2. Kapitel
Sicher ist, dass jeder kriegt, was ihm zusteht.
Nur die Meinungen darüber, was das ist, gehen auseinander.
CONSTANTIN VON PLESOW
Gerd Nolte eilte mit gesenktem Kopf die letzten Meter, bis er mit seinem Begleiter den Eingang des Berliner Varietés erreichte. Sein Blick fiel auf das Werbeschild vor dem Astor, das in grellbunten Farben den spektakulären Auftritt der Volants Marocains
, der »Fliegenden Marokkaner«,
ankündigte. Die kleinen Lämpchen rund um das Schild waren nicht eingeschaltet, obwohl Constantin darauf bestand, dass diese auch am Tag brannten. Nolte öffnete die Tür und ließ seinen Begleiter schweigend eintreten. »Warte kurz«, sagte er, zog seinen Schlüssel hervor, ging durch eine Seitentür in den Nebenraum und schaltete die Außenbeleuchtung an. Dann kam er wieder heraus, zog die Tür hinter sich zu und atmete laut aus. »Komm. Der Chef ist um diese Zeit immer in seinem Büro.« Der andere nickte, doch er sagte kein Wort. Zusammen gingen sie die Treppen hinauf, dann über den Flur bis zu einer Tür, vor der seitlich rechts und links je zwei Stühle standen. Der Holzboden knarrte leicht unter ihren Schritten. »Setz dich hierhin und warte. Ich sag dir dann Bescheid.« Nolte klopfte kurz und trat in das Büro, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Kassier die Nutten ab und schick sie zum Waschen. Erst danach kriegen sie ihr Frühstück.« Constantin von Plesow
blätterte einige Papiere durch. Als Gerd Nolte das Büro betrat, sah er auf.
»Geht klar, Chef.« Ludger Schnurr, ein hochgewachsener, breitschultriger ehemaliger Boxer, der aussah, als hätte er keinen Hals, stand direkt vor dem Schreibtisch und wartete auf weitere Anweisungen. Schnurr war fürs Grobe zuständig, und jeder der sechs Männer, die außer ihm anwesend waren und allesamt in Constantins Dienst standen, wusste, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Seine schiefe Nase verriet, dass seine Deckung nicht die Beste gewesen sein konnte und er manchen Schlag hatte einstecken müssen. Doch im Austeilen, das wussten sie ebenfalls, war Schnurr noch stärker.
»Und pass auf, dass dich die Neue – wie heißt sie doch gleich? – nicht verarscht. Die kassiert extra, das habe ich schon ein paar Mal mitbekommen.« Constantin von Plesow nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie dann im Aschenbecher aus. Er warf einen Blick auf einen der Briefumschläge und legte ihn umgedreht links neben sich, während die weiteren Schreiben ungelesen im Papierkorb landeten.
»Ich werde drauf achten. Wenn sie’s nicht freiwillig rausrückt, durchsuch ich sie eben.« Schnurr grinste schief.
»Durchsuchen ja, aber nichts weiter«, wies Constantin ihn an. »Für zerschundene Ware können wir kein Geld verlangen. Also halt dich zurück.«
Schnurr nickte, machte kehrt und verließ das Büro.
Constantin warf Gerd Nolte, seiner rechten Hand, einen kurzen Blick zu. »Du bist spät dran.«
»Ich hatte noch was zu erledigen«, erklärte Nolte.
Constantin nickte kurz und sah die anderen fünf Männer an, von denen zwei in den Sesseln saßen, einer an den Tisch gelehnt war und zwei im Hintergrund standen. »Heute Abend wird
Ministerialrat Hermann von Hohewald zu Gast sein. Ich will, dass es ihm und seinen Begleitern an nichts fehlt.«
»Geht klar«, erwiderte Eduard Köhler, der zusammen mit Nolte dafür zuständig zeichnete, dass die Bar stets gut gefüllt war. »Wir haben gerade den neuen Champagner bekommen, so viel, dass wir ganz Berlin darin ersäufen können.«
»Und die härteren Sachen?«, fragte Constantin.
