29. Kapitel
Augenblicke der Zärtlichkeit müssen in Maßen genossen werden. Denn sie neigen dazu, einen Menschen schwach werden zu lassen.
BERNADETTE VON PLESOW
Bernadette schmiegte sich an Götz’ Brust und zog mit dem Finger zärtliche Linien auf seiner Haut. Wie sehr sie doch das Zusammensein mit diesem Mann genoss.
Für übermorgen hatte sich Ernst Bautner angekündigt, der mit Bernadette über ein, wie er es am Telefon formuliert hatte, sehr lohnendes Geschäft für alle Beteiligten sprechen wollte.
Noch vor wenigen Wochen hätte Bernadette dem Abend mit Freude entgegengesehen. Nicht weil sie mit dem Politiker Zeit verbringen wollte, sondern weil er derartige Ankündigungen nie aus dem Nichts heraus machte und weil dabei stets etwas ausgesprochen Vorteilhaftes für das Hotel heraussprang. Früher hätte sie sich darauf gefreut zu erfahren, was er ihr vorschlagen würde, nun jedoch graute ihr davor, ebenjenes lohnende Geschäft am Ende des Abends auf die Art und Weise honorieren zu müssen, die Bautner von ihr erwartete.
Sie schalt sich selbst eine Närrin, weil sie nach all den Jahren derart zimperlich geworden war. Was war schon dabei, bei einem Mann Lust zu heucheln, wenn man im Gegenzug dafür bekam, was man wollte? Doch allein der Gedanke an die feisten Hände des Politikers, die sie überall begrabschten und ihren Körper für sich beanspruchten, ekelte sie an. Sie wollte das nicht mehr, schlimmer noch: Sie hatte das Gefühl, es nicht mehr zu ertragen, ohne laut schreien zu müssen.
Die Nächte mit Götz waren so voller Zärtlichkeit und Hingabe, so leidenschaftlich und innig, wie Bernadette sie in ihren kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte. Bei dem Gedanken, dass in zwei Tagen Ernst Bautner die Hände nach ihr ausstrecken und in sie eindringen würde, wurde ihr übel. Womöglich könnte sie, sobald sie wusste, worum es ging, eine Unpässlichkeit vortäuschen oder schon während des Essens immer mal wieder einfließen lassen, dass sie glaubte, krank zu werden, und sich schon seit Tagen angegriffen fühlte. Sie hatte sich ihm in all den Jahren bereitwillig hingegeben und nicht ein einziges Mal zu solchen Ausreden gegriffen, auch wenn es ihr nicht immer leichtgefallen war. Zwar wäre das keine dauerhafte Lösung, doch wenigstens reichte sie dieses Mal aus. Und womöglich würde es ihr beim nächsten Mal schon nicht mehr ganz so schwerfallen.
Aber nein. Sie verwarf den Gedanken. Eine solche Ausrede würde sie selbst als Schwäche empfinden, so verweichlicht, so undiszipliniert war sie einfach nicht. Und wenn sie noch so starken Ekel empfand, so wollte sie Bautner doch für ihre Zwecke benutzen. Also durfte er von ihr eine Gegenleistung erwarten. Geschäft war eben Geschäft.
»Woran denkst du?«, fragte Götz sanft, während er ihren Oberarm streichelte.
»An nichts Bestimmtes«, log Bernadette. »Ich genieße einfach den Moment.«
»Weißt du, woran ich gerade denke?«
»Nein.«
»Ich möchte dich nicht mehr gehen lassen. «
»Ich dich auch nicht«, erwiderte sie liebevoll.
