»Soll ich das Glas nachfüllen?«, fragte Nicole Himmel und winkte mit der Rotweinflasche.
»Gern. Aber nur bis zum Rand«, müffelte Heinrich Müller. Wenn er so weiter soff, musste er seinen schwarzen Opel im Kandertal stehen lassen und mit dem Zug nach Bern zurückfahren.
Trübsinnig starrte Heinrich aus dem Festzelt hinaus auf einige Berner Alpengipfel, über eine Gruppe von Leuten hinweg, die sich vor einer Sichtschutzwand zu schaffen machten.
Die ›Bauernhof-Olympiade‹ hatte für einen Teilnehmer mit dem verfrühten Ableben geendet. Dieser Mann gehörte zur Gruppe, der Nicole und Heinrich als Vertreter der Detektei Müller & Himmel zugeordnet worden waren. Deshalb saßen sie nicht als Detektive hier, sondern als Zeugen. Oder gar als Verdächtige?
»Hier liegt noch ein Stück kalte Bratwurst«, sagte Nicole und schob Heinrich einen Kartonteller hinüber.
»Alles bio«, knurrte Müller, den man eingeladen hatte, weil er sich als Detektiv mit seinen kulinarischen Fällen einen Namen gemacht hatte und weil der Bauernhof deshalb auf einen Werbeeffekt durch Mund-zu-Mund-Propaganda hoffte.
Den bekäme er bestimmt, aber kaum in der erwünschten Art.
Nicole und Heinrich hatten sich auf der Fahrt Richtung Spiez noch überlegt, was man auf einer solchen Olympiade alles lernen könnte: Kühe melken, Käse herstellen, Pony reiten, Schweine füttern, Geranien schneiden, Gemüse ernten, Äpfel pflücken.
Nun sind bekanntermaßen Vorstellungen das eine. Die Wirklichkeit hingegen macht wenig Anstalten, die Vorstellungen zu erfüllen.
Zuerst wurden alle Teilnehmenden vom Bauern begrüßt, während Frau und Tochter bereits mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen befasst waren.
Unsere tapferen Detektive wurden der erweiterten Familie Heinzer zugeteilt, weil eine Gruppe aus acht Personen bestehen musste, und man konnte zählen, so lange man wollte, die Heinzers waren nur zu sechst. Freude herrscht!
»Mein Name ist Linus Heinzer, das ist meine Frau Ida. Katholisch«, bellte er ins evangelische Fundamentalistenland hinaus. Die jüngere Tochter hieß Selina, die ältere Malena, wie aus einem Prospekt für Slipeinlagen.
»Diese schönen Namen habe ich euch gegeben, meine Püppchen«, sagte der Vater stolz, aber mit einem strafenden Blick auf ihre Verehrer Urs und Stefan, die ebenfalls mit von der Partie waren.
Der Parcours bestand aus zehn Stationen. Es ging um Geschicklichkeit und Geschwindigkeit. Als Hauptpreis winkte eine geräucherte Hamme1. Heinzers hatten ein hohes Startgeld hingelegt, und Papa wollte unbedingt gewinnen. So wurden Frau Heinzer, die beiden spätpubertierenden Töchter und ihre ungehobelten Freunde bei jedem Posten bis zur Erschöpfung angetrieben. Leider verwechselte Herr Heinzer Nicole oder Heinrich des Öfteren mit seinen Zöglingen.
Der erste Posten, das Steinstoßen, rückte die überzogenen Erwartungen gleich ins richtige Licht, denn Linus Heinzer vermied nur mit viel Glück, dass ihm der 15-Kilo-Stein auf die Zehenspitzen plumpste.
»Wundert mich, dass man mich in meinem Alter noch fürs Unspunnenfest2 benötigt …«, flüsterte Müller.
»… oder für das Jonglieren von Käselaib-Attrappen auf einem alten Räf3«, murmelte Nicole und zeigte auf den nächsten Posten.
»Dass antike Schubkarren mit Eisenrädern als Transportmittel für offene Wassergefäße dienen, ist mir auch neu«, meinte Heinrich.
Die beiden Berner verschafften sich einen Überblick, während die Heinzers ihre Jungmannschaft zu viert in einen riesigen Plastiksack steckten, mit dem sie hüpfend eine schiefe Ebene überwinden sollten.
»Tempo, Tempo!«, schrie der Vater. Die vier stolperten und stürzten ein ums andere Mal und mussten immer wieder bei null beginnen.
Nicole zeigte auf ein klappriges Heugestell. »Finde ich interessant, dass Bauern bei ungünstigen Windverhältnissen zerfaserte blaue Plastikschnüre in dieses Holz einfädeln.«
Auch das Traktorfahren machten die Heinzers unter sich aus, sodass Nicole und Heinrich mit Freuden das Horn hörten, das zum Mittagessen blies. Die Leute wurden gruppenweise einer Warteschlange zugeordnet, die sich zwischen Salatschüsseln, Brotkorb und Grill auf den zugewiesenen Tisch zu kämpfte.
Heinrich war der Letzte. Er hatte eine Flasche lauwarmes Bier ergattert, was ihm neidische Familienblicke eintrug.
»Da sind endlich die Bauernhoftiere«, lachte er und stach in eine fettspritzende Wurst. Kaum leiser fuhr er fort: »Ich habe mir die Fütterung der Schweine anders vorgestellt!«
Trotz der heißen Temperaturen war die Eiszeit angebrochen. Herr Heinzer peitschte seine Truppe auf Fröhlichkeit ein, aber seine Witze starben vor sich hin. Seine Frau legte für einen Augenblick ihre Sonnenbrille auf den Tisch, setzte sie aber sogleich wieder auf, als habe sie eine gefährliche Strahlendosis erwischt. Es hatte gereicht, dass Nicole ein blaues Auge gesehen hatte.
Nach dem Mittagessen wurde die Familie wieder zur Arbeit angetrieben.
»Wir haben noch eine Chance«, brummte der Vater und gab seiner jüngeren Tochter einen Klaps auf den Hintern, was ihr Freund missbilligend registrierte.
Heinrich konnte den Blick der Mutter hinter der Brille nicht lesen, als die Frau in einer quadratischen Holzhütte mit ausgeschnitztem Herzen in der Tür verschwand.
»Meine Angetraute hat einen schwachen Darm«, teilte Heinzer ungefragt den Detektiven mit. Dann rief er laut und glücklich: »Wirf ein Zündholz rein, dann kriegt sie einen Gratis-Alpenflug!«
Darauf begab sich die Gruppe zum nächsten Posten. Hier bestand die Aufgabe darin, unterschiedlich große, in Plastik eingeschweißte Heuballen einen steilen Hang hinaufzurollen und in der Mitte einen Schneemann zu bauen.
»Sisyphus«, sagte Heinzer, »ihr wisst doch, wer Sisyphus war? Ein bisschen antike Bildung!« Er stieß bei seiner Jungmannschaft auf Unverständnis.
Diverse Gerätschaften lagen bereit, für diesen oder den nächsten Auftrag, sauber in einer Reihe: Sense, Heugabel, Spaten, Blackenstecher4, Schaufel, daneben kurze und lange Holzbalken, eine Wippe und ein Wasserkübel.
»Ihr dürft alles benutzen«, erklärte der Bauer, »aber nicht alle Werkzeuge sind für diese Aufgabe sinnvoll.«
Linus Heinzer ordnete die Geräte neu, alle mit dem Stiel zum Hang und den Schneideflächen zum Boden.
»Damit mir keiner reintritt!«
Dann verteilte er die Arbeit. In Zweiergruppen mussten die Mädchen und die Jungs je einen Ballen die Wiese hoch stemmen. Für Nicole blieb der kleinste, der den Kopf bilden sollte. Heinrich trug die Holzbalken für das Fundament nach oben. Als er sich auf halber Höhe umdrehte, dirigierte Heinzer mit rhythmischen Rufen. Seine Frau, die unbeschadet vom Plumpsklo zurückgekehrt war, trug den Hut des Bauern, der dem Schneemann aufs Haupt gesetzt werden sollte.
Plötzlich überstürzten sich die Ereignisse. Malena rutschte auf dem feuchten Gras aus, Selina konnte den Heuballen nicht alleine halten. Dieser rollte zuerst über die Hände der Älteren, die kurz aufschrie, nahm dann Fahrt auf und stopfte mit einem letzten Hopser Herrn Heinzer das Maul, bevor er von einem Erntewagen gestoppt wurde.
Nun erzeugt so ein Heuballen eine gewisse Wucht, die einen Menschen beim Aufprall erschrecken kann. Er ist aber doch nicht so schwer, dass der Familienvater hätte liegen bleiben müssen.
Heinrich Müller war als erster bei Linus Heinzer. Aus dessen Hals ragten die Zinken der Heugabel, die im Nacken eingedrungen war.
Ein trockener Abgang!
Der verzweifelte Bauer konnte gerade noch verhindern, dass der Hofhund das Blut aufleckte, das langsam aus den Wunden tropfte.
Heinrich Müller schob Nicole Himmel ein weiteres Mal das leere Glas hin. Dann hielt er inne, schwankte leicht beim Aufstehen und rief einen der Ortspolizisten zu sich.
»Verhaften Sie die Frau mit den traurigen Augen«, sagte er zu ihm und erklärte, wie Ida Heinzer es geschafft hatte, den Tod ihres Mannes als Unfall erscheinen zu lassen.
1 Ein Schinken.
2 Zur Beruhigung der Landbevölkerung von der Berner Aristokratie eingerichtetes ›Alphirtenfest‹, zum ersten Mal 1805. Heute wird mit einem Stein von 83,5 Kilogramm gestoßen.
3 Rückentraggerät für Käse, ein flaches Brett mit Tragkufe und einem Deckel über dem Kopf.
4 Blacken sind ein gefürchtetes, langlebiges Unkraut, das stark wurzelt.