»Nore, endlich!«
Nino Zoppa zog den freien Barhocker näher zu sich. Nore Brand, rotwangig von der Kälte, schüttelte ein paar Schneeflocken aus dem Haar und schaute zweifelnd in die Höhe, bevor sie sich zu ihm hinsetzte.
Sie saßen in der Amici Bar der Berner Markthalle; über ihnen schwebte der riesige Goldengel, wie Batman über Gotham City.
Nino Zoppa lachte. »Keine Angst, der fällt nicht herunter, bloß weil du jetzt hier sitzt.«
»Trotzdem ist es sehr verdächtig, dass nur noch diese beiden Plätze hier frei sind. Außerdem glaube ich nicht an Engel. Wie sollte ich da ihren Flugkünsten trauen?«
Der Barmann stellte wie üblich zwei Stangen Bier vor sie hin.
»Also, schieß los«, forderte sie ihn auf. »Ich habe noch etwas vor heute Abend.«
»Ich weiß, ich mach’s kurz. Hör gut zu, seit Tagen beschäftige ich mich mit einem einzigen Fall. Ich weiß zwar viel, aber ich begreife nichts«, sagte Nino und rückte näher zu ihr.
Er erzählte ihr von zwei Kunstmalern. Von Nick Schuler, der seit Jahren versuchte, eine Künstlerkarriere zu starten, und von Alexander Wolf, dessen großer Schatten Schulers Absicht immer wieder zunichte gemacht hatte. Nick Schuler hielt sich diesem Alexander Wolf in Bezug auf Technik und Farbverwendung weit überlegen. Doch Alexander Wolf wusste nichts von einem Nick Schuler.
Der gehässigste Tagebucheintrag datierte vom Tag von Wolfs letzter Vernissage, die Nick Schuler besucht hatte. Er zeugte von Schulers unüberwindlicher Abneigung gegen Wolf, ›diesen verfressenen Lebemann und Genussmenschen‹, wie er ihn beschrieben hatte.
Nino Zoppa schüttelte den Kopf und schwieg einen Moment. »Nore, dieser Schuler muss Wolf so gehasst haben! Du kannst dir nicht vorstellen, wie mordlustig seine Tagebucheinträge sind. Ein Bekannter von Schuler hat mir erzählt, er habe im Suff tatsächlich davon geredet, Wolf umzubringen. Schuler hielt Wolf für eine ästhetische Gefahr für die Menschheit.«
Nino Zoppa freute sich. »Ein tolles Mordmotiv, oder?«
Nore Brand machte eine ungeduldige Bewegung. »Und welcher von beiden ist nun tot?«
Nino Zoppa zuckte zusammen und schaute sich um. »Nore, nicht so laut! Wir sind hier nicht allein!«, zischte er. »Nick Schuler ist tot und genau das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wir haben sein Atelier untersucht und das Gift gefunden, das ihn getötet hat. Es waren vergiftete Pralinés, sagte Bruder Klaus. Das begreife ich einfach nicht! In Schulers Küche fanden wir auch die Spritze, mit der das Gift in die Füllung der Pralinés kam. Schulers Hund sei zuckerkrank gewesen und deshalb besaß er eine Spritze. Das wusste ein Nachbar, der auch einen Hund hat. Ich habe ihn gesehen, es ist ein hässlicher Dackel mit Hängebauch, fast bis auf den Boden!« Nino Zoppa verzog angewidert das Gesicht. »Aber was das Gift betrifft: Das erhalten nur diplomierte Kunstmaler, gegen Ausweis natürlich. Mit diesem Mittel nehmen sie Bildkorrekturen vor, es ist eine farblose Flüssigkeit, ganz ohne Geschmack. Alexander Wolf braucht dieses Zeug nicht, weil er offenbar keine Bildkorrekturen vornimmt. Der Kerl hält sich vielleicht für genial.« Nino Zoppa starrte auf das Glas in seiner Hand. »Nick Schuler«, fuhr er dann fort, »ist überhaupt nicht der Typ, der sich umbringt. Ganz im Gegenteil. Das sagten ausnahmslos alle, die ihn kennen.«
»Und die beiden Künstler kannten einander nicht?«
»Nein!«
»Gibt es gemeinsame Bekannte?«
»Das schon. Ist ja klar in dieser Stadt. Wolfs Lieblingsnichte Fabia besucht das Kirchenfeldgymnasium und sie habe einige Schwierigkeiten, darum nimmt sie Nachhilfestunden bei Nuno Perez, das ist der Sohn von Schulers Hauswartin. Dort kommen die gemeinsamen Bekannten also zusammen. Nuno Perez studiert Chemie und er braucht natürlich Geld. Interessant ist, dass Fabia ihren Onkel Alexander regelmäßig besucht. Im Moment sei Alexander Wolf zwar an der ligurischen Küste. Im Winter male er immer im Süden. Er habe ihr letzthin eine Schachtel Pralinés geschenkt. Diese hat sie dann Nuno geschenkt und Nuno hat sie seiner Mutter gegeben. Aber im Moment ist Mama Perez auf Diät, sagt Nuno, sie sei jedes Jahr ungefähr zweieinhalb Wochen auf Diät«, erzählte Nino Zoppa grinsend. Sein Gesicht wurde wieder ernst.