»Alles da, für noch mindestens einen Monat. Die Lager sind voll.«
»Heute Abend will ich keine Nutten sehen, es könnte nämlich sein, dass seine Frau mitkommt. Ich hab gehört, dass sie ihn oft begleitet. Heute Abend gibt’s Alkohol in Maßen und leichte Varietéunterhaltung. Alles andere folgt, wenn sich das Verhältnis gefestigt hat.«
»Also auch keine Nutten anderswo im Lokal?«
»Nur die, die auch als ›Bekanntschaften‹ durchgehen würden. Ich will keine dabeihaben, die ihre Titten nicht im Kleid lassen kann. Amüsement und Ablenkung von der Politik und den Sorgen des Alltags, aber so, dass es auch ehefrauentauglich ist.«
»Geht klar«, sagte Nolte und trat vor Constantins Schreibtisch. Sein Blick fiel auf den umgedrehten Briefumschlag. Er sah seinen Chef kurz an, dann konzentrierte er sich wieder auf den bevorstehenden Abend. »Wir kümmern uns um alles. Vor allem um Catherine. Seit sie selbst das Koks für sich entdeckt hat, muss man bei der mit allem rechnen.«
»Sie soll sich gefälligst zusammenreißen und ihr dämlicher Bruder auch. Sonst vermasseln sie am Ende noch alles«, polterte Constantin.
»Mach dir keine Gedanken. Zwei Tassen starken Kaffee, und wir kriegen sie schon wieder in die Spur.«
Constantin sah in die Runde. »In Ordnung. Dann ist es das für den Moment. Ich muss ein Telefonat führen.
«
Während die Männer einer nach dem anderen das Büro verließen, blieb Nolte stehen. »Kann ich dich gleich noch mal sprechen?«
»Ja. Aber erst das Telefonat.«
»In Ordnung.« Nolte ging zur Tür. »Ich komme gleich wieder.«
Kaum hatte seine rechte Hand die Tür hinter sich geschlossen, nahm Constantin den Telefonhörer ab und wartete, bis sich die Vermittlung meldete. »Ich möchte eine Verbindung zum Grand Hotel in Binz.«
»Einen Moment, bitte.«
Es knackte einige Male in der Leitung, dann hörte Constantin das Freizeichen.
»Grand Hotel Binz, Werner Druminski am Apparat.«
»Constantin von Plesow. Guten Tag, Herr Druminski. Ist meine Mutter im Haus?«
»Oh, Herr von Plesow. Welche Freude. Ja, sie ist da. Ich verbinde Sie. Einen kurzen Augenblick, bitte.«
Wieder knackte es in der Leitung.
»Constantin. Wie schön, dass du dich meldest.«
»Guten Morgen, Mutter. Ich wollte nur sichergehen, dass du gut zu Hause angekommen bist.«
»Ich danke dir. Ja, ich bin gut angekommen, und es ist alles zu meiner Zufriedenheit. Vor allem, seit ich gesehen habe, wie wunderbar die Geschäfte bei dir laufen. Da muss ich mir keine Sorgen machen.«
Constantin lachte auf. »Um mich? Nein, bestimmt nicht. Meldet euch bei mir, wenn ihr noch etwas braucht. Ich werde euch in Kürze weitere Gäste vermitteln.«
»Unsere Reservierungsbücher sind gut gefüllt«, berichtete Bernadette. »Dank dir. Es scheint sich herumzusprechen, dass man in unserem Hause die Sommerfrische am besten genießen kann.
