Prolog
Ich bin meinen Weg gegangen. Und niemand außer mir kann beurteilen, wie tief die Schlaglöcher waren, die ihn prägten.
BERNADETTE VON PLESOW
Ich muss etwa fünf, vielleicht auch sechs Jahre alt gewesen sein, als ich für mich festlegte, was ich im Leben unbedingt einmal werden wollte: schön und reich! Es ist nicht etwa so, dass meine Kindheit nicht zu ertragen gewesen wäre oder ich nie etwas zu essen gehabt hätte. Und im Gegensatz zu anderen Kindern meines Alters hatte ich durch den Beruf meines Vaters wenigstens immer ein Paar Schuhe, die mir passten, meinen Füßen genug Platz boten und diese sogar noch wärmten. Doch das war auch die einzige Annehmlichkeit, die er als Schuster seiner Familie bieten konnte. Jeder einzelne Pfennig, den er mit seinem Handwerk verdiente, war dringend vonnöten, um uns fünf Kinder, meine Mutter und auch sich selbst durchzubringen. Er war ein redlicher Mann, keine Frage, und meine Mutter hatte getan, was wohl sie selbst und alle anderen von ihr erwarteten. Doch sollte das wirklich alles sein, was man sich vom Leben erträumen konnte? Breite Hüften von den vielen Geburten und am Ende einer jeden Woche nur die erschöpfte Erleichterung, alle durchgebracht zu haben? Ich bin die Älteste von uns Geschwistern, und immer wieder habe ich mir in meiner Kindheit anhören dürfen, die Schönheit von meiner Mutter geerbt zu haben. Ich nahm dieses vermeintliche Kompliment mit gemischten Gefühlen an, denn ich konnte mir nie vorstellen, dass die Frau, die ich außer an den Feiertagen immer nur in einem Arbeitskittel gesehen hatte, jemals so etwas wie eine Schönheit gewesen sein sollte.
Doch nun ja, die Geschmäcker sind eben verschieden, und ich wurde tatsächlich mit jedem Jahr meiner Entwicklung zufriedener mit meinem Aussehen. Ich konnte von Glück sagen, dass ich die Größe von meinem Vater mitbekommen hatte. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, überragte ich die anderen Mädchen meines Alters bereits um eine Kopflänge. Und ich war schon immer schlank gewesen, was zusammen mit meiner Größe dazu führte, dass ich unweigerlich alle Blicke auf mich zog, sobald ich einen Raum betrat. Gewiss wäre es schicklicher gewesen, diesem Umstand mit Zurückhaltung zu begegnen. Doch danach stand mir nicht der Sinn. Ja, ich gebe es zu: Ich genoss die Aufmerksamkeit, wann immer sie mir zuteilwurde. Und ich wusste, dass es genau dieses Aussehen und der mich umgebende Hauch von Arroganz waren, die Karl von Plesow auf mich aufmerksam werden ließen.
Ich war zwar die Tochter eines Schusters, doch ich hatte das Auftreten einer jungen Frau aus bestem Hause. Und niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, dass ich mich mit jemand anders als einem reichen, mir ebenbürtigen Mann abgeben würde. Ich strahlte aus, dass man mir etwas bieten müsste, und Karl von Plesow fühlte sich dieser Aufgabe offenbar gewachsen. Ich wusste nach unserem ersten Tanz, dass ich ihn dazu bringen würde, mir einen Heiratsantrag zu machen, und dass aus der Tochter eines einfachen Schusters die Freifrau Bernadette von Plesow würde. Ich war damals achtzehn und teilte mir mit einer anderen jungen Frau, die ebenfalls als Lehrling in der Schneiderei arbeitete, ein Zimmer bei einer Witwe, der Schwester unseres Lehrherrn. Nur eine Woche nachdem ich Karl kennengelernt hatte, legte ich meine Prüfung zur Schneiderin ab. Hätte ich ihn ein halbes Jahr früher getroffen – wer weiß, ob ich die Lehre in der kleinen Schneiderei in Berlin dann überhaupt noch beendet hätte.
Meine Eltern und Geschwister hat Karl nie kennengelernt. Ich ließ alles hinter mir, vor allem den provinziellen Mief Bad Harzburgs, wo ich aufgewachsen war und bis zum Antritt meiner Lehre gelebt hatte. Eine Weile schrieb ich noch Briefe und hielt den Kontakt, bis ich auch das einschlafen ließ. Ich musste eine Entscheidung treffen, und genau das tat ich. Ich sagte Karl, dass meine Eltern tot seien und ich nie Geschwister gehabt hätte, denn ich fand es besser, diesen endgültigen Schlussstrich zu ziehen.
Ich hatte mich für mein neues Leben entschieden und tat, was meiner Meinung nach notwendig war. Dies und nichts anderes ist meine Natur.