»Nein«, sagte Götz, »ich meine es ernst, Bernadette. Die Heimlichtuerei, die gestohlenen Momente, all das hängt mir zum Halse raus. Wir sind nun wahrlich keine jungen Leute mehr, die sich heimlich in irgendwelchen Büschen herumdrücken.«
»Na hör mal, das hier ist eines unserer besten Zimmer und gewiss kein Gebüsch, Herr Major.«
»Bitte, lass die Scherze. Es ist mir ernst. Wir treffen uns nun schon eine ganze Weile. Vor wem verstecken wir uns? Du bist seit vielen Jahren Witwe, ich war nie verheiratet. Ist es wirklich so ungewöhnlich, dass sich zwei Menschen auch in fortgeschrittenen Jahren finden und ineinander verlieben?«
»Ach Götz«, sagte Bernadette und setzte sich auf. »Jeder hier im Ort kennt mich. Ich möchte mich dem Gerede nicht aussetzen.«
»Das verstehe ich sehr gut. Das möchte ich auch nicht. Doch wer sollte über uns reden, wenn wir verheiratet wären?«
Im ersten Moment machte Bernadettes Herz einen kleinen Sprung, im nächsten jedoch wurde sie ernst, sogar traurig. »Ach Götz, wie soll das denn gehen? Ein Major, der noch immer im Dienst der Armee steht und jederzeit abberufen werden kann, und eine Geschäftsfrau, die stets nur ihr Hotel im Kopf hat.«
»Nicht nur das Hotel, wie deine Anwesenheit hier beweist.«
Bernadette ging nicht auf seine Bemerkung ein. »Und du bist sogar jünger als ich.«
»Ganze vier Jahre. Ich bitte dich, Bernadette. Das kannst du unmöglich ernst meinen.«
Bernadette schwang ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Sie spürte, wie seine Blicke auf ihrem nackten Körper ruhten. Sie war noch immer eine schöne Frau und ihre Figur makellos. Langsam ging sie zum Stuhl hinüber, griff sich sein Hemd und zog es sich über, dann nahm sie sich eine seiner Zigaretten, zündete sie an und öffnete das Fenster. Genussvoll stieß sie den Rauch aus.
»Ich hatte nie vor, noch einmal zu heiraten«, stellte sie fest.
»Warum nicht? Was hast du dagegen?«
»Ich bin eine unabhängige Frau, Götz, und genau das möchte ich auch bleiben.«
»Deine Unabhängigkeit ändert sich doch nicht, nur weil wir es offiziell machen.«
»Es hat schon viele Männer gegeben, die das behauptet haben und sich am Ende beschwerten, wenn ihre Frau nicht den ganzen Tag nur für sie und ihre Bedürfnisse da war.«
Götz stand ebenfalls auf und kam nackt zu ihr herüber. »Das sind alles nur Ausreden, Bernadette, und das weißt du. Ich würde nie von dir erwarten, dass du für mich kochst. Genau deshalb habe ich ja nie geheiratet. Mit einer solchen Frau könnte ich nichts anfangen.«
Bernadette zog an der Zigarette und stieß den Rauch aus, dann reichte sie sie Götz. Einen Moment sagte keiner von beiden ein Wort.
»Soll ich vor dir auf die Knie gehen, Bernadette? Ist es das, was du willst?« Es klang weder wütend noch wie ein Vorwurf, lediglich wie eine aufrichtig gemeinte Frage.
»Nein, bitte tu das nicht«, sagte sie schnell.
»Was muss ich dann tun? Habe ich nicht längst dein Herz für mich gewonnen? Warum machst du es mir so schwer, an dich heranzukommen?«
Bernadette wusste darauf nichts zu sagen.
»Die Momente, in denen wir zusammen sind, könnten nicht leidenschaftlicher sein. Ich habe so etwas nie zuvor erlebt, nicht so intensiv und voller Tiefe. Ich habe mich in dich verliebt, Bernadette. Und ich spüre, dass du ebenso empfindest. Wie kann ich dich dazu bringen, dich zu mir zu bekennen?«
»Es wäre mir unangenehm den Kindern gegenüber.«
»Den Kindern gegenüber ?«, echote er. »Du meinst die drei Erwachsenen, von denen zwei in Berlin ihr eigenes Leben leben und einer hier in Binz der Geschäftsführer des Hotels ist, über das du so eisern wachst?«
»Können wir nicht einfach alles so lassen, wie es ist?« Sie nahm ihm die Zigarette wieder ab, zog daran und lehnte ihre Stirn gegen seine Brust. »Es ist doch gut so.«
»Gestohlene Momente, heimliche Blicke und nur nicht zusammen gesehen werden – das ist für dich gut? Das kannst du doch nicht ernst meinen.«
»Ach Götz.« Sie sah ihn an. »Mach es mir doch bitte nicht so schwer.«
»Was ist der wahre Grund, Bernadette?«
»Es ist all das, was ich dir eben gesagt habe.«
»Es tut mir leid, aber ich glaube dir nicht. Das erste Mal, seit wir uns kennen, spüre ich, dass du lügst.«
»Ich sollte jetzt gehen.« Sie drücke die Zigarette im Aschenbecher aus.
»Nein«, widersprach Götz, »es wird wohl andersherum sein. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt. Es ist dein Hotel und damit offenbar an der Zeit, dass ich gehe, nicht du.«
»Bitte, Götz, sei nicht so.«
»Wie denn? Unbequem? Ist dir ein solcher Zeitvertreib dann nicht mehr angenehm?«
Sie sah ihn nur an, wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Du schweigst so laut, dass es in meinen Ohren dröhnt.«
»Ich habe dich nie verletzen wollen, Götz.«
»Warum tust du es dann? «
Sie gab ihm einen Kuss und sah ihn nachdenklich an. Dann wandte sie sich ab und griff nach ihrer Kleidung. Sie wollte ins Bad gehen, sich anziehen und das Zimmer verlassen, einfach der Situation entfliehen und der Sache so ein Ende bereiten, doch das konnte sie nicht. Die Vorstellung, Götz könnte wieder aus ihrem Leben verschwinden, schnürte ihr die Brust zusammen.
»Ist es wegen Bautner, dieses Politikers?«
Bernadette fühlte sich ertappt. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich zu Götz um. »Wie kommst du darauf?«
»Ich bin es gewohnt, Menschen zu lesen, Bernadette. In meinem Beruf kann ein Leben davon abhängen.«
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. »Es ist nicht, wie du denkst.«
»Doch, ich glaube schon, dass ich die Situation gut einschätzen kann. Bautner ist für dich Mittel zum Zweck, um für das Hotel zu erreichen, was du anstrebst. Und er benutzt dich genauso für seine Zwecke. Ihr seid ein stilles Bündnis eingegangen, das offenbar schon lange gut funktioniert hat.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Die Frage ist nur, ob du das jetzt noch willst.«
Bernadette kam sich vor, als läse Götz tatsächlich in ihr wie in einem offenen Buch. »Und du verurteilst mich nicht dafür?«
»Wie könnte ich? Das steht mir nun wirklich nicht zu. Jeder von uns hat im Leben Dinge getan, auf die er nicht stolz ist, die aber aus der Situation heraus notwendig erschienen. Glaubst du, mir hat es Freude gemacht, im Krieg Männer niederzumachen, die gerade mal so alt waren wie mein kleiner Bruder?«
»Du hast einen Bruder?«
»Nein, nicht mehr. Er ist gefallen. Einer wie ich, nur eben auf der Gegenseite im Einsatz, hat ihn erschossen.«
»Das tut mir leid.«
»Ich bin allein, Bernadette, genau wie du. Ob du es dir nun eingestehst oder auch nicht – deine Kinder sind groß und führen ihr eigenes Leben. Und das Grand, dein geliebtes Hotel, wärmt dich nicht, wenn dir nachts kalt wird.«
»Aber für mich gab es immer nur das. Das ist mein Leben, Götz.«
»Nein, das denkst du nur.« Er zog sie in seine Arme. »Dein Leben sind Momente wie dieser, in denen wir uns aneinander festhalten und uns Kraft geben. Das Hotel ist nur deine Arbeit, deine Aufgabe. Und ich würde nie von dir erwarten, das aufzugeben. Aber du bist schon so lange allein und tief im Innern unglücklich, dass du es gar nicht mehr wahrzunehmen scheinst.« Er küsste sie zärtlich, erst auf den Mund, dann auf den Hals, und dann drückte er ihren Kopf sanft an seine Brust und strich ihr übers Haar. »Ich liebe dich, Bernadette. Gib dir einen Ruck und lebe mit mir.«
»Und das Hotel?«
»Das entscheidest du. Du musst für mich nichts aufgeben.«
»Dieses Jahr, glaube ich, haben wir es endgültig geschafft. Ich wollte immer das erste Haus am Platz haben, wollte besser sein als alle anderen Hotels.«
»Also hast du dein Ziel erreicht?«
»Ja. Und mit der neuen Terrasse nehmen wir auch die letzte Hürde und sind dann konkurrenzlos. Nicht einmal Kaub kann da noch mithalten.« Sie sah ihn an. »Er ist der Besitzer des Palais, nur ein Stück weiter die Strandpromenade hinunter.«
»Ich verstehe. Und wenn du das alles geschafft hast, wonach strebst du dann?«
»Dann werde ich weitermachen.«
»Und zu welchem Zweck?«
Sie dachte nach. »Macht, Einfluss, Reichtum, Ansehen.«
»All das hast du schon, Bernadette. Und vergiss die Angst nicht, die manche vor dir haben. «
»Angst ist wohl ein zu starkes Wort. Ich würde es eher Respekt nennen.«
»Nein, ich denke, Angst trifft es ganz gut. Ich habe dein Personal beobachtet, wenn du in der Nähe bist, Bernadette. Die meisten fürchten dich. Du kannst sehr unbarmherzig sein. Ich glaube, das ist dir nicht einmal klar.«
Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Einerseits, so musste sie sich eingestehen, gefiel ihr, was Götz da sagte, zollte man ihr doch genau damit den Respekt, den sie sich über die Jahre hart hatte erarbeiten müssen. Andererseits wollte sie nicht, dass ihre Angestellten Angst vor ihr hatten. Sie wollte nur, dass jeder seine Aufgaben kannte und auch erfüllte. Das war doch nun wirklich nicht zu viel verlangt.
»Du findest mich also zu hart?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber andere empfinden dich so. Ich weiß, dass es die Umstände sind, die dich so hart haben werden lassen. Und ich weiß auch, dass es da eine ganz andere Seite an dir gibt. Ich habe schließlich gesehen, wie du Marie gerettet und was du alles für sie getan hast. Du bist eine echte Kämpferin, Bernadette. Wir hätten Männer deines Schlags auf dem Schlachtfeld gut gebrauchen können.«
Bernadette war nicht sicher, ob sie Götz’ Bemerkung als Kompliment nehmen sollte.
»Und was rätst du mir?«
»Du willst meinen Rat? In Bezug worauf?«
»Wie ich mich entscheiden soll.«
Er lächelte. »Es wäre ein sehr eigennütziger Rat, den ich dir geben müsste.«
Bernadette atmete tief durch, umarmte Götz und ließ sich von ihm halten. »Gib ihn mir trotzdem.«
»Heirate mich, Bernadette. Werde meine Frau und lass zu, dass die Seite an dir zum Vorschein kommt, die so lange unter der Oberfläche bleiben musste. Führ das Hotel weiter oder überlass Alexander mehr Macht. Das ist deine Entscheidung.«
»Wenn ich dich heirate, werde ich die Vergünstigungen, die Bautner dem Hotel bislang hat zukommen lassen, wohl vergessen können.«
»Dann vergiss sie eben. Du hast alles erreicht und noch mehr, Bernadette. Du wirst dieses Jahr fünfzig. Wann willst du anfangen, richtig zu leben, wenn nicht jetzt?«
»Aber Alexander ist noch nicht so weit.«
»Hab ein bisschen Vertrauen«, riet Götz. »Er wird nie so weit sein, dass er es dir recht machen kann, wenn du nicht ein bisschen Entgegenkommen zeigst und die Zügel lockerst.«
Eine Weile sagte keiner von beiden etwas. Sie standen einfach nur da, aneinandergelehnt und so tief verbunden, wie zwei Menschen es nur sein können.
»Ich glaube, dein Rat ist gut«, befand Bernadette nach einer Weile.
»Und was heißt das?« Ohne seine Umarmung zu lösen, trat er einen Schritt zurück und suchte ihren Blick.
»Ja. Ja, ich werde dich heiraten. Unter einer Bedingung.«
»Unter welcher?«
»Ich werde die Sache mit Bautner beenden, doch ich werde mich nicht davonstehlen. Ich weiß nicht, was er mir zu sagen hat. Doch sollte ich es für notwendig erachten, werde ich ein letztes Mal mit ihm schlafen und die Sache dann mit Anstand zu Ende bringen.«
Götz zögerte. »Ein letztes Mal und dann nie wieder.«
»Darauf hast du mein Wort.«
»Nun, leicht fällt es mir nicht.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Tu es, wenn du es für unabdingbar hältst. Doch dann«, er hob den Zeigefinger, »verkünden wir unsere Verlobung, und du gehörst nur noch zu mir.«
»Ja«, sagte sie nur. »Das verspreche ich.«
Er zögerte kurz, dann strahlte er übers ganze Gesicht, zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Sie hielten sich fest, ihre Küsse wurden heftiger, fordernder. Und schließlich sanken sie wieder aufs Bett und liebten sich erneut.
Eine eigenartige Veränderung war seit Götz’ Antrag in Bernadette vorgegangen. Nur dieses eine Mal noch war sie bereit, ein Opfer zu bringen, um das Hotel besserzustellen. Einmal noch würde sie sich Bautner hingeben, wenn sie es für notwendig erachtete. Danach wäre Schluss. Sie spürte, dass es nicht ausschließlich wegen Götz war. Auch die Tatsache, dass die Situation mit Kaczmarek bereinigt war und sie nun in der Gewissheit leben konnte, dass es niemanden mehr gab, der das Geheimnis ihres verstorbenen Mannes kannte und es ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen drohte, gab ihr eine bis dahin nicht gekannte Ruhe. Andererseits war da auch der Spiegel, den Götz ihr vorgehalten hatte und der ein Bild von ihr zeigte, das ihr nicht mehr behagte. Sie hatte all die Jahre über nur für den Erfolg des Hotels gearbeitet, ja eigentlich dafür gelebt. Das Hotel und ihre Kinder waren ihr das Wichtigste in ihrem Leben. Und nun, nachdem sie für das Grand alles erreicht hatte und die Kinder ihr eigenes Leben führten, musste sie feststellen, dass sie als Mensch dabei auf der Strecke geblieben war. Sie sah ohne Reue zurück, doch sie wollte etwas ändern. Götz hatte ihr gezeigt, dass es an der Zeit war, wirklich zu leben. Weshalb sollte sie sich immer weiter und weiter um Dinge kümmern, die ebenso gut andere erledigen konnten? Es wäre an Alexander, künftig die Geschicke des Grand zu lenken, und es würde sich zeigen, wie gut er ohne ihre Hilfe und Unterstützung zurechtkam .
Bernadette spürte, dass sie loslassen musste, wollte sie nicht sich selbst verlieren. Sogar dem Abend mit Bautner sah sie nun fast mit Freude entgegen, hatte sie für sich doch die Entscheidung getroffen, es von der Stimmung abhängig zu machen, ob sie ihn bereits heute Abend über die Veränderungen informieren würde oder nicht. Nun musste sie es nur noch ihren Kindern beibringen. Sie war noch nicht dazu gekommen – oder hatte sich noch nicht durchringen können, wie Götz behauptete. Sie fand es bewundernswert, wie mühelos er sie durchschaute und dennoch liebte. Sie hätte nie gedacht, dass dies möglich sein könnte.
»Ernst, mein Lieber.« Sie reichte Bautner die Hand zum Kuss. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Du siehst einfach umwerfend aus, Bernadette.«
»Ich danke dir.« Sie winkte dem Kellner und bestellte zwei Gläser Champagner.
»Du weißt also schon, dass wir etwas zu feiern haben?«, fragte Bautner strahlend. »Haben die Gerüchte bereits die Runde gemacht?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber bestimmt wirst du mir gleich davon erzählen.«
Der Kellner kam mit dem Champagner. Bautner hob das Glas. »Gideon Kaub wird das Palais verkaufen und sich aus Binz zurückziehen.« Er prostete der überraschten Bernadette zu.
»Was sagst du da? Das glaube ich nicht.«
»Aber es stimmt. Er wollte weitere Baugenehmigungen beantragen, doch das wurde ihm versagt. Außerdem tut sich der Gemeinderat schwer, ihm ebenfalls den Bau einer Terrasse an der Promenade zu genehmigen, weil das Grundstück direkt an die Nebenstraße grenzt und hier die entsprechenden Abmessungen nicht eingehalten werden könnten. Du hast es geschafft, Bernadette. Du hast ihn in den Staub getreten. «
Bernadette schmunzelte. Sie konnte es kaum glauben. Kaub gab also wirklich auf. Sie hob das Glas und stieß mit Bautner an. »Wer wird das Palais kaufen? Hat er schon jemanden gefunden?«
»Da ist die nächste Überraschung. Er hatte wohl jemanden, doch durch das Zurückziehen der Bauanträge und die nun notwendige Neuantragstellung für die erforderlichen Ausbauten ist der potenzielle Käufer wieder abgesprungen. Nun steht Kaub schlechter da als je zuvor und möchte das Palais so rasch wie möglich abstoßen.«
»Denkst du, er würde es mir geben?«
»Ich weiß nicht, wie groß seine Verzweiflung ist. Du kannst ihn fragen, doch ich nehme an, du wärst die Letzte, der er sein Hotel überlassen würde.«
»Hm«, machte Bernadette nachdenklich. In ihrem Kopf arbeitete es. Das Palais. Das einzige Hotel, das dem Grand ansatzweise das Wasser reichen konnte. Es umzubauen und zu einem weiteren Grand zu machen wäre eine große Aufgabe. Noch einmal neu zu beginnen, die Fehler, die ihr während des Aufbaus des Grand unterlaufen waren, zu vermeiden und sich der Herausforderung zu stellen, ganz gleich, wie groß sie sein mochte, ließ ein Kribbeln durch ihren Körper fahren.
»Ich sehe, dass du dir bereits ausmalst, wie du den alten Kaub überlisten kannst«, stellte Bautner belustigt fest und trank seinen Champagner aus. Bernadette sah ihn an, dann veränderte sich ihre Miene. Was sollte sie jetzt tun? Die Aufgabe, alles von Neuem anzugehen, reizte sie über die Maßen, doch dann würde sie Bautner noch eine Weile bei der Stange halten müssen. Ohne ihn könnte es schwer werden, in kurzer Zeit alle erforderlichen Baugenehmigungen zu bekommen. Sie würde ihn in den kommenden Monaten mehr denn je an ihrer Seite brauchen. Ihre Gedanken überschlugen sich .
»Ich muss mit dir sprechen, Ernst«, sagte sie schließlich.
»Aber sicher. Worüber denn?«
»Du wirst mich für eine Närrin halten, doch ich schätze und respektiere dich zu sehr, als dass ich dich belügen möchte.«
»Nun bin ich aber gespannt.«
»Ich werde heiraten, Ernst. Und bevor ich mir weitere Gedanken um einen möglichen Erwerb des Palais mache, wüsste ich gern, ob ich auch nach meiner Eheschließung auf deine Unterstützung zählen kann.«
Bautner setzte sich aufrecht hin. Seine Miene wurde arrogant. »Ich gebe zu, dass ich überrascht bin. Wer ist der Glückliche, wenn ich fragen darf?«
»Du kennst ihn nicht. Oder doch, ihr seid euch einmal kurz begegnet. Es ist Major Götz Wilhelm.«
»Ein Soldat? Ist das nicht ein bisschen unter deinem Niveau?« Bautner zog etwas verächtlich die Augenbrauen hoch.
Bernadette legte ihre Hand auf seine. »Ach Ernst, das ist kein Niveau, auf das du und ich uns nach all den Jahren herablassen sollten. Du weißt, wie sehr ich dich schätze. Und ich habe die Zeit mit dir sehr genossen«, log sie.
Bautner zuckte mit den Schultern. »Nun, ich sehe keinen Grund, weshalb unsere kleinen Treffen aufhören müssten. Wie du weißt, bin ich ebenfalls verheiratet.«
Bernadette legte den Kopf schräg. »Das mag grundsätzlich richtig sein. Doch dazu bin ich nicht bereit.«
Bautner zog die Hand weg. »Ich bedaure, dass du das so siehst.« Seine Miene verzog sich grimmig.
»Bitte, Ernst, lass uns wie erwachsene Leute miteinander umgehen. Ich habe uns für Freunde gehalten.«
»Du erwartest, dass ich dir weiterhin helfe und nichts dafür bekomme? «
»Nein«, stellte Bernadette einfach fest. »Ich erwarte gar nichts von dir, Ernst. Ich habe die Karten auf den Tisch gelegt, weil ich dich respektiere. Nicht weil ich dich darum bitten will, mir weiterhin zur Seite zu stehen. Ich kann sehr gut akzeptieren, wenn du dich dagegen entscheidest. Dann weiß ich, woran ich bin, und werde Abstand davon nehmen, überhaupt mit dem Palais zu liebäugeln.«
Bautner sah sie einen Moment lang an.
»Ich habe viel aus unserer Freundschaft ziehen können«, fuhr Bernadette fort. »Und ich meine damit nicht deinen Einfluss, Ernst. Du hast mir gezeigt, was Stärke ist.«
»Stärke war schon immer deine beste Verbündete«, hielt er dagegen. »Dafür hast du mich noch nie gebraucht.«
»Sag das nicht, Ernst. Ich habe es mir schon sehr früh zur Gewohnheit gemacht, Menschen zu beobachten und mir das, was mir als ihre Besonderheit ins Auge stach, zu eigen zu machen.«
»Wirklich? Und bei mir war das die Stärke?«
»Stärke und die besondere Art, mit Menschen so umzugehen, dass du keinen Zweifel daran lässt, welche Erwartungen du an sie stellst.« Sie lächelte ihn an. »Deshalb habe ich für dich geschwärmt.«
»Nun, ich habe dich nie als besonders schwärmerisch empfunden.«
»Weil es mir meiner Meinung nach nicht gut zu Gesicht gestanden hätte. Ich zeige nicht gern meine Gefühle.«
Bautner nahm sich einen Moment, sie zu betrachten. »Es ist wohl an der Zeit, dass ich dir zu deiner Verlobung gratuliere, Bernadette.«
»Danke.«
»Mein Hochzeitsgeschenk an dich wird sein, dass ich dir meine uneingeschränkte Unterstützung zusage, solltest du am Kauf und auch an der Erweiterung des Palais interessiert sein. «
»Ich danke dir, Ernst.«
»Doch ich habe eine kleine Forderung.«
»Die da wäre?«
»Man munkelt, dass es einige Posten in der Regierung gibt, die beizeiten neu besetzt werden sollen. Da wäre es sehr zuträglich, hier und da lockere Bekannte zu Freunden zu machen, indem ich sie von Zeit zu Zeit nach Binz einlade, und sie hier, abgeschirmt von ihrem Dasein als Ehemänner und Väter, gewisse Freiheiten genießen könnten.«
»Ich denke, ich verstehe, was du meinst. Betrachte deine Freunde als Gäste meines Hotels.« Bernadette reichte ihm die Hand zum Kuss. »Dann haben wir eine Übereinkunft?«
»Die haben wir, meine Liebe.« Er küsste ihre Hand.
»Gut.«
Bernadette sah, dass in diesem Augenblick Alexander das Restaurant betrat. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du meinem Sohn noch nichts von meiner Verlobung sagen würdest.«
Bautner drehte sich kurz zu Alexander um und sah, wie dieser auf ihren Tisch zusteuerte.
»Er weiß es noch nicht?«
»Niemand weiß es. Ich hielt es für angebracht, zunächst mit dir zu sprechen.« Sie lächelte ihn an.
»Guten Abend«, sagte Alexander, als er an den Tisch trat.
Bernadette erhob sich. »Guten Abend, Alexander.« Sie hielt ihm die Wange entgegen, auf die er einen Kuss hauchte.
»Mutter – Herr Bautner.«
»Entschuldigt mich jetzt bitte«, sagte Bernadette.
»Du willst schon gehen?« Bautner wirkte überrascht.
»Ja«, sagte sie ohne eine weitere Erklärung. »Bitte sei so gut und berichte Alexander von den großartigen Neuigkeiten.« Sie lächelte den beiden zu. »Ich wünsche euch einen wunderbaren Abend. «
Bautner war ebenfalls aufgestanden und verneigte sich. »Auch dir einen guten Abend, Bernadette. Wir hören bald voneinander.«
Sie nickte den beiden zu, reckte den Kopf und ging hinaus. Am liebsten hätte sie gejubelt. Sie fühlte sich, als hätte sie einen großen Sieg errungen.