«
»Ist der Baron mit seiner Familie noch da?«
»Ja. Mit seiner Frau und zweien seiner Kinder. Sein Sohn wird am Wochenende erwartet, er soll ein wenig Ablenkung haben vom anstrengenden Studium.«
Constantin lachte kehlig. »Vom Studium? Erzähl es nicht seinem alten Herrn, Mutter, doch das Studium macht der längst nicht mehr. Der ist die meiste Zeit hier in Berlin und geht seinem Vergnügen nach. Wenn er am Wochenende bei euch in Binz sein sollte, dann nur, um sich von seinem ausschweifenden Leben zu erholen.«
»Was sagst du da? Dann ist also nicht damit zu rechnen, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters tritt?«
»Mutter, er ist ein Nichtsnutz und bringt das Geld seines Vaters schneller durch, als der es verdienen kann.«
Bernadette schnaufte kurz. »Gut, dass du mir das sagst. Ich hatte ihn als Kandidaten für Josie ins Auge gefasst.«
»Lieber nicht. Sonst wäre das, was meine Schwester mit in die Ehe bringt, am Ende auch noch weg.« Wieder lachte er auf, diesmal lauter. »Ich muss Schluss machen, Mutter. Die Geschäfte warten. Ich wollte nur sichergehen, dass du wohlbehalten heimgekehrt bist.«
»Ach Constantin, eines noch.«
»Ja?«
»Es hat hier heute Morgen einen Zwischenfall gegeben. Ein Mann wurde am Strand angespült. Stell dir vor: Er hatte eine Kugel im Kopf.«
»Wer war es?«
»Einer der Männer von Bankier Bischoff.«
»Verdammt noch mal. Es gerät immer mehr außer Kontrolle.«
»Kannst du dir erklären, was dahintersteckt?«
Constantin konnte es sich nicht nur erklären, er kannte auch
die Hintergründe ganz genau, trotzdem sagte er: »Nein, noch nicht, doch ich höre mich mal um. Sollte sich bei euch irgendetwas tun, melde dich sofort bei mir. Ich kümmere mich darum.«
»Von Berlin aus?«
»Ja. Meine Leute sind zuverlässig, ob in Berlin oder Binz. Mach dir keine Sorgen, Mutter.«
»Gut, Constantin. Danke. Und nun geh wieder an deine Arbeit. Auf bald, mein Lieber.«
»Auf bald, Mutter.«
Beide legten auf.
Constantin dachte noch einen Moment über das Gehörte nach. Er wusste, dass der Markt immer härter umkämpft wurde und es alles andere als zimperlich zuging, wenn man seinen Platz behaupten wollte. Hier waren Durchsetzungsvermögen und klares Handeln gefragt. Kurz überlegte er, ob es klug wäre, bereits jetzt etwas zu unternehmen, entschied sich aber dagegen. Es gab derzeit keine konkrete Bedrohung, das Grand betreffend. Und erst wenn dies der Fall war, wäre es sinnvoll, seine Leute loszuschicken. Und das würde er auch tun. Zunächst galt es, hier in Berlin die Fäden fest in der Hand zu halten.
Es klopfte. »Ja?«
Nolte trat ein. »Renaldo will dich sprechen, und danach hab ich auch noch was.«
Constantin verdrehte die Augen. Er hatte jetzt kaum die Nerven für den Artisten. »In Ordnung. Schick ihn rein.«
Nolte nickte und trat beiseite. Constantin setzte ein verbindliches Lächeln auf und erhob sich von seinem Stuhl. »Renaldo, mein Guter. Ich hoffe, du bist in Höchstform? Wir erwarten heute Abend wichtige Gäste.« Er trat auf den dunkelhäutigen Varietékünstler zu, gab ihm die Hand und legte die andere in einer freundschaftlichen Geste darauf
.
»Es ist wegen Catherine«, begann Renaldo. »Sie fühlt sich nicht besonders. Ich glaube nicht, dass sie heute Abend auftreten kann.«
»Möchtest du etwas trinken? Whisky? Er ist aus Irland importiert. Feine Ware.«
»Nein danke.« Renaldo schüttelte den Kopf. Ihm war deutlich anzusehen, dass ihm bei dem Gespräch alles andere als wohl war.
Constantin ging zum Bartisch hinüber, auf dem etliche Flaschen und Gläser standen, und schenkte sich ein. Er trank einen Schluck, dann wandte er sich wieder seinem Besucher zu.
