, bot Maria hilfreich eine Bezeichnung an. »Du könntest dir auch einfach mal ein paar ordentliche Schuhe ins Auto legen. Es ist ja nicht so, als wären wir zum ersten Mal im Landkreis unterwegs.«
»Du und deine sinnvollen Ideen.« Die Blondine zog einen Schmollmund.
Maria grinste. Während sie mit Nachdruck die Kälber in Richtung Hof scheuchte, balancierte Michelle, auf großen Abstand zu den Tieren bedacht, über das Kopfsteinpflaster. Als der Tross sich der Einfahrt näherte, konnten sie den Streifenwagen sehen, der unweit eines Misthaufens geparkt hatte.
»Ja, Servus!« Die beiden Streifenbeamten grinsten, als sie Marias Bemühungen beobachteten, die Kälber nicht wieder ausbüxen zu lassen. »Schön, dass ihr gleich Verstärkung mitgebracht habt.«
Michelle tippelte auf eine halbwegs ebene Stelle. »Genau! Und um die könnt ihr euch jetzt kümmern, weil … wir übernehmen ja die Leiche.« Sie lächelte süßlich.
In diesem Moment rannte ein Kalb mit einem lauten Muh wieder auf die Straße zurück. Die anderen Kälber folgten schleunigst.
»Diese Fregger!«, fluchte Maria kopfschüttelnd. Dann sagte sie an die Polizisten gewandt: »Servus … also, wo ist sie?«
»Im Stall. Sie heißt Christa Wohlrab. Ihr Ehemann hat sie gefunden.«
»Und wo ist der?«
»Da!« Der eine Beamte deutete auf einen alten Mann, der aus der Haustür des baufälligen Hauses geschlurft kam. »Also, wir gehen dann mal die Moggerla einfangen. Sagt Bescheid, wenn ihr uns braucht.«
Überrascht über das beherzte Eingreifen, hob Michelle die Brauen.
»Letzte Woche hatten wir erst ein Schwein, das vom Schlachthoftransporter entwischt ist«, rief der andere Beamte augenzwinkernd. »Kann jetzt auch nicht schwieriger sein.«
Maria war bereits bei Wohlrab. Sein Äußeres zeigte dieselben Spuren von Verwahrlosung wie die gesamte Hofanlage. Er war groß, doch er ging leicht gebeugt, was vermutlich nicht nur mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte. Die jahrelange Arbeit hatte ihren Tribut gefordert.
»Herr Wohlrab? Ich bin Maria Ammon von der Kripo und das ist meine Kollegin Frau Schmitz.«
Wohlrab nuschelte eine Begrüßung und rieb sich schniefend mit dem Ärmel über die Nase. Angeekelt verzog Michelle das Gesicht.
»Mein Beileid zum Tod Ihrer Frau«, sagte Maria freundlich. »Wir würden uns gern zuerst im Stall umsehen. Möchten Sie uns begleiten oder warten Sie lieber draußen?«
»Ich komm schon mit«, brummte Wohlrab.
Gemeinsam betraten sie den großen Stall, in dem es nach Mist und tierischen Ausdünstungen roch. Es gab Platz für ein Dutzend Kühe, doch lediglich drei waren dort angebunden. Während sie gemächlich mit ihren dünnen Schwänzen nach Fliegen schlugen, musterten sie die Besucher mit ihren großen Augen. An einem Seil, das von einem wuchtigen Eichenholzbalken herabhing, baumelte die Leiche Christa Wohlrabs, darunter lag ein umgestürzter dreibeiniger Holzschemel. Wohlrab blieb gleich neben der Tür stehen. Wieder benutzte er seinen Ärmel als Taschentuchersatz. Michelle wandte den Blick ab.
»Meine Frau hat heut früh sogar erst noch die Tiere versorgt. Sie war immer pflichtbewusst und ordentlich«, sagte Wohlrab mit belegter Stimme, während Maria den Stall und die Tote in Augenschein nahm. »Da auf dem Schemel hat sie sich oft bei der Arbeit ausgeruht.«
Die Tote wies die üblichen, hässlichen Zeichen des Erstickungstodes auf. An der schlaff herabhängenden rechten Hand der Toten steckte der Ehering genau auf Augenhöhe Marias und schwang sanft hin und her wie ein hypnotisches Pendel. Keine sichtbaren Anzeichen von Fesselspuren, stellte Maria fest, als sie vorsichtig die Handgelenke untersuchte.
»Haben Sie eine Idee, warum Ihre Frau das getan hat?«
»Das Alter. Sie kränkelte dauernd«, sagte Wohlrab düster. »Sie wurde immer schwächer, aber … sie wollte nicht fort und den Hof aufgeben. Wir haben die Arbeit hier kaum noch geschafft. Christa hat immer gesagt, sie wolle hier sterben. Auf dem Hof.«
Maria nickte nachdenklich. »Haben Sie denn keine Hilfe bei der Arbeit?«
Wohlrabs Schultern sanken noch tiefer. Schließlich schüttelte er den Kopf. Seine Stimme war sehr leise. »Keine.«
»Und was machen Sie dann jetzt?«, erkundigte sich Michelle. »So allein, meine ich.«
Der alte Mann seufzte. »Ich … werde ins Seniorenstift ziehen.«
Maria betrachtete die Szene. Den Schemel, der unter der Leiche lag, eine alte Holzleiter an der Wand. Es war sicher schwierig für die gebrechliche alte Frau gewesen, das Seil mithilfe der Leiter an dem Balken zu befestigen. Schwierig durchaus, aber keineswegs unmöglich.
Maria drehte sich zu Wohlrab herum. »Es tut mir leid, Herr Wohlrab, aber ich muss Sie vorläufig festnehmen.«
»Warum?«, fragte Wohlrab erschrocken.
»Wieso?« Auch Michelle sah verwirrt aus.
»Wie Sie Ihre Frau ruhiggestellt haben, wird die Obduktion ergeben, aber Sie haben sie erhängt – und damit umgebracht.«
Warum ist sich Maria sicher?