»Soll ich mir jetzt vorstellen, dass sich Frau Perez in Schulers Atelier schleicht, etwas von der giftigen Flüssigkeit entwendet, Nunos Pralinés vergiftet, und Nick Schuler beim nächsten Kaffeetreff die fatale Köstlichkeit anbietet?«
Nino schüttelte entschieden den Kopf. »Diese Frau ist so freundlich, dass einem schwindlig wird! Tatsache ist jedoch, dass sie Schuler oft zum Kaffee eingeladen hat.«
»Eine merkwürdige Sache«, sagte Nore Brand und wischte sich eine Spur Bierschaum von den Lippen.
»Das findest du also auch«, sagte Nino Zoppa erleichtert. »Aber es muss doch eine Lösung geben. Das Gift war nur in Schulers Atelier zu finden, aber die Pralinés, in denen es steckte, kamen ganz eindeutig aus Wolfs Haus. Dumm ist nur, dass der große Alexander Wolf nicht den geringsten Grund hatte, den Künstlerzwerg Nick umzubringen, weil er doch gar nichts von dessen Existenz wusste.«
»Umgekehrt scheint logischer, das stimmt.« Nore Brand wiegte nachdenklich den Kopf. »Aber es scheint eben nur so. Sonst wäre Wolf jetzt tot.« Plötzlich lächelte sie. »Ich glaube, dir fehlt bloß ein wichtiger Hinweis.«
Nino Zoppa schaute perplex.
»Ruf in der Konditorei an und frage, ob und wann Nick Schuler letzthin Pralinés gekauft hat.«
Nino Zoppa schüttelte verständnislos den Kopf. »Nein, Nore, es kann nicht Selbstmord sein!«, protestierte er, »eines weißt du noch gar nicht: Schuler hat für Weihnachten eine Wohnung gebucht, in der Altstadt von Ascona!«
»Ruf jetzt einfach mal an!«, beharrte sie freundlich.
Nino suchte nach seinem Handy und entfernte sich. Während er telefonierte, kritzelte Nore Brand ein paar Zeilen auf die Rückseite eines Bierdeckels.
Kurze Zeit später kam Nino Zoppa zurück. Rasch drehte sie den Deckel um.
»Du hattest recht«, sagte er. »Die Dame am Telefon konnte sich erinnern. Als ich dort war, wusste keiner etwas«, murmelte er verstimmt. »Aber diese Lady hat vor drei Tagen ein Bild von Nick Schuler in einer Gratiszeitung gesehen. Er war vorletzte Woche tatsächlich dort und hat eine Schachtel Pralinés gekauft, eine neue Weihnachtskreation, erklärte sie mir lang und breit.«
»Gut«, sagte Nore Brand. »War er vor oder nach der Vernissage in der Konditorei?«
»Vorher.«
»Also«, sagte Nore Brand und rutschte vom Sessel. »Geh nach Hause und erzähle es Mona. Zusammen findet ihr das heraus. Und falls nicht«, sie steckte den Bierdeckel in seine Jackentasche, »hier drauf steht die Lösung.«
»Mona? Warum Mona?«
Nore Brand lächelte geheimnisvoll. »Weil es sich um eine Art Gesellschaftsspiel handelt, das Frauen besser kennen als Männer. Und dieses Spiel kann tödliche Folgen haben.«