»Kannst du dich noch an eure Anfänge hier erinnern, Renaldo? Vor zwei Jahren hat euch keiner gekannt, und heute werdet ihr gut gebucht. Wir haben eigens für euch umgebaut. Das Trapez, die Aufhängungen an der Decke für die Seile, die Leitern.«
»Ich weiß, Constantin«, beeilte sich der Angesprochene zu versichern. »Und ich bin dir wirklich dankbar. Wir«
, korrigierte er rasch, »wir sind dir dankbar.«
Constantin trank noch einen Schluck und legte Renaldo jovial den Arm um die Schultern. »Weißt du, ihr müsst mir nicht dankbar sein.« Plötzlich schwang etwas Gefährliches in seiner Stimme mit. »Ich brauche keinen Dank. Wir sind schließlich Freunde. Genau genommen, mag ich es nicht einmal, wenn man mir dankt. Allerdings erwarte ich von meinen Freunden Loyalität und dass ich mich ebenso auf sie verlassen kann, wie sie sich auf mich verlassen können. Verstehst du, Renaldo?« Er nahm den Arm von der Schulter des Artisten, prostete ihm zu und trank den letzten Schluck.
Renaldo nickte ergeben. »Du kannst dich auf uns verlassen. Ganz bestimmt. Wir wollen keinen Ärger, Constantin.«
»Aber, aber.« Er winkte ab. »Wer wird sich denn hier ärgern? Ihr macht einfach, was ihr am besten könnt: Ihr tretet heute
Abend auf, wie überall auf den Plakaten angekündigt. Catherine wird schön und begehrenswert aussehen, wenn sie am Trapez durch die Luft schwingt und dann sicher in deinen Armen landet, wenn sie auf deinen Schultern balanciert oder ihr an den Leitern eure Kunststücke darbietet. Ihr werdet das Publikum begeistern. Dann setzt ihr eure Reise fort und liefert aus, was ich euch mitgebe.« Er öffnete die Arme und lächelte breit. »Und schon, mein lieber Renaldo, sind wir alle glücklich.«
»Ich weiß nicht, ob Catherine bei den Hebefiguren und am Trapez das Gleichgewicht halten kann. Sie ist wirklich nicht in bester Verfassung.« Renaldo sah zu Boden.
»Dann sorgst du eben dafür, dass sie bis heute Abend in guter Verfassung ist.« Constantin lächelte, doch in seiner Stimme lag etwas Warnendes. »Es ist doch ganz einfach. Gib ihr etwas von dem, was sie so gern mag. Aber nicht zu viel. Dann wird es schon werden.«
»Sie geht daran zugrunde.« Renaldo schluckte hart.
»Möglich«, erwiderte Constantin. »Doch nicht heute Abend. Denn heute Abend wird sie eine ganz unglaubliche Vorstellung bieten, nicht wahr? Und du wirst dafür Sorge tragen. Ich verlasse mich auf dich, mein Freund.« Er betonte das letzte Wort.
Renaldo wollte etwas erwidern, doch Constantin kam ihm zuvor.
»Entschuldige mich bitte, die Geschäfte rufen.«
Renaldo nickte, den Blick zu Boden gerichtet. Offenbar rang er mit sich, doch dann verließ er ohne einen weiteren Gruß den Raum.
Constantin verdrehte die Augen, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich, um sich einige Papiere vorzunehmen. Nach kaum fünf Minuten klopfte es erneut.
»Ja?
«
»Chef, der Freund ist hier, von dem ich dir erzählt habe«, vermeldete seine rechte Hand.
»Welcher Freund?«
»Der Freund meines Vetters, der Arbeit sucht.«
Constantin seufzte. »Schick ihn rein.«
Gerd Nolte war mit seinen fast fünfzig Jahren der älteste unter den Männern, die für Constantin arbeiteten. Er war früher Buchhalter gewesen und noch heute vor allem für die Papiere sowohl des Hotels als auch des Varietés zuständig. Er war Constantins Problemlöser und gleichzeitig derjenige, der sich mit den Rechtsanwälten beriet, sobald es Schwierigkeiten gab. Ein Privatleben kannte er nicht. Niemand wusste, dass seine Frau vor drei Jahren verstorben war. Constantin und er sprachen nie über etwas anderes als das Geschäft, das Nolte zum Lebensinhalt geworden war. Er war für seinen Chef ein unentbehrlicher Berater – doch ein Freund war er nicht. Nun betrat er, gefolgt von einem Mann, der um die eins neunzig groß sein mochte, Constantins Arbeitszimmer und schloss hinter ihnen die Tür.
Constantin deutete auf die Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte.«
»Danke, Herr von Plesow.«
Die beiden nahmen ihre Plätze ein.
»Wie heißen Sie?«
»Klaus Denker.«
»Und was haben Sie bisher gemacht?«
»Er hat nicht weit von meinem Vetter entfernt gewohnt, Constantin. Gerald, mein Vetter, sagt, dass er sich immer auf Klaus verlassen konnte«, mischte Nolte sich ins Gespräch ein. Aber seine Stimme klang unsicher.
Constantin hob die Brauen. Er kannte Nolte nun schon lange genug, um zu wissen, wann dieser ihm etwas zu verheimlichen
versuchte. »Wie schön, dass dein Vetter das sagt. Also, Klaus – ich darf doch Klaus sagen?«
»Ganz wie Sie wollen.«
»In Ordnung, Klaus, nennen Sie mich Constantin. Also, was haben Sie beruflich gemacht?«
»Ich war Elektriker, bevor der Krieg kam. Dann musste ich an die Front.«
»Einen Elektriker brauche ich nicht. Ich habe schon jemanden, der sich um solche Dinge im Hotel kümmert.«
»Ich nehme jede Arbeit an«, erklärte Denker.
»Was haben Sie nach dem Krieg gemacht? Er ist immerhin sechs Jahre her.«
Denker warf Nolte einen fragenden, fast hilfesuchenden Blick zu. Dieser zuckte mit den Schultern.
Denker seufzte. »Ich habe gesessen.«
»In Ordnung«, erwiderte Constantin. »Weshalb?«
Der andere sah schweigend zu Boden.
»Ich habe kein Problem damit«, stellte Constantin klar. »Sagen Sie mir nur, weshalb Sie im Gefängnis waren.«
»Es ist nicht so, wie es sich im ersten Moment anhört«, warf Nolte schon wieder ein.
»Weshalb?«, fragte Constantin nur.
»Totschlag«, antwortete Klaus Denker.
Sofort stand Constantin auf. »Was soll das, Gerd? Du kennst die Regeln. Kein Mord, kein Totschlag, keine Vergewaltigung.«
»Hör dir seine Geschichte an, Constantin.«
»Das muss ich nicht.«
»Tu es. Aus Freundschaft zu mir. Bitte.«
Constantin setzte sich wieder, sagte aber nichts. Nolte stieß Denker auffordernd an.
Dieser brauchte einen Moment, bevor er zu sprechen begann. »
Ich hatte eine Frau und zwei Kinder«, erklärte er. »Konnte es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen. Ich war in russischer Gefangenschaft, hab die letzte Kriegszeit eingesperrt verbracht. Irgendwann sagten sie, der Krieg sei vorbei, und haben uns freigelassen.« Er presste die Lippen aufeinander. »Ich bin dann zurück nach Tremsbüttel.«
»Tremsbüttel?«, fragte Constantin.
»Das ist in der Nähe von Hamburg«, erklärte Denker. »Da haben wir damals gewohnt. Ist nicht groß da.«
»Ich verstehe.«
»Na ja, ich hab mich gefreut, endlich wieder heim zu dürfen. Doch als ich dort ankam, war niemand da.« Er schluckte schwer, knetete seine Hände, kaute auf der Unterlippe. »Gerufen hab ich, aber keiner hat geantwortet. Hab überall nachgesehen. In den Zimmern, sogar im Keller. Dann bin ich zur Werkstatt rüber.«
Constantin legte die Stirn in Falten und sah zu Gerd, der fast unmerklich nickte.
»Da hab ich sie dann gefunden. Alle drei lagen sie da.«
»Ihre Frau und Kinder waren tot?«
Denker nickte, den Blick weiter zu Boden gerichtet. »Else war vergewaltigt worden, und allen dreien hatte man die Schädel eingeschlagen.« Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Das tut mir leid«, sagte Constantin. »Warum hat man Sie für die Tat verantwortlich gemacht?«
Denker zuckte mit den Schultern. »Es hieß, es habe dort schon eine Weile so ein Kerl bei Else und den Kindern gelebt. Die Nachbarn haben das gesagt. Angeblich hatte Else irgendwann die Nachricht erhalten, dass ich gefallen war.«
»Aber deshalb hängt Ihnen doch niemand die Morde an.«
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Sie haben behauptet, Else hätte mich nach meiner Heimkehr aus dem Krieg
fortgeschickt. Angeblich hab ich sie und die Kinder deshalb erschlagen. Doch das stimmt nicht. Sie waren schon tot. Das schwöre ich.« Er sah Constantin an. »Ich schwöre es bei meinem Leben.«
»Aber Ihnen hat niemand geglaubt?«
Denker schüttelte den Kopf. »Der Prozess war schneller vorbei, als ich gucken konnte. Der Anwalt, den sie mir gegeben haben, meinte, ich könne froh über das Urteil sein. Totschlag im Affekt. Acht Jahre. Ich habe nicht alles absitzen müssen. Seit ich wieder raus bin, halte ich mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.« Er sah zu Boden, dann wieder hoch und Constantin direkt in die Augen. »Ich werde keinen Ärger machen. Hab ich nie. Bitte geben Sie mir die Chance. Ich mache alles, was Sie sagen, Herr von Plesow.«
Constantin rang mit sich. Nicht, weil ihn die Geschichte besonders gerührt hätte, wenngleich er sicher war, dass dieser Mann die Wahrheit sagte. Vielmehr glaubte er, auf ihn zählen zu können, wenn er ihm jetzt die Chance gab, um die er bat. »Ich werde es mir überlegen.« Er stand auf, und auch Denker und Nolte erhoben sich. Er reichte Klaus die Hand. »Gerd wird sich bei Ihnen melden.«
»Danke, Herr von Plesow.« Er schüttelte ihm die Rechte.
»Constantin«, wiederholte dieser.
»Danke.« Die beiden Männer gingen zur Tür.
»Ach, eines noch«, rief Constantin ihnen nach. »Werden Sie versuchen, den Kerl zu finden, der Ihre Familie getötet hat?«
Denkers Miene versteinerte. »Nein. Das ist für mich erledigt.«
»In Ordnung. Danke. Ich melde mich.« Jetzt war Constantin sicher, dass Denker, was die Geschichte über seine Familie anging, nicht gelogen hatte. Denn gerade eben stand ihm die Lüge, nicht nach deren Mörder suchen zu wollen, so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er es auch in großen Lettern auf ein Plakat hätte drucken können
.
»Gerd, warte.«
»Ja?«
Constantin bedeutete ihm, noch einmal zurückzukommen. Nolte verabschiedete sich von Klaus und ging wieder zu Constantins Schreibtisch.
»Ich sage es dir nur ein einziges Mal.« Constantins Stimme klang warnend. »Schlepp mir nie wieder einen hier an, der wegen so etwas gesessen hat, ist das klar?«
»Ich … ich dachte nur, weil er ja unschuldig ist …«
»Dann denk nicht.« Constantin hob den Zeigefinger. »Nie wieder, haben wir uns verstanden?«
»Ja, Chef. Nie wieder.«
»In Ordnung. Und nun geh ihm nach. Er hat die Stelle.«
Nolte sah ihn überrascht an. Sein Gesicht hellte sich auf. »Danke, Constantin. Ich wusste es. Ich …«
»Raus jetzt, bevor ich es mir anders überlege.« Sein Blick fiel auf den Brief auf seinem Schreibtisch. »Ach, eines noch, Gerd.« Er nahm den Brief und reichte ihn Nolte. »Geh da hin und schmier die Leute. Die wollen die Hauszinssteuer noch mal anheben. Mach denen klar, dass wir schon bezahlt haben, und dann leg ihnen was auf den Tisch, damit sie uns in Ruhe lassen. Wenn das nicht hilft, soll Ludger denen mit ein paar anderen begreiflich machen, dass wir mehr nicht zahlen werden. Neuer Erlass hin oder her. Das ist mir scheißegal.«
»Mach ich, Chef!« Nolte griff nach dem Brief und beeilte sich. Bevor er die Tür von außen schloss, drehte er sich noch einmal um. »Danke, Chef. Du hast was gut bei mir wegen Klaus.«
Constantin winkte ab. »Als ob mir das je etwas nützen